22 Jahre wilder Westen in „Gitmo“: Die USA und ihre Menschenrechtspraxis in Guantánamo auf Kuba

22 Jahre wilder Westen in „Gitmo“: Die USA und ihre Menschenrechtspraxis in Guantánamo auf Kuba

22 Jahre wilder Westen in „Gitmo“: Die USA und ihre Menschenrechtspraxis in Guantánamo auf Kuba

Ein Artikel von Edgar Göll

Vor genau 22 Jahren, am 11. Januar 2002, verschleppten US-Militärs die ersten der von ihnen des Terrors verdächtigten Menschen vor allem aus Afghanistan nach Kuba, in „ihren“ Marinestützpunkt Guantánamo. Nach einem Jahr Erfahrung konstatierte Erwin Chermerinsky, Rechtsprofessor an der Staatsuniversität von Kalifornien: „Diese inhaftierten Individuen sind aus ihrem Land ausgeflogen worden, ihnen wurden die Augen verbunden, sie wurden unter Drogen gesetzt, geknebelt und in Käfige gesteckt. Es muss sich jetzt jemand um ihre Rechte kümmern.“ Diese Art des Kümmerns aber geschah nicht durch die US-Regierung und ihre Behörden, denn sie nahmen sich ihre Freiheit und interpretierten den Marinestützpunkt als Territorium, in welchem US-Recht nicht gelten würde und in dem sie und ihr Personal nach eigenem Belieben mit den Gefangenen ihre Ängste, Rache, Wut, Langeweile sowie ihren Puritanismus und Sadismus ausagieren könnten. Von Edgar Göll.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Juristische und historische Aspekte und Hintergründe

Initiativen, Juristen und Betroffene, das Internationale Rote Kreuz, Amnesty International und Human Rights Watch sowie manche Verbündete in Europa zeigten sich alarmiert über die Vorgänge im Gefangenenlager Guantánamo und kümmerten sich. Die USA, so hieß es vereinzelt, habe wieder einmal einen imperialen Alleingang eingelegt und Washington tue einfach so, als ob die Bestimmungen der Genfer Konvention und andere Rechtsprinzipien unverbindliche Empfehlungen eines überholten Vertragswerks seien. Und tatsächlich äußerte sich unter anderem die Pentagon-Sprecherin Victoria Clark in dieser Richtung: „Wir haben eine neue Art von Krieg. Wir sollten die Genfer Konvention vielleicht mit anderen Augen sehen.“ Und Ari Fleischer, Pressesprecher des Weißen Hauses, meinte, die Genfer Konvention müsse nun in einem modernen, zeitgemäßen Licht gesehen werden.

Demgegenüber gab es eigentlich zahlreiche rechtliche Fragen zu klären, wie beispielweise, ob die Gefangenen im Auftrag einer Regierung oder einer Terrororganisation gehandelt haben, und welchen Status sie hätten. Zweitens war umstritten, ob es zulässig war, sie überhaupt aus Afghanistan auszufliegen bzw. zu entführen. Und drittens wäre die Frage zu stellen gewesen, ob die von Präsident Bush angeordneten, kontroversen extraterritorialen Militärgerichte juristisch wirklich zulässig sind. Ramsey Clark, ehemaliger und angesehener US-Justizminister unter Präsident Johnson in den 1960er Jahren, warf der Bush-Regierung umgehend nicht nur Verletzung der US-Verfassung, sondern auch offenen Vertragsbruch gegenüber Kuba vor. Denn die kubanische Regierung hätte ein Straflager auf dem kubanischen Boden von Guantánamo durch die USA niemals genehmigt. Und zwar war die strategisch wichtige Hafenregion namens Guantánamo im Südosten der Hauptinsel von Kuba von den USA seit 1903 offiziell besetzt und durch einen aufgezwungenen Zusatz der kubanischen Verfassung („Platt-Amendment“) abgesegnet worden. Im Artikel II jenes einseitigen Abkommens wurde wortwörtlich das Recht festgelegt, „alles Notwendige zu tun, um an diesen Orten die Bedingungen für deren ausschließliche Nutzung als Kohleverlade- oder Marineeinrichtungen – und für keinen anderen Zweck – zu schaffen.” Diese klare Regel wurde von den USA immer wieder rücksichtslos verletzt. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 wurde dieser US-Militärstützpunkt zum Anlass für zahlreiche gefährliche Reibereien zwischen Kuba und den USA.

Die überwiegende Mehrheit der mehr als dreitausend kubanischen Staatsbürger, die dort gearbeitet hatten, wurden von den USA entlassen und durch Personal aus anderen Ländern ersetzt. Und häufig wurden von dem Stützpunkt Schüsse auf kubanisches Staatsgebiet abgefeuert und mehrere kubanische Soldaten wurden dadurch getötet und verwundet – und im vergangenen Jahr lief ein Atom-U-Boot der US-Navy in den Hafen ein, eine Provokation. Konterrevolutionäre Elemente fanden dort Unterstützung und Zuflucht. Im Laufe der Jahre wurden auf einseitige und rücksichtslose Entscheidungen der US-Regierungen hin Zehntausende von Migranten – Haitianer und kubanische Staatsbürger, die versuchten, auf eigene Faust in die USA zu gelangen – in diesem Militärstützpunkt konzentriert. Über mehr als vier Jahrzehnte hinweg wurde der Stützpunkt für vielfältige Zwecke verwendet, von denen keiner in der Vereinbarung enthalten war, mit der die US-Präsenz in dem kubanischen Hafengebiet hätte gerechtfertigt werden können.

Andererseits kam es über nahezu ein halbes Jahrhundert hinweg niemals zu realen Möglichkeiten und angemessenen Bedingungen für eine ernsthafte rechtliche und diplomatische Bestandsaufnahme und Analyse mit dem Ziel, zwischen beiden Staaten eine logische, faire und gerechte Lösung für diese lang andauernde, chronische und anormale Situation zu finden mit dem Ziel, die Eingliederung dieses Teils des Landes in das Staatsgebiet von Kuba zu realisieren. Vermutlich kann und mag sich niemand im Washingtoner Regierungsviertel vorstellen, wie es denn sein würde und sich anfühlen könnte, die VR China hätte in der Bucht von San Francisco einen Militärstützpunkt ausgebaut und würde dort ein Gefangenen- und Folterlager betreiben.

Die Verhältnisse im Lager

Was geschah nun mit den insgesamt 774 Gefangenen, die im Laufe der vielen Jahre in hitzigen Käfigen, ohne Rechtsschutz und Anklage und anderen normalen Gefängnisumständen auszuharren gezwungen waren? Das Gefangenen- und Folterlager innerhalb des Marinestützpunktes wird als Camp Delta bezeichnet und von den Militärs kurz „Gitmo“ genannt. Es war ja auch aus dem Grunde ausgewählt worden, dass es weit von Washington, DC, entfernt ist, schwer erreichbar ist und der Zugang sehr streng und restriktiv von Militärbehörden bestimmt werden kann. Hierbei ist daran zu erinnern, dass die USA offenbar eine ganze Reihe von geheimen Gefängnissen in anderen Staaten betreiben, sogenannte „black sites“. So warf Amnesty International den USA bereits 2002 vor, neben bekannten, aber rechtlich bedenklichen Einrichtungen wie dem Gefangenenlager Guantánamo, ein weltweites Netz von geheimen Gefängnissen und Lagern zu betreiben, in denen Personen zum Teil rechtswidrig festgehalten und gefoltert werden, beispielsweise in Kosovo, Polen, Rumänien und Pakistan.

Immer wieder wurde der Zugang für Ärzte, Juristen, UN-Gesandte, Abgeordnete, Journalisten in das Lager in Guantánamo behindert und verboten. Nur stückweise kamen die inhumanen, entwürdigenden und entsetzlichen Zustände in die Öffentlichkeit. Vor allem freigelassene Häftlinge waren manchmal willens und in der Lage, sich zu äußern. So interviewte der angesehene Autor und Moderator Roger Willemsen mehrere Ex-Häftlinge und veröffentlichte deren Schilderungen in seinem Buch „Hier spricht Guantánamo“ (2006). Darin resümiert er:

„Die Stimmen aus Guantánamo beschreiben eine Situation, in der sich eine Demokratie gegen die eigenen Voraussetzungen stellt. Dieser Vorgang schafft Präzedenzfälle, er betrifft alle, denn er bedroht alle, und da inhumanen Verhältnissen gegenüber Toleranz selbst inhuman ist, erlaubt das Lager von Guantánamo nur eine radikale Reaktion: Es muss öffentlich gemacht – und es muss geschlossen werden. (…) Das Lager von Guantánamo ist nicht nur eine Institution außerhalb des Völkerrechts, ein Camp der juristischen Willkür und der Übertretung humanitärer Übereinkünfte, es ist zugleich der erste politische Mythos des beginnenden Jahrhunderts – der Ort, der den Begriff der ‚Vogelfreiheit’ vom Mittelalter auf die Gegenwart überträgt und ihn zeitgemäß interpretiert.“

Die Situation der Gefangenen und vor allem der Gefolterten war derart unerträglich und hoffnungslos, dass es immer wieder zu Selbstmordversuchen kam, zu Hungerstreiks und dann zu Zwangs“ernährung“, zu physischen und psychischen Zusammenbrüchen – mit Langzeitschädigungen der Betroffenen. Im Lauf der Zeit wurde immer wieder die Schließung des Lagers gefordert, die Freilassung der ohne Anklage festgehaltenen Menschen, eine transparente und rechtlich vorgeschriebene Verfahrensweise etc. Für eine gewisse Transparenz und Information der Öffentlichkeit über die systematischen Menschenrechtsverletzungen und Foltermethoden sorgten – zusätzlich zu den Berichten einiger Haftentlassener – eine ganze Reihe von geheimen US-Dokumenten, die im Jahr 2011 von der Online-Enthüllungsplattform WikiLeaks veröffentlicht wurden und als „Gitmo-Akten“ bekannt sind.

Quelle: Shutterstock/ Phil Pasquini

Auf Basis weiterer Recherchen forderte dann beispielsweise am 5. April 2013 die damalige UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay die USA auf, das Gefangenenlager in Guantánamo Bay zu schließen. Pillay sah es als „klaren Verstoß gegen internationales Recht“ an, dass die USA bis dato keine Schritte unternommen hätten, ihrer Absichtserklärung nachzukommen und das Gefangenenlager aufzulösen. Sie sei deswegen von der US-Regierung „sehr enttäuscht“, so Pillay, und die dortigen Hungerstreiks seien eine „verzweifelte Aktion“ der Häftlinge. Die gesundheitliche Verfassung einiger Streikender sei derart bedrohlich, dass sich sowohl das Internationale Rote Kreuz als auch die UNO für eine sofortige Lösung der Situation einsetzen.

Drei Jahre später hatte dann die New York Times (NYT) auf Basis umfangreicher, und wie sie betonte, schwieriger Recherchen eine umfangreiche Reportage veröffentlicht, in der sie die psychische Situation der in Gitmo internierten Menschen sowie die für sie eingesetzten Psychologen und Psychiater schilderte. Dutzende von Männern, die qualvollen Sonderbehandlungen in geheimen CIA-Gefängnissen im Ausland oder dann auch in Guantánamo unterzogen worden waren, seien demnach mit psychologischen Problemen belastet, die meist schon Jahre andauerten. Damit wurden die offiziellen Zusicherungen der US-Staatsanwälte widerlegt, dass die Verhörpraktiken keine Folter darstellen und keinen dauerhaften Schaden verursachen würden. Mehrere juristische Ermittler der Regierung meinten jedoch, manche der eingesperrten muslimischen Männer hätten nie festgehalten werden sollen. Aber der damals zum US-Präsidenten gewählte Donald Trump hatte während des Wahlkampfes erklärt, dass er die von seinem Vorgänger Obama verbotenen Vernehmungspraktiken einschließlich Waterboarding und andere, die „viel schlimmer“ seien, erlauben würde!

Gemäß der NYT-Reportage, die auf Dutzenden von Interviews mit militärischem und medizinischem Personal basierte, das in Guantánamo gedient oder beraten hatte, wurde die dortige psychiatrische Versorgung detailliert dargestellt. Demnach entstand in Guantánamo eine „vorsätzliche Blindheit“ für die schlimmen Konsequenzen der andauernden Misshandlungen. Die zur Diagnose, Dokumentation und Behandlung der Auswirkungen tätigen Psychiater, Psychologen und psychischen Gesundheitsteams wussten oft nicht, was den Patienten passiert war, und sie durften auch nicht danach fragen. Die Fachkräfte erhielten meist nur wenig Schulung für diese besondere Aufgabe im Umgang mit Männern, die „die Schlimmsten der Schlimmen“ seien. Viele von ihnen hatten keine Erfahrung in einer Haftanstalt oder Vertrautheit mit den Sprachen, Kulturen oder religiösen Überzeugungen der Gefangenen. Die Arbeitsbedingungen waren äußerst schwierig, weil die Einsätze nur wenige Monate dauerten und damit psychologische Hilfe kaum möglich war, weil es dazu einer Bindung zu den Patienten bedurft hätte. Häufig mussten sie über Zäune oder Schlitze in Zellentüren sprechen, meist Dolmetscher hinzuziehen, die auch bei Verhören und Misshandlungen gearbeitet hatten.

In der Reportage hieß es: „Das US-Militär verteidigt die Qualität der psychiatrischen Versorgung in Guantánamo als human und angemessen. Häftlinge, Menschenrechtsgruppen und Ärzteberatung für Verteidigungsteams bieten kritischere Beurteilungen an und beschreiben sie in vielen Fällen als fahrlässig oder ineffektiv.“

Die New York Times zitierte im Einsatz gewesene Psychologen über die Verhör- und Foltermethoden. Dazu gehörten „eskalierende Drucktaktiken, einschließlich erweiterter Isolation, 20-Stunden-Verhöre, schmerzhafte Stress-Positionen, Schreien, Kapuzen und Manipulation von Ernährung, Umwelt und Schlaf“. Manche der militärischen Verhörenden waren junge Soldaten mit wenig Erfahrung, sogar im Interviewen von Menschen. Einige setzten Gefangene lauter Musik, Stroboskoplicht, kalten Temperaturen, verlängertem Schlafentzug, Isolation und schmerzhaften Fesseln aus. Einer der Ärzte, Dr. Kowalsky, meinte einmal zu seiner Vorgesetzten in Guantánamo: „Wir sind hier, um Menschen zu helfen.“ Sie habe entgegnet: „Wir sind hier, um unser Land zu schützen. Auf wessen Seite bist du?“

Erschwerend kam hinzu, dass die Arbeitssituation der Psychologen durch die Gefangenen, also ihre „Patienten“, selbst erschwert worden sei, denn diese hatten oftmals kein Vertrauen zu ihnen gehabt, sodass sie häufig regelrecht gehasst und als Teil der Militärmaschinerie und des Verhörsystems angesehen worden seien. Tatsächlich äußerten manche Psychologen Bedenken wegen der verschwommenen Grenze zwischen medizinischer Versorgung und Verhören. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz dokumentierte solche Beschwerden. Nach Recherchen der NYT wurden tatsächlich medizinische Akten mit den vertraulichen Anmerkungen regelmäßig benutzt, um Strategien für die Verhöre zu entwickeln, die das IKRK als „gleichbedeutend mit der Folter“ und eine „eklatante Verletzung der medizinischen Ethik“ bezeichnete. Das Pentagon hingegen habe diese Vorwürfe rundweg bestritten.

Obwohl die Psychologen vor Ort sowie die American Medical Association und internationale medizinische Organisationen es verbieten, seien die Gefangenen einer entwürdigenden, oft sehr schmerzhaften Zwangsernährung unterzogen worden. Auch das Thema Selbstmord war wichtig, und es war am psychologischen Personal zu entscheiden, wie ernst Anzeichen oder solche Aussagen zu nehmen sind und wie man darauf reagieren solle: „Sind sie wirklich selbstmörderisch oder manipulieren sie das System?“ Mehr als 600 „Selbstmordgesten“ wurden in Guantánamo allein bis zum Jahr 2009 verzeichnet, wobei mehr als 40 nach einem medizinischen Artikel als Selbstmordversuche kategorisiert wurden. Bezogen auf drei dieser Fälle meinte der damalige Kommandierende des US-Lagers von Guantánamo, das seien „Akte des Krieges gegen Amerika“ gewesen.

Zum Status des besetzten Hafengebiets von Guantánamo

Der Hamburger Völker- und Menschenrechtsprofessor Norman Paech befasste sich eingehend mit der Thematik Gitmo und Guantánamo, und die folgenden Ausführungen beziehen sich auf seine Einschätzungen. In seinem Text über einen umfangreichen US-Senatsbericht von 2014 über die CIA-Folter formuliert er: Dieser offizielle Bericht aus Washington „beschreibt nun detailliert die Ungeheuerlichkeiten dieser Höllenorte“, inklusive Gitmo. Dabei verweist Paech aber auch darauf, dass der damalige US-Präsident Obama angetreten war, mit diesen Verbrechen Schluss zu machen und vor allem Guantánamo zu schließen. Allerdings könne er sich unter anderem gegen die Mehrheiten im US-Kongress nicht durchsetzen. Mittlerweile seien viele der Häftlinge vom Terrorverdacht entlastet. Sie würden jedoch nur deswegen noch festgehalten, weil die USA selbst sich nicht ihrer Opfer annehmen will und sich kein Aufnahmeland für sie findet.

Professor Paech erläutert weiter, dass das von den USA seit 1898 bzw. 1903 besetzte kubanische Hafengebiet von Guantánamo und das nun dort eingerichtete Gefangenen- und Folterlager auch völkerrechtlich einen besonderen Fall darstellen. Das durch Druck der USA in die kubanische Verfassung von 1903 aufgenommene Platt-Amendment sei im Jahr 1934 durch die USA in einem neuen Vertrag mit der damaligen kubanischen Regierung gestrichen worden, doch sei an dem Status der Guantánamo-Bucht nichts verändert worden. Und in Artikel II dieses aktualisierten Pachtvertrages wurden die amerikanischen Ansprüche auf den Stützpunkt auf unbefristete Zeit festgesetzt, „bis die beiden Vertragsparteien eine Änderung des Übereinkommens vereinbaren“. Das sei, so Paech, „ein typischer kolonialer „Löwenvertrag““. Und der ursprüngliche Zweck der Pacht, das Hafengebiet „ausschließlich als Verladestation für Kohle und Marinebasis“ durch die US-Marine zu nutzen, blieb bestehen.

Aber seit der kubanischen Revolution von 1959 stehen die neuen kubanischen Regierungen auf dem Standpunkt, dass die Pachtverträge von 1903 und 1934 nichtig sind und Guantánamo illegal gegen den Willen des kubanischen Volkes besetzt gehalten wird. Und seit 1960 verzichtet die Regierung Kubas darauf, die Überweisung des jährlichen Pachtzinses von 4.085 US-Dollar (!) anzunehmen. Die USA dagegen halten an dem Anspruch auf ein unbefristetes Pachtverhältnis mit den für sie garantierten Rechten fest. Die kubanische Regierung begründet ihren Standpunkt hingegen zum einen damit, dass es sich um „ungleiche Verträge“ handele, die Kuba seinerzeit mit militärischem Druck aufgenötigt worden seien und der USA einseitig Vorteile verschafften, denen auf der kubanischen Seite keine adäquate Gegenleistung entspreche. Zum anderen seien die USA mit der Einrichtung kommerzieller Anlagen und eines Gefängnisses weit über die vereinbarte Nutzung hinausgegangen und das sei vertragswidrig. Der Völkerrechtler Paech führt dazu weiter aus, dass

„im Wiener Abkommen über das Recht der Verträge (WRV) eine clausula rebus sic stantibus kodifiziert ist, die zur Beendigung eines Vertrages berechtigt, wenn eine grundlegende, nicht voraussehbare Veränderung von Umständen vorliegt, die beim Vertragsschluss nicht gegeben waren. Da die ursprüngliche Nutzung des Stützpunktes in relativer Nähe US-amerikanischer Häfen durch die technische Entwicklung entfallen ist, kann sich Kuba auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage berufen.“

Doch nicht nur das. Die aktuelle Nutzung von Guantánamo Bay vor allem als Haftanstalt für angebliche Terroristen stellt eine erhebliche Verletzung des ursprünglichen Vertrags dar. Sie ermöglicht eine Beendigung des Vertrages nach Artikel 60 I WRV als Reaktion. Die allgemein geforderte restriktive Auslegung von Artikel 60 WRV erlaubt eine Beendigung des Vertrages nur bei einer erheblichen Verletzung. Doch was könnte eine »erhebliche Verletzung« des Pachtvertrages begründen, wenn nicht diese krass menschenrechtswidrigen Umstände und Bedingungen des ganzen Gefängniskomplexes?

Die bisherigen US-Regierungen haben nicht zu erkennen gegeben, die „vertragswidrige Nutzung der Guantánamo-Bucht aufzugeben, geschweige denn rechtsstaatliche Verhältnisse in den Gefängnissen herzustellen“. Daher seien eine Beendigung des Pachtverhältnisses sowie eine Rückgabe des Gebietes in die volle Souveränität Kubas und eine Entschädigung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Denn all dies müsste vom konservativ und nationalistisch eingestellten US-Kongress beschlossen werden ebenso wie die Aufhebung der seit über 62 Jahren bestehenden Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockade. Paech schreibt dazu abschließend: „Auch wird der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag diese Probleme nicht lösen können, obwohl derartige Streitfragen zwischen den Staaten gerade das Kerngeschäft des Gerichtshofes sind – aber Kuba wie die USA sind nicht Mitglied des IGH.“

An dieser Gemengelage und der menschenrechts- und völkerrechtsverletzenden Haltung in der US-Administration hat sich bis heute nichts geändert, wie aktuelles Verhalten und Äußerungen zeigen und nun beschrieben werden wird.

UN-Sonderberichterstatterin fordert von den USA die Schließung des Guantánamo-Gefangenenlagers

Auch im vergangenen Jahr gab es wieder diverse Vorstöße, die Verbrechen im Gitmo-Gefangenenlager offenzulegen, anzuprangern und zu beenden. Und es gab wieder klare Forderungen zur überfälligen Schließung dieses „modernen Gulags“, wie es vor einigen Jahren von einem für die USA zuständigen Mitarbeiter von Amnesty International bezeichnet worden war. So erhielten die UN-Sonderberichterstatterin Fionnuala Ní Aoláin und ihr Team im Juni 2023 die Möglichkeit, das Gefangenenlager Guantánamo zu besichtigen. Die USA hatten zuvor UN-Sonderberichterstattern keine Erlaubnis erteilt, das Lager zu besuchen. Frau Fionnuala Ní Aoláin hat danach die US-Behörden aufgefordert, das Gefangenenlager Guantánamo zu schließen und sich für die Folterungen der Insassen zu entschuldigen. Alle Personen, die für diese Misshandlungen verantwortlich waren, müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Im US-Gefängnis von Guantánamo befinden sich noch 30 Menschen. Ní Aoláin bezeichnete auch die Behandlung der verbleibenden Gefangenen in Guantánamo durch die US-Behörden als „grausam, unmenschlich und erniedrigend“. Auftragsgemäß veröffentlichte die UN-Sonderberichterstatterin Ní Aoláin ihren Bericht über das Lager anlässlich des Internationalen Tages der Vereinten Nationen zur Solidarität mit den Opfern von Folter.

Fionnuala Ní Aoláin und ihr Team am Eingang des Gefangenenlagers Guantánamo. Quelle: @NiAolainF

Der UN-Bericht hat den Titel „Technischer Besuch des Sonderberichterstatters für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus in den Vereinigten Staaten und im Gefangenenlager Guantánamo“. Hier sind ausgewählte Passagen aus der abschließenden Schlussfolgerung des Berichts zitiert:

66. Jeder Häftling und ehemalige Häftling, mit dem der SR zusammentraf, betonte, dass sie in der Öffentlichkeit als „die Schlimmsten der Schlimmen“ wahrgenommen werden, obwohl die meisten von ihnen nie angeklagt, geschweige denn wegen eines einzigen Verbrechens verurteilt worden waren. Diese Männer verlangen zu Recht eine Entschuldigung und haben ein Recht darauf, mit Würde und Respekt behandelt zu werden, damit sie und ihre Familien einen vollständigen Neuanfang machen können. Der SR stimmt zu, dass der Rufschaden, der diesen Männern zugefügt wurde, als Beginn eines sinnvollen Wiedergutmachungsprozesses und als Garantie für eine Nichtwiederholung wiedergutgemacht werden muss. Eine Entschuldigung allein ist jedoch unzureichend. Keiner der ehemaligen Häftlinge wurde von der US-Regierung für die systematischen Verbrechen der außerordentlichen Überstellungen, der Folter, der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und der willkürlichen Inhaftierung entschädigt.

67. Schließlich kommt die SR zu dem Schluss, dass der Exzeptionalismus, die Diskriminierung, die Versicherheitlichung und der Anti-Terror-Diskurs, die durch die fortdauernde Existenz von Guantánamo und dessen Rechtfertigung aufrechterhalten werden, weit über die Grenzen von Guantánamo hinausgehen und enorme Auswirkungen auf die Menschenrechte in mehreren Ländern haben.

68. Sie schließt mit der Anerkennung der enormen Bedeutung und des Wertes dieses technischen Besuchs und der Konsequenz, die er für die weltweite Abschaffung von außerordentlichen Überstellungen, Folter, grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und willkürlicher Inhaftierung mit sich bringt, mit der Erkenntnis, dass solche Handlungen in einer auf Rechtsstaatlichkeit basierenden Gesellschaft keinen Platz haben.

Als Reaktion auf den Bericht versuchte die US-Regierung von Präsident Biden umgehend, die Ermittlungsergebnisse herunterzuspielen und behauptete, dass sie den Gefangenen „im Einklang mit internationalen und nationalen Gesetzen Schutz gewährt“. Nachdem Herr Biden im Wahlkampf angekündigt hatte, dass er das umstrittene Gefangenenlager schließen würde, sobald er an der Macht sei, nahm er seine Zusage inzwischen zurück und sagte, dass das Gefängnis „schrittweise“ geschlossen werden solle.

Kubas Außenminister Bruno Rodríguez twitterte unterdessen zu dem UN-Bericht: „Wie viele weitere Beweise sind nötig, damit die USA das Internierungs- und Folterzentrum schließen, das sie auf dem vom Marinestützpunkt Guantánamo illegal besetzten kubanischen Territorium unterhalten?“

Hier sollen zur Abrundung noch zwei weitere aktuelle Zeugnisse über die bemerkenswerte Ignoranz und Arroganz der US-Administration erwähnt werden. Dies ist zum einen ein Bericht über eine Veranstaltung vom September 2023, die von den unabhängigen irischen Europaabgeordneten Clare Daly und Mick Wallace im Europäischen Parlament organisiert und ausgerichtet wurde. Unter dem Titel „Close Guantánamo!“ war eine „bewegende dreistündige Veranstaltung“ mit neun Rednern ermöglicht worden. Drei der Redner waren ehemalige Häftlinge, zwei Rechtsanwälte, ein UN-Berichterstatter, ein Journalist sowie der ehemalige muslimische Geistliche im Gefängnis und der Verwandte eines Opfers der Anschläge vom 11. September 2001. Die letztgenannte Rednerin war Valerie Lucznikowska, deren Neffe bei den Anschlägen getötet worden war und die Mitglied von „September Eleventh Families for Peaceful Tomorrows“ ist. Dies ist eine kleine Gruppe von Familienmitgliedern der am 11. September Getöteten, die für gewaltfreie und begründete Reaktionen auf die Terroranschläge eintreten – ganz im hochzivilisierten Gegensatz zu Bushs „war on terror“, der unermessliche Opfer und Zerstörung mit sich brachte. Die Mitglieder der Gruppe fordern, die Todesstrafe in den Fällen der fünf im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September angeklagten Männer abzuschaffen und stattdessen Deals auszuhandeln. Dies sei die einzige praktische Lösung für das grundlegende Problem der Fälle – dass der Einsatz von Folter ein faires Verfahren unmöglich gemacht habe. In den Erörterungen in Brüssel ging es vor allem um die dreißig noch immer in Gitmo festgehaltenen Gefangenen, von denen mehrere bereits seit vielen Jahren hätten freigelassen werden müssen, aber durch die US-Administration noch immer ihrer Freiheit beraubt sind. Der britische Investigativjournalist Andy Worthington sagte in seinem Abschlussstatement hierzu:

„Die Vereinigten Staaten haben in Guantánamo das widerlichste unmoralische Loch gegraben, das sie selbst geschaffen haben, indem sie Männer zur Freilassung freigegeben haben, die nie eines Verbrechens angeklagt wurden, und nicht in der Lage waren, sie freizulassen. Und wir sind in diesem mächtigen politischen Block von Ländern in Europa, die etwas dagegen tun können. Wie ich bereits sagte, sind es insgesamt 16 Männer, und ich schätze, dass 13 von ihnen neu angesiedelt bzw. verlegt werden müssen. Können wir bitte einen Weg finden, dies zu tun und unseren eigenen kleinen Beitrag in Europa zu leisten, um dieser absolut ungeheuerlichen und andauernden Ungerechtigkeit ein Ende zu setzen?“

Andy Worthington schreibt über seine Erfahrungen zur Haltung der US-Administration, dass deren „Abgehobenheit“ immer wieder deutlich geworden sei, „als würde sie auf einem anderen Planeten leben“. Bei der Veranstaltung im Europäischen Parlament war auch Tina Kaidanow vertreten, eine erfahrene US-Diplomatin, die im August 2022 zur Sonderbeauftragten für Guantánamo-Angelegenheiten ernannt worden war. Dementsprechend ist sie „für alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Überstellung von Gefangenen aus der Einrichtung in Guantánamo Bay in Drittländer zuständig“. Dennoch wurde „die völlige Gleichgültigkeit der US-Regierung“ selbst gegenüber den Bemühungen deutlich, ihnen dabei zu helfen, ein neues Zuhause für diese geschundenen Männer zu finden, die nicht repatriiert werden können. Es ist dabei fraglich geworden, wie viel Mühe das US-Außenministerium tatsächlich darauf verwendet hat, speziell die Länder der EU zu ermutigen, sich an dem auch für die USA so wichtigen Problem der Neuansiedlung zu beteiligen. Worthington resümiert dazu:

Wir müssen alle hoffen, dass Tina Kaidanow und ihr Team an Plänen arbeiten, die schließlich verwirklicht werden, aber es hilft wirklich nicht, dass die gesamte US-Regierung so weit weg und desinteressiert zu sein scheint.“

Das zweite aktuelle Beispiel bezieht sich auf eine offizielle Sitzung des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen in Genf am 17./18. Oktober 2023. Dies erfolgte im Rahmen der fünften regelmäßigen Überprüfung der Einhaltung der Verpflichtungen der USA aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR). Das war das erste Mal seit 2013/2014, dass die USA in einer persönlichen Sitzung mit dem Ausschuss überprüft werden. Anwesend waren Vertreter der US-Administration sowie fast 150 außerordentliche Vertreter der Zivilgesellschaft, darunter Vertreter des Center for Victims of Torture und Rechtsbeistand von Guantánamo-Häftlingen. Dabei fand eine Befragung der offiziellen US-Delegation und der US-Beamten statt. Und es gab die Erwartung, dass sie gegebenenfalls eine Zusage machen würden, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Politik und die Praktiken der USA in Einklang mit dem ICCPR zu bringen. In dem schriftlichen Bericht von Alka Pradhan und Scott Roehm (Center for Victims of Torture) zu dieser UN-Ausschusssitzung heißt es demgegenüber:

„Es war bedauerlich (…) mit ansehen zu müssen, wie die US-Delegation einige der gleichen entlarvenden Argumente über die Behandlung der Gefangenen und die Bedingungen in Guantánamo nachplapperte, die wir seit zwei Jahrzehnten hören, und die im Widerspruch zu den verfügbaren Informationen über die düsteren Realitäten stehen. Ebenso bedauerlich war es, dass die Vereinigten Staaten im Wesentlichen alle wesentlichen Fragen zu den Folterungen in den USA nach dem 11. September ignoriert haben. Weit davon entfernt, die Gelegenheit zu nutzen, ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht in dieser Frage zu erneuern, schwankten die Vereinigten Staaten stattdessen durch unpassende Bemerkungen oder ignorierten die Fragen des Ausschusses einfach ganz, vielleicht in der Hoffnung, dass es keine Folgefragen geben würde. Das ist der Stoff, aus dem der Vorwurf der Heuchelei gemacht wird, vor allem, wenn sowohl die Vereinigten Staaten als auch der Ausschuss in ihren Eröffnungs- und Schlussbemerkungen die Bedeutung eines tiefgreifenden und sinnvollen Engagements im Rahmen des ICCPR-Überprüfungsprozesses betonen.“

Perspektiven für das Unrecht und den Terror in Guantánamo

Die Monstrosität all dieser von US-Regierungen, Behörden, Beamten, Soldaten und Angestellten durchgeführten Verbrechen gepaart mit deren Leugnung, Verniedlichung, Relativierung und dem Verschweigen ist angesichts zahlreicher anderer innen- und außenpolitischer Verbrechen des US-Imperiums nicht überraschend, aber hinsichtlich ihres Ausmaßes, der Folgen und des weiterhin bestehenden geringen Interesses und Nachdrucks für faire Lösungen oder gar Entschädigungen, also zivilisiertem oder christlichem Agieren, durchaus erschreckend. Die Kluft zwischen propagierten Prinzipien, die von den USA unentwegt und immer unverschämter von Anderen gefordert und deren vermeintliche oder reale Verletzung vehement angeprangert werden, und der eigenen brutalen Verletzung eben jener hehren Prinzipien ist wohl Weltklasse.

Seit 1898 bzw. 1903 halten die US-Militärs das Hafengelände Guantánamo im Südosten Kubas besetzt. In den Verhandlungen mit den USA fordert die kubanische Seite von der US-Administration seit Jahrzehnten die Schließung des Gefangenenlagers, die Rückgabe des Hafengeländes an Kuba und eine angemessene Entschädigung. Bisherige Äußerungen der USA deuten jedoch darauf hin, dass sie eine Übergabe des Geländes nicht in Betracht ziehen und darüber auch gar nicht verhandeln wollen.

Neben der Beendigung der US-Wirtschafts-, Finanz- und Handelsblockade sowie der Umsturzaktivitäten gegen das sozialistische Nachbarland ist die Rückgabe des so lange schon besetzten Hafengeländes für Kuba eine der zentralen Forderungen, ohne deren Erfüllung eine Normalisierung der Beziehungen nicht möglich sein wird.

Wie das imperiale Verhalten der US-Administrationen immer wieder zeigt – z.B. die Verurteilung wegen der Verminung des Hafens der nicaraguanischen Hauptstadt Managua, der Bombardierung von Panama City, der Invasion des Staates Grenada u.v.a.m. –, dürfte auch für die fast 800 Verschleppten, Inhaftierten und Folteropfer von Gitmo kaum Wiedergutmachung zu erwarten sein. Vielmehr sollen nun wieder andere auslöffeln, was die USA an Schaden angerichtet haben. Kommt das Muster nicht bekannt vor?

Übrigens: Anzumerken ist noch, auch das nicht verwunderlich, dass die westlichen Massenmedien und Demokraten sich nur sehr selten um diesen Zivilisationsbruch kümmern.

Titelbild: Die ersten Gefangenen bei ihrer Ankunft in Guantanámo am 11. Januar 2002 – Quelle: Shane T. McCoy, U.S. Navy, gemeinfrei