„Gemeinsam für den Frieden“

„Gemeinsam für den Frieden“

„Gemeinsam für den Frieden“

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Die Resolution 377 A(V) der UN-Vollversammlung (UNGA) besagt, dass alle UN-Mitgliedsstaaten innerhalb von 24 Stunden zu einer „dringenden Sondersitzung“ einberufen werden können, „wenn der Sicherheitsrat wegen fehlender Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder seine Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in einem Fall nicht wahrnimmt, in dem eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorzuliegen scheint (….)“. Die Resolution trägt den Titel „Gemeinsam für den Frieden“ und wurde erstmals am 3. November 1950 angenommen. Damals ging es um den Korea-Krieg. Seit Israel den palästinensischen Gazastreifen mit einem verheerenden Krieg überzieht, haben arabische und islamische Staaten mit Unterstützung von China, Russland und zahlreichen Staaten weltweit versucht, einen Waffenstillstand zu erreichen. Eine Delegation arabischer und islamischer Staaten war tagelang durch die Hauptstädte der Staaten gereist, die im UN-Sicherheitsrat vertreten sind. Ihre Initiative, ein Resolutionsentwurf, sollte von der UN-Vollversammlung angenommen werden, wie der palästinensische Botschafter bei den Vereinten Nationen Riyad Mansour am Dienstagmorgen (12. Dezember 2023) im Kreis der beteiligten Diplomaten in New York (Ortszeit) vor Journalisten mitteilte. Erneut sollte die UN-Vollversammlung schaffen, was der UN-Sicherheitsrat nicht zustande brachte. Dieses Mal ging es um Gaza. Von Karin Leukefeld.

UNGA-Resolution 377

“beschließt, dass, wenn der Sicherheitsrat wegen fehlender Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder seine Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit in einem Fall nicht wahrnimmt, in dem eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorzuliegen scheint, die Generalversammlung die Angelegenheit unverzüglich prüft, um den Mitgliedern geeignete Empfehlungen für kollektive Maßnahmen zu geben, die im Falle eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung erforderlichenfalls auch den Einsatz von Waffengewalt einschließen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren oder wiederherzustellen. Wenn die Generalversammlung zu diesem Zeitpunkt nicht tagt, kann sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Antragstellung zu einer Notsondersitzung zusammentreten. Eine solche Dringlichkeitssondersitzung ist einzuberufen, wenn der Sicherheitsrat dies mit den Stimmen von sieben Mitgliedern oder mit der Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen beantragt.”

Als Reaktion auf die beispiellose militärische Operation von Einheiten der Qassam-Brigaden (Hamas) und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023, bei der nach israelischen Angaben 1.200 Israelis getötet und mehr als 200 als Geiseln in den Gazastreifen gebracht worden waren, begann Israel mit einer massiven Bombardierung des dicht besiedelten, seit 2007 von Israel komplett abgeriegelten Gazastreifens, wo 2,3 Millionen Menschen auf engstem Raum leben. Durch intensive Verhandlungen konnte Ende November eine Feuerpause erreicht werden. In dieser Zeit wurden Hilfsgüter in den Gazastreifen gebracht und rund 100 der israelischen Geiseln freigelassen. Im Gegenzug ließ Israel rund 300 palästinensische Gefangene frei. Auf beiden Seiten handelte es sich um Frauen und Kinder.

Trotz intensiver Bemühungen, die Waffenpause zu verlängern und in einen Waffenstillstand mit Verhandlungen zu verlängern, begannen die Kämpfe am 1. Dezember erneut. Die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite ist nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza auf mehr als 18.600 gestiegen, darunter mehr als 8.600 Kinder und mehr als 4.400 Frauen. Tausende Menschen sind unter den Trümmern zerstörter Häuser verschüttet. Die israelische Armee gab die Zahl der getöteten israelischen Soldaten und Offiziere mit 115 an (Stand 13. Dezember 2023, Times of Israel).

Aufgrund der katastrophalen humanitären Lage wandte sich UN-Generalsekretär Antonio Guterres am 6. Dezember schriftlich an den UN-Sicherheitsrat und forderte eine dringende Entscheidung für einen humanitären Waffenstillstand des Gremiums.

Er warnte vor dem „Kollaps des humanitären Hilfssystems“ im Gazastreifen, das wie die Palästinenser selbst den Bombardierungen ausgesetzt sei. Schulen der UNRWA, in denen fliehende Menschen Schutz gesucht hätten, würden bombardiert, so Guterres, 130 UNRWA-Mitarbeiter seien – teilweise mit ihren Familien – getötet worden. „Die internationale Gemeinschaft hat eine Verantwortung, alles zu tun, um eine weitere Eskalation zu vermeiden und diese Krise zu beenden“, hieß es in dem Brief. „Ich fordere die Mitglieder des Sicherheitsrates dringend auf, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Ich wiederhole meinen Appell, einen humanitären Waffenstillstand auszurufen. Dies ist dringend notwendig. Die Zivilbevölkerung muss vor größerem Schaden bewahrt werden. Mit einem humanitären Waffenstillstand können die Überlebensgrundlagen wiederhergestellt und humanitäre Hilfe sicher und rechtzeitig im gesamten Gazastreifen bereitgestellt werden.“

Der israelische Botschafter Gilad Menashe Erdan antwortete per X (ehemals Twitter). Er warf Guterres „moralische Verformung“ vor (englisch: distortion) und, dass er gegenüber Israel „Vorurteile“ habe. Der Aufruf des Generalsekretärs zu einem Waffenstillstand sei tatsächlich „der Aufruf, dass die Terror-Herrschaft der Hamas erhalten“ bleibe. Guterres „handele entsprechend dem Drehbuch der Hamas“. Erdan wiederholte seine Forderung, dass Guterres als UN-Generalsekretär zurücktreten müsse.

Ganz anders reagierten „The Elders“, ehemalige Staatschefs aus aller Welt, die sich dem Frieden verschrieben haben. Sie riefen die internationalen politischen Führer der Welt auf, „jetzt zu handeln, um Grausamkeiten zu verhindern und Straflosigkeit zu beenden.” Dafür müsse die militärische Unterstützung an Israel überprüft werden, hieß es in einer Erklärung der Gruppe. Zukünftige Waffenlieferungen an Israel müssten mit Bedingungen verknüpft werden.

Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) legten als Antwort auf den Guterres-Brief im Auftrag der arabischen und islamischen Länder einen Resolutionsentwurf vor, der von vielen anderen Staaten weltweit unterstützt wurde. Am 8. Dezember kam der UN-Sicherheitsrat zusammen, um darüber zu beraten. Trotz 13 Ja-Stimmen und einer Enthaltung (Großbritannien) wurde die vorgelegte Resolution nicht angenommen. Die USA hatten ihr Veto eingelegt.

Die UN-Vollversammlung sollte erneut schaffen, wozu der UN-Sicherheitsrat nicht fähig gewesen war, und einen sofortigen humanitären Waffenstillstand für Gaza fordern. Der Präsident der UN-Vollversammlung unterstützte die Initiative, die Versammlung wurde für Dienstagnachmittag (12. Dezember 2023) um 15:00 Uhr (New York Ortszeit) einberufen.

Bereits am 26. Oktober hatte die UN-Vollversammlung sich mit der Lage in Gaza befasst. Jordanien hatte einen Resolutionsentwurf für eine sofortige humanitäre Waffenpause vorgelegt, der mit 121 Stimmen angenommen worden war. 14 Staaten stimmten gegen die Resolution, 44 Staaten enthielten sich.

Dieses Mal, so Mansour am 12. Dezember 2023, sei man sich sicher, eine noch größere Mehrheit der Stimmen der UN-Mitgliedsstaaten für die Resolution zu erhalten. Im Übrigen werde man nicht zulassen, dass der Ruf nach einem „humanitären Waffenstillstand“ mit geplanten Ergänzungen politisiert werde, so Mansour. Anträge auf Veränderungen des knappen Textes weise man zurück.

Eine Delegation der arabischen und islamischen Staaten war seit Wochen unterwegs, um Unterstützung für einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza zu sammeln. Sie besuchte die UN-Vetomächte China, Russland, Frankreich, Großbritannien und die USA. Am Sitz der Vereinten Nationen ging das Werben für den Waffenstillstand weiter. Am Tag der UN-Vollversammlung (12. Dezember 2023) hatten sich 100 Staaten für die Resolution ausgesprochen. Zuletzt erklärten auch Australien, Kanada und Neuseeland ihre Zustimmung.

Der von Algerien, Bahrain, Komoren, Djibouti, Ägypten, Irak, Jordanien, Kuwait, Libanon, Libyen, Mauretanien, Marokko, Oman, Katar, Saudi-Arabien, Somalia, Sudan, Tunesien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Jemen und dem Staat Palästina vorgelegte Resolutionsentwurf trug den Titel „Illegales Handeln Israels im besetzten Ostjerusalem und allen besetzten palästinensischen Territorien“. Ziel waren der „Schutz der Zivilbevölkerung und die Einhaltung rechtlicher und humanitärer Verpflichtungen“.

Die Resolution bezog sich u.a. auf den Brief des UN-Generalsekretärs vom 6. Dezember 2023, in dem er gemäß Artikel 99 der UN-Charta den UN-Sicherheitsrat aufgefordert hatte, sofort einen humanitären Waffenstillstand für den Gazastreifen zu beschließen.

Der Text verwies auf die „katastrophale humanitäre Situation im Gazastreifen und forderte: 1. einen sofortigen humanitären Waffenstillstand; 2. Einhaltung des humanitären Rechts und insbesondere den Schutz der Zivilbevölkerung durch alle Parteien; 3. sofortige und bedingungslose Freilassung aller Geiseln; 4. die Vertagung der dringenden Sondersitzung und die Autorisierung des Präsidenten der UN-Vollversammlung, das Gremium erneut einzuberufen, sollten Mitgliedsstaaten das fordern.

Die Abstimmung am Dienstag in der UN-Vollversammlung war eindeutig: 153 Staaten stimmten für die Resolution und einen sofortigen humanitären Waffenstillstand. Zehn Staaten stimmten dagegen, darunter Israel und die USA, und 23 Staaten enthielten sich der Stimme, darunter Deutschland. Zusatzformulierungen von den USA und Österreich wurden nicht angenommen.

Wie bereits bei der Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 8. Dezember 2023 warf der israelische UN-Botschafter der UNO und insbesondere dem UN-Generalsekretär vor, dem Drehbuch der Hamas zu folgen. Ein Waffenstillstand werde der Hamas helfen. Wer die Resolution unterstützt habe, folge einer „satanischen Agenda“ der Hamas, erklärte der israelische Botschafter Gilad Menashe Erdan. Israels Außenminister Eli Cohen sagte, der Krieg gegen die Hamas werde „mit oder ohne internationale Unterstützung“ fortgesetzt. In einer Videobotschaft unterstrich Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, der Krieg werde bis zum Ende weitergehen: „Nichts wird uns stoppen.“

Die Hamas begrüßte die Entscheidung der UN-Vollversammlung.

Israel Palästina – Der Krieg geht weiter

Zwei Monate dauert der Krieg der israelischen Armee gegen die Palästinenser im Gazastreifen. Während Waffen- und Munitionslieferungen aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Holland und anderen NATO-Staaten an die israelische Armee nicht aufhören, ist menschliches Leben unter dem Bombenteppich nahezu unmöglich geworden. Die Zahl der Toten steigt, unbekannte Tote liegen unter Trümmern, weil sie nicht geborgen werden können. Massengräber, grauenhafte Szenen in ganz oder teilweise zerstörten Kliniken und Schulgebäuden, die von der künstlichen Intelligenz „The Gospel“, mit der die israelische Armee kämpft, als „Ziele“ markiert wurden.

Am 6. Dezember berichtete der Nachrichtensender Al Jazeera, dass erneut die Familie eines seiner Korrespondenten im Gazastreifen bei einem israelischen Luftangriff getötet worden sei. 22 Angehörige von Moamen Al Sharafi, darunter seine Eltern, seine Geschwister und deren Kinder, wurden getötet, als die israelische Luftwaffe um 4:00 Uhr morgens das Haus im Flüchtlingslager Jabalia zerstörte, in dem die Familie Zuflucht gesucht hatte. Sie waren dort nur wenige Stunden vor der Bombardierung eingetroffen.

Was ist der Wechselkurs für einen Israeli?

Wie viele tote Palästinenser braucht Israel, um den Durst nach Rache nach dem Angriff der Qassam-Brigaden am 7. Oktober 2023 mit 1.200 Toten gestillt zu haben? Bassem Youssef, ein ägyptischer Fernsehsatiriker, fragte in einem Interview mit dem britischen Fernsehmoderator Piers Morgan in dessen Fernsehsendung Unzensiert, wie hoch der aktuelle „Wechselkurs“ für einen Israeli sei. 2014 seien 27 Palästinenser pro Israeli getötet worden, so Youssef. 2018 seien es 300 Palästinenser pro Israeli gewesen, so der Satiriker. „Was ist der Wechselkurs für ein Menschenleben?“

Für die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Shalit 2011 nach fünf Jahren Gefangenschaft bei der Hamas waren im Gegenzug 1.027 palästinensische Gefangene freigekommen. Wie hoch also wird der Preis sein, den die Palästinenser dieses Mal zu zahlen haben? Mit ihrem und ihrer Kinder Leben, mit der Zerstörung ihrer Gesundheit, ihrer Häuser, Wohnungen, Gärten, Felder, Schulen, Moscheen – mit ihren Lebensgrundlagen? Wird die Trümmerwüste, die bereits jetzt weite Teile des Gazastreifens bedeckt, das sein, was Israel unter „Frieden“ versteht?

Tacitus, einer der wichtigsten römischen Historiker (56-120 AD), zitierte einst den schottischen Fürsten Calgacus, der den Widerstand gegen die römische Herrschaft anführte. Demnach habe Calgacus über die Römer gesagt: „Sie schaffen eine Wüste und nennen das Frieden.“ Ob Israel wohl dem Vorbild der Römer folge, fragte der Kolumnist Fintan O’Toole in The Irish Times. Israel töte Tausende Zivilisten aus Gaza und erkläre dann „Frieden in einem blutdurchtränkten Ödland aus Trümmern und Staub.“

Bombenteppich auf Gaza

Am 6. Dezember teilte die israelische Armee mit, dass sie seit dem 7. Oktober 10.000 Luftangriffe gegen den Gazastreifen geflogen habe. Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen erklärte, das bedeute einen Luftangriff pro 220 Palästinenser in dem Küstenstreifen. Angesichts dieses „Trommelfeuers auf Wohn- und andere zivile Infrastruktur“ müsse man fragen, ob Israel sich an das internationale humanitäre Recht halte? 1,9 der 2,2 Millionen Palästinenser im Gazastreifen seien gezwungen worden, in den Süden zu fliehen, nach Khan Younis und Rafah, so das UN-Büro. „Nun werden sie – zusammen mit den Einwohnern aus Khan Younis – immer weiter in immer kleinere Gebiete bei Rafah verjagt „ohne sanitäre Anlagen, ohne Nahrungsmittel, ohne Wasser, ohne sichere Unterkünfte oder Gesundheitsversorgung.“

Israel sieht sich im Recht bei diesem Krieg gegen „menschliche Tiere“, wie es der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant formulierte. Man kämpfe gegen den „IS in Gaza“, der Küstenstreifen werde nie wieder so sein, wie er mal gewesen sei. „Wir werden alles eliminieren. Wenn es nicht an einem Tag geschieht, dann in einer Woche oder auch in Monaten. Wir werden jeden Ort erreichen.“

Hamas werde vernichtet, so auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, das sei Israel seiner Bevölkerung schuldig. Hamas „auszurotten“ sei nicht genug, man werde Gaza „entmilitarisieren“ und „entradikalisieren“ müssen, erklärte Netanyahu deutschen Journalisten in Tel Aviv – so, wie Deutschland nach dem Krieg entnazifiziert worden sei.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich beim EU-Gipfel Ende Oktober überzeugt, dass „Israel ein demokratischer Staat“ sei, der von „humanitären Prinzipien“ geleitet werde. Israel führe einen „Verteidigungskrieg“, und man könne „sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel.”

OCHA-Situationsbericht Gaza

Blickt man in den Gazastreifen und hört den Menschen dort zu, entsteht ein anderes Bild. Das UN-Büro für die Koordination der humanitären Hilfe (OCHA) veröffentlichte am 8. Dezember seinen fast täglichen Situationsbericht über Gaza. Am 7./8. Dezember seien mindestens 310 Palästinenser (bei israelischen Angriffen) getötet worden. Vier israelische Soldaten seien ums Leben gekommen. Die bewaffneten Gruppen in Gaza hätten Raketen auf Israel abgeschossen. Zehntausende Palästinenser seien in den Süden geflohen, viele der Menschen seien zum zweiten oder dritten Mal geflohen. Der Leiter der UNRWA-Hilfsoperationen erklärte, die palästinensischen Mitarbeiter würden beschimpft, die Konvois geplündert, die LKW mit Steinen beworfen. Auch im besetzten Westjordanland gingen die Feindseligkeiten weiter.

Helft meinen Geschwistern

Ein mit dem Handy aufgenommenes Video zeigt zunächst ein eingestürztes Haus und Betonpfeiler. Irgendwo in den Trümmern hört man ein Mädchen rufen. Sie heiße Alma, sie könne nicht rauskommen. Wer ist bei Dir Alma, fragt eine Stimme hinter der Handykamera. Meine Geschwister und meine Eltern und meine Großeltern. Leben sie, fragt die Stimme. Ja, ja, wir leben, ruft die Mädchenstimme. Was hast Du gesagt, Alma, fragt die Stimme. Helft erst meinen Eltern, meinen Geschwistern und meinen Großeltern, so das Mädchen. Dann mir. Gut, sagt die Stimme. Helft mir zuletzt, ich will nicht die Erste sein. Ja, mein Kind, sagt die Stimme. Oder vielleicht helft Ihr erst mir und ich helfe Euch, so das Mädchen. Wie alt bist Du, fragt die Stimme. Ich bin 13, so das Mädchen. Hier ist mein Vater. Heißt Deine Schwester Sarah? Nein, Rehab, antwortet das Mädchen. Und hier ist mein Bruder, er ist ein Baby und heißt Tarzan. Wie alt ist Tarzan, fragt die Stimme. Er ist ein Jahr. Bitte helft meinem Bruder Tarzan, bitte. (Es gibt einen Schnitt in dem Video). Du bist jetzt in meiner Nähe, ja, fragt die Stimme. Ja. Kannst du mein Licht sehen? Ja, ich sehe es. Gut Alma. (Man sieht nur Betonsteine). Ich werde jetzt versuchen, dich herauszuholen, sagt die Stimme. Ich verspreche dir, ich hole dich heraus. Bitte schnell, so das Mädchen. Ja mein Kleines, so die Stimme. Ich möchte meine Geschwister sehen. Natürlich, Kleines. Ich möchte sie sehen, ich vermisse sie. (Es gibt einen Schnitt in dem Video. Dann ist der Rücken eines Zivilschutzhelfers zu sehen, der zwischen den Betontrümmern kniet). Alma, bist du das, fragt die Stimme. Ja, ja, so das Mädchen. Gut gemacht Alma! Ich habe Dir doch gesagt, dass wir dich herausholen, sagt die Stimme. Komm, mein Kleines, komm. (Zu sehen ist ein Mädchen, über und über mit Staub bedeckt. Sie trägt grüne Leggins, ein verstaubtes T-Shirt, in den Haaren eine rosa Schleife). Wo sind Deine Geschwister und Eltern, fragt die Stimme. Hier, hier. Das Mädchen zeigt nach links und rechts: Hier ist meine Mama. (Das Video bricht ab.) Was mit den Angehörigen von Alma geschehen ist, ist unbekannt.

In dieser Zeit, als Menschen um ihr Leben kämpften und um das ihrer Angehörigen, und während am Sitz der Vereinten Nationen in New York die Bemühungen der Welt für einen Waffenstillstand in Gaza, für die Chance auf Leben und Zukunft der Palästinenser den Interessen der USA wieder einmal zum Opfer fielen, wurde der Tod des palästinensischen Dichters und Schriftstellers Refaat Alareer bekannt. Er wurde – wie sein Bruder, seine Schwester, ein Neffe und drei seiner Nichten – bei einem Angriff der israelischen Streitkräfte in Gaza Stadt, in Shejaiya getötet. Alareer lehrte englische Literatur an der Islamischen Universität von Gaza. Refaat. Er war Vater von sechs Kindern, er war Mitbegründer der Organisation „We are not numbers“ (Wir sind keine Zahlen). In einem seiner letzten Interviews mit dem Internet-Portal Electronic Intifadah sagte Refaat, das Gefährlichste, was er besitze, sei vermutlich ein Textmarker. Den werde er aber sicherlich auf israelische Soldaten werfen, sollten sie einmarschieren. Der US-Fernsehsender Democracy Now strahlte eine Sondersendung über Refaat Alareer aus, mit Auszügen aus einem Interview vom 10. Oktober 2023.

Wenn ich sterben muss

Refaat Alareer

Wenn ich sterben muss,
mußt Du leben
um meine Geschichte zu erzählen
Um meine Sachen zu verkaufen
Um ein Stück Tuch zu kaufen
Und ein paar Fäden.
Mache ihn groß und weiß mit einem langen Schwanz.
Damit ein Kind, irgendwo in Gaza
Während es in den Himmel blickt
Und auf seinen Vater wartet, der in einem Feuerball verschwand
Ohne sich zu verabschieden
Nicht einmal von seinem Fleisch
oder gar von sich selber
den Drachen sieht, meinen Drachen, den Du gebaut hast, der hoch oben fliegt
Und für einen Moment wird es denken, dass dort oben ein Engel fliegt
Der die Liebe zurückbringt.
Wenn ich sterben muss
Soll es Hoffnung bringen
Soll es eine Geschichte sein.

Nachtrag: Als Antwort auf die Entscheidung der UN-Vollversammlung vom 12. Dezember 2023, mit 153 Stimmen gegen zehn Nein-Stimmen und gegen 23 Enthaltungen einen sofortigen humanitären Waffenstillstand zu fordern, erhöhte Israel den militärischen Druck. US-Medien berichteten, die israelische Armee plane, die Tunnel unter dem Gazastreifen mit Meerwasser zu fluten. Jake Sullivan, der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, traf sich in Tel Aviv mit dem israelischen Kriegskabinett. Der US-Präsident wünsche mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in Gaza, so die Botschaft des Sicherheitsberaters. Die „sehr intensiven” Kämpfe sollten innerhalb von Wochen beendet werden.

Titelbild: rafapress/shutterstock.com