An die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges erinnert der Botschafter Russlands in Deutschland, Sergej J. Netschajew, im Interview. Davon haben nicht nur beide Länder, sondern auch ganz Europa profitiert, sagt er. Mit Blick auf die heutige Situation betont er: „Es tut weh, Zeuge der scharfmacherischen Russophobie der aktuellen deutschen Politik zu sein.“ Der Botschafter äußert sich zu den Ursachen und den Folgen – und über den Kontakt zu einfachen Bürgern Deutschlands. Mit ihm sprachen Éva Péli und Tilo Gräser.
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Herr Botschafter, wie ist es als Botschafter in einem Land, dessen führende Vertreter ebenso wie jene von EU und NATO Ihr Heimatland ruinieren wollen, sich im Krieg mit diesem sehen und es besiegen wollen, auf ukrainischem Boden und wahrscheinlich nicht nur dort? Ihr Außenminister Sergej Lawrow hat kürzlich über Informationen gesprochen, nach denen es EU-Diplomaten untersagt ist, Kontakt mit russischen Diplomaten bei Veranstaltungen, bei Kongressen, Treffen und anderem zu haben.
Sergej J. Netschajew: Wir arbeiten unter den Bedingungen, die der Aufnahmestaat für uns schafft. Ich stimme schon zu, dass diese aktuell nicht gerade die günstigsten sind. Es findet kein politischer Dialog statt, alle wichtigen Kooperationsformate liegen auf Betreiben der deutschen Seite auf Eis.
Das ist zu bedauern, denn wir haben in den Nachkriegsjahrzehnten, insbesondere in den 90er, in den Nullerjahren ein uniques, ein einzigartiges Netzwerk mit Deutschland aufgebaut. Absolut unique, kann ich offen sagen. Ich glaube, mit sehr wenigen anderen westlichen Ländern hatten wir so tiefgreifende, profunde Kontakte zum beiderseitigen Nutzen in allen möglichen Feldern. Praktisch überall gab es diese strategische Partnerschaft, wie wir das alles in den entsprechenden Vereinbarungen festgezurrt und verankert haben. Das funktionierte und war pragmatisch zum beiderseitigen Nutzen. Davon profitierten nicht nur Russland und Deutschland, sondern das ganze Europa.
Dennoch versuchen wir, unser Land würdevoll zu vertreten. Unsere Aufgaben bleiben unverändert. Es gilt, die Interessen der in Deutschland lebenden russischen Staatsbürger zu schützen und angemessen auf die Gegebenheiten hierzulande zu reagieren. Wir versuchen, die russische Position gegenüber denjenigen deutlich zu machen, die bereit sind, diese zu hören und aufzunehmen. Von ihnen gibt es in Deutschland übrigens recht viele.
Warum hat sich dieses einzigartige Verhältnis zwischen Deutschland und Russland seit Jahren bereits so verschlechtert? Viele im Westen geben Russland dafür die Schuld und erklären, Moskau habe die Gesprächsangebote nicht angenommen. Das war schon in den Jahren vor der jetzigen zugespitzten Situation zu hören und zu lesen. Warum und wann hat die Eiszeit angefangen?
Netschajew: Nach dem Ende des Kalten Krieges waren viele im Westen der Auffassung, Russland habe verloren. Es hieß, von nun an brauche man keine Rücksicht mehr auf Russlands Interessen zu nehmen. Der Westen glaubte, unserem Land diktieren zu können, wo es langgehen sollte.
Wir hingegen haben in dieser neuen Situation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs enorme Möglichkeiten gesehen, auf unsere gestrigen geopolitischen und ideologischen Gegner zuzugehen. Mein Land zeigte sich absolut offen und bereit, die Beziehungen nach außen in jedweder Hinsicht auszubauen. Aber dieses Zugehen war nicht gegenseitig. Irgendwann wurde klar, dass man doch nicht bereit war, uns auf Augenhöhe zu begegnen.
Gleichwohl konnten meiner Meinung nach gerade mit Deutschland pragmatische Beziehungen aufgebaut werden. Die Amtszeiten von Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel standen ganz im Zeichen einer fortschreitenden Zusammenarbeit in den Bereichen Handel und Wirtschaft, Energie und Investitionen, Wissenschaft und Kultur, interparlamentarischer und zivilgesellschaftlicher Dialog sowie Jugendaustausch. All das lag im Interesse beider Länder und ganz Europas. Leider hat sich Deutschland zu einem gewissen Zeitpunkt entschieden, seine nationalen Interessen der politischen Großwetterlage zu opfern.
Wir haben den Deutschen überhaupt nichts angetan. Mehr noch: Aus meiner Sicht war das Werden der politischen und der wirtschaftlichen, europäischen Großmacht Deutschland eng und sehr tief mit den Beziehungen zu Russland verbunden. Wirtschaftlich war Deutschland bis 2013 unser Handelspartner Nummer 1 mit 80 Milliarden Euro Warenumsatz. Politisch war es eine Brücke zwischen Ost und West und funktionierte als guter Makler. Das brachte Deutschland politische Größe und politisches Ansehen, und auch die führende Rolle in der Europäischen Union. Alle Türen in Russland waren offen für Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den 70er Jahren und bis zur letzten Zeit basierte auf den guten und gewissenhaften Lieferungen unserer Energieträger – zum guten Freundschaftspreis. Das war stabil in guten Mengen. Wir haben nichts gestoppt. Wir haben von uns aus nichts auf Eis gelegt. Wir haben kein einziges der rund 6.300 deutschen Unternehmen, die in Russland bis 2022 aktiv waren, vertrieben.
Wo kam aber der Wandel her? Manche sagen, das fing 2008 an, als Bundeskanzlerin Angela Merkel begann, von Werten in der Politik zu reden.
Netschajew: Auch damals hatten wir gut miteinander eine gemeinsame Sprache gefunden. Wir haben auch früher verschiedene Vorschläge für die europäische Sicherheitsarchitektur gemacht. Wir waren sehr skeptisch, was die Osterweiterung der NATO betrifft. Es gab die Versprechen, dass die NATO keinen Zentimeter nach Osten geht. Das ist heute kein Geheimnis mehr. Das steht schwarz auf weiß in verschiedenen Gesprächsvermerken aus der Zeit und in einigen Artikeln von führenden Politikern der damaligen westlichen Welt. Aber dann haben wir gesehen, dass die NATO immer näher an unsere Grenzen kommt. Es geht nicht um die einfache Mitgliedschaft, sondern um die Stationierung der entsprechenden militärischen Infrastruktur. Das war schon nicht akzeptabel für uns.
Da mussten wir uns Gedanken machen, wie wir reagieren sollen. Das hat Präsident Wladimir Putin damals 2007 in München in entsprechender Weise erläutert. Wir haben gesagt, das kommt nicht überein mit der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, die wir gemeinsam bauen wollten. Das alles wurde vom Westen verworfen. Da waren wir natürlich sehr skeptisch. Man kann uns nicht so behandeln, als ob wir die Looser des Kalten Krieges waren und dass man uns alles diktieren kann, wie wir uns benehmen müssen. Wie wir behandelt wurden, war für unser Verständnis ungerecht und widersprach unseren Vorstellungen über das Zusammenwachsen in Europa, über die Partnerschaft und über die strategischen Aussichten für die Zukunft. Ich glaube, diese Annäherung zwischen Russland und Europa brachte nicht allen ein Vergnügen.
Bei alldem spielen ja auch die USA eine Rolle …
Netschajew: Anscheinend betrachteten die USA diese wachsende Kompatibilität zwischen Russland und Westeuropa als eine Gefahr für die amerikanischen Interessen. Das war ein riesiges Konkurrenzzentrum, wirtschaftlich, technologisch, bei den Energieträgern und angesichts gemeinsamer Projekte auch in der Wirtschaft und Wissenschaft.
Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 gilt als Einschnitt. Deutsche Politik und Medien lassen bis heute die Vorgeschichte weg. Wie hätte das, was zu einem Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland auf ukrainischem Boden wurde, verhindert werden können? Der britische Politikwissenschaftler Richard Sakwa schrieb kürzlich vom wahrscheinlich „vermeidbarsten Krieg in der Geschichte“.
Netschajew: Jeder geopolitische Zug ergibt sich wie in einer Schachpartie aus der jeweils vorangehenden Position. Die Entwicklungen der Vergangenheit zu vergessen beziehungsweise zu versuchen, diese zu verdrängen, ist zumindest kontraproduktiv.
Von Anfang an formte der Westen aus der Ukraine eine Art Gegengewicht zum zunehmenden Einfluss Russlands. Mit Hilfe der „Farbrevolutionen“ wurden antirussische Marionetten-Politiker an die Macht geführt, deren Aufgabe es war, die engen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie den Kultur- und zwischenmenschlichen Austausch zwischen Russland und der Ukraine zu untergraben. Es wurden nationalistisch orientierte Eliten in der Ukraine hochgepäppelt. Es wurde mit Nachdruck auf eine Annäherung der Ukraine an die NATO und auf den Beitritt der Ukraine zu diesem aggressiven Militärbündnis hingearbeitet. Ultimativ wurde Kiew vor ein Entweder-Oder gestellt: Eine Hinwendung zum Westen schloss jeden Austausch mit Russland aus.
Nach dem von den Amerikanern finanzierten Maidan und dem blutigen Staatsstreich vom Februar 2014 hat die Ukraine endgültig den Weg einer militanten Russophobie betreten. Seitdem werden alle, die die Beziehungen zu Russland zu erhalten wünschten – auf der Krim, im Donbass und überall – hart unterdrückt.
Die Bilanz dieser unfähigen Politik ist hinlänglich bekannt. Die Tragik besteht auch darin, dass die in der Ukraine erstarkenden neonazistischen Tendenzen, das sogenannte Banderatum, von den westlichen Regierungen nicht verurteilt wurden und sich als ideologische Normalität des Regimes in Kiew etablieren konnten.
Der ukrainische Politikwissenschaftler Konstantin Bondarenko, Leiter der Stiftung Ukrainskaya Politika, hat in einem Interview mit dem ungarischen Portal Moszkvater gesagt: Im Jahr 2014 „begann die tatsächliche und effektive Kolonisierung der Ukraine. Die westlichen Institutionen haben im Wesentlichen die Kontrolle über die Ukraine übernommen.“ Wie würden Sie das einschätzen?
Netschajew: Ich würde im Großen und Ganzen diesen Gedanken unterstützen. Die Ukraine ist heute leider nicht mehr selbstständig und ist an das Geld und an die Waffenlieferungen aus dem Westen total gebunden. Auch an die verschiedenen Ratschläge, wie sie bis zum letzten Ukrainer kämpfen sollen. Es gibt in keiner Hinsicht eine Selbstständigkeit der Ukraine.
In Deutschland erklären Politiker auch der SPD, Frieden gebe es nur noch gegen Russland. Die einstige Ostpolitik, für die Willy Brandt, Egon Bahr und andere standen, wird als „Fehler“ behandelt und beiseite geschoben. Ex-Kanzler Helmut Schmidt schrieb noch 2008 in seinem Buch „Außer Dienst – Eine Bilanz“: „Jedenfalls habe ich bei Russen keinen Argwohn gegenüber Deutschland gespürt. Man kann dafür nur dankbar sein. Schon deshalb steht es uns nicht zu, antirussische Gefühle zu hegen. Wenn jemand uns dazu verleiten will, sollten wir ihm die kalte Schulter zeigen.“ Kann ein Botschafter einer offensichtlich feindlich eingestellten Außenministerin die „kalte Schulter“ zeigen?
Netschajew: Auch in Deutschland hat sich in vieler Hinsicht ein Elitenwechsel vollzogen. Die heutigen Politiker erinnern sich immer seltener an die Zeit, da Millionen Sowjetsoldaten um den Preis des eigenen Lebens Deutschland und Europa vom Nationalsozialismus befreiten, das russische und das deutsche Volk sich nach dem Krieg die Hand zur Versöhnung reichten und aus unversöhnlichen Feinden Partner und gar Freunde werden konnten.
Die historische Verantwortung Berlins gilt heute der Schoah, aber nicht den Millionen von Sowjetbürgern, die in einem grauenhaften Vernichtungskrieg dem Völkermord zum Opfer fielen. Die Ostpolitik ist als fehlerhaft verworfen worden. Es ist mittlerweile verpönt, an den entscheidenden Beitrag der UdSSR zur Deutschen Einheit zu erinnern. Vieles hat man schlichtweg dem Vergessen anheimfallen lassen.
Es tut weh, Zeuge der scharfmacherischen Russophobie der aktuellen deutschen Politik zu sein. Zumindest gilt das für einen Teil des politischen Establishments. Die öffentlichen Auslassungen, man müsse sich auf einen Krieg gegen Russland vorbereiten, sowie die Aufrufe, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, seine Wirtschaft zu zerfetzen und seine Bevölkerung durch immer neue Sanktionspakete leiden zu lassen – all das klingt barbarisch und ist mir unerklärlich.
Russland hat Deutschland keinen Schaden zugefügt, wollte es nie und will es nicht tun. Dass unsere Beziehungen dort sind, wo sie gerade sind, ist einzig und allein die Verantwortung der politischen Führung dieses Landes. Ich bezweifle, dass die «Zeitenwende» Deutschland zum unabhängigen Wohlstand und Erfolg führen kann.
Was unsere Kontakte mit dem Auswärtigen Amt anbelangt, so finden sie recht regelmäßig statt, auch wenn der Austausch auf Arbeitsebene auf ein Minimum reduziert ist. Leider sind die Anlässe zu den Gesprächen mit den Kollegen nicht immer die angenehmsten.
Nichtsdestoweniger besteht unsere wichtigste Aufgabe aus meiner Sicht darin, den Dialogfaden nicht endgültig abreißen zu lassen und nach Möglichkeit zur Lösung der auftretenden Probleme beizutragen. Zumal es in Deutschland eine recht zahlreiche russische Diaspora gibt. Ich bin sicher, dass Emotionen nicht vor Professionalität gehen dürfen.
Sie haben sich im Februar gegenüber einer deutschen Zeitung für Verhandlungen ausgesprochen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Wie können die möglich sein angesichts des westlichen Wunsches, Russland ruinieren und besiegen zu wollen?
Netschajew: Jeder Konflikt endet früher oder später mit Verhandlungen. Wie Präsident Wladimir Putin mehrmals betonte, haben wir uns niemals Gesprächen verweigert. Mehr noch, der Entwurf eines Friedensabkommens mit der Ukraine, das den Interessen beider Seiten entsprach, wurde bereits im Frühjahr 2022 ausgehandelt und lag zur Unterschrift bereit. Eine friedliche Lösung war aber nicht Teil der westlichen Planung. Hört man sich deutsche Politiker an, die zur Aufrüstung der Ukraine nach dem Motto „so lange wie nötig“ aufrufen, ist es auch heute noch so.
Darüber hinaus hat Wladimir Selenskij sich selbst per Gesetz verboten, Gespräche mit der russischen Seite zu führen und die Situation damit in eine Sackgasse geführt. „Friedenskonferenzen“ unter Ausschluss Russlands und ohne Berücksichtigung unserer Interessen sind nichts anders als sinnloses politisches Spektakel.
Wir schätzen zum Beispiel sehr die Initiativen von unseren chinesischen Freunden, ebenfalls Initiativen von afrikanischen Freunden, auch aus Brasilien. Wichtig ist, dass unsere Sicherheitsinteressen in diesen Entwürfen ebenfalls berücksichtigt werden. Das ist das Wichtigste, sozusagen ein Junktim. Ohne die Berücksichtigung unserer Interessen ergibt es keinen Sinn, zu reden. Friedensinitiativen aus dem Westen habe ich bis jetzt noch nicht gesehen.
Auch nicht aus Berlin, der „Stadt des Friedens“?
Netschajew: Nein, auch nicht aus Berlin. Es tut mir wirklich sehr leid, was ich jetzt aus Berlin höre, von noch mehr Waffenlieferungen, weiteren Sanktionen, dem Raub unserer Vermögenswerte im Westen. Das war, ehrlich gesagt, ein schwerer Fehler unserer deutschen Kollegen, die letalen Waffen in die Ukraine zu liefern, mit denen Russen getötet werden. Das frischt einige historische Reminiszenzen auf, die wir nie vergessen. Das produziert eine klare Stimmung in Russland. Den Weg der russisch-deutschen historischen Aussöhnung fördert das ganz bestimmt nicht. Wir haben diesen Weg nach dem Zweiten Weltkrieg geebnet, von beiden Seiten, Russen und Deutsche.
Jetzt, im Zuge dieser „Zeitenwende“, höre ich in Berlin: „Wir müssen uns auf den Krieg vorbereiten, der unbedingt in ein paar Jahren nach Deutschland kommt“. Die Bundeswehr ist an unserer Grenze, die endlosen Militärmanöver an unseren Grenzen, das ist natürlich für das gute Verhältnis kaum förderlich. Deutschland und Russland verschwinden nicht aus Europa, auch in Jahrzehnten nicht. Da müssen wir natürlich an unsere gemeinsame Geschichte denken, und nicht nur an die Geschichte, sondern auch an die Zukunft.
Sie waren ja schon zu DDR-Zeiten hier in Berlin, als junger Diplomat. Das war die Zeit des Kalten Krieges. Da gab es eine ernste Konfrontation, auch Angst vor einem Atomkrieg. Ist das für Sie vergleichbar? War es schlimmer? Ist es heute schlimmer?
Netschajew: Ich würde sagen, heute ist es schlimmer. Jetzt sind die Akzente, würde ich sagen, ein bisschen anders. Russland wird von den westlichen Staaten total diskriminiert und unter Druck gesetzt. Mehr noch, es wird versucht, Russland eine strategische Niederlage zuzufügen, unsere Wirtschaft zu ruinieren. So etwas gab es damals nicht.
Es gab damals, in der Zeit des Kalten Krieges, vernünftige Stimmen, die Sie vorhin zitiert haben, wie Egon Bahr. Die höre ich heute leider von den hohen Politikern nicht mehr.
Wie erfahren Sie von Persönlichkeiten wie Ex-Bundeswehr-General Harald Kujat, Ex-UN-Diplomat Michael von der Schulenburg, Oskar Lafontaine und anderen, die sich für Frieden aussprechen? Was halten Sie davon?
Netschajew: Wir verfolgen die innerdeutsche Debatte zur ukrainischen Problematik sehr aufmerksam. Wir wissen, dass sich immer mehr Politiker und Experten auch mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen an der militärischen Kontaktlinie realistisch zeigen und der Bundesregierung vorschlagen, über eine politische Lösung nachzudenken. Gleichzeitig stellen wir fest, dass Berlin noch nicht bereit ist, auf seine Dogmen zu verzichten. Die deutsche Führung setzt weiterhin auf immer neue Lieferungen von Waffen und Militärtechnik an Kiew.
Wie erleben Sie Deutschland heute, auch mit Blick auf die Gesellschaft? Welche Kontakte gibt es noch zur sogenannten Zivilgesellschaft, zu den normalen Bürgern? Sie haben kürzlich bei einem Konzert im Russischen Haus auf die wichtige Rolle der Kultur für den Frieden und die Völkerverständigung hingewiesen. Wie ist das heute möglich?
Netschajew: Wie ich bereits gesagt habe, bemühen wir uns, wo immer möglich, positive Ansätze zu erhalten. Das gilt beispielsweise für die Bereiche Kunst und Kultur, zwischenmenschlicher Austausch sowie Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit. Wir kommen auch mit einfachen deutschen Bürgern ins Gespräch, von denen viele mit dem heutigen Zustand der russisch-deutschen Beziehungen gelinde gesagt nicht zufrieden sind. Wir versuchen, sie mit der russischen Position und der russischen Sichtweise auf die aktuellen Probleme der Gegenwart zu erreichen. Auch mit Ihrer Hilfe.
Mit den einfachen Bürgern sprechen wir absolut offen. Vor wenigen Tagen waren wir in Seelow zur Kranzniederlegung. Auf den Seelower Höhen begann die Berliner Operation der sowjetischen Armee, die die letzten Tage des Großen Vaterländischen Krieges einleitete. Ich war wirklich sehr erstaunt und sehr begeistert, dass viele einfache Deutsche gekommen waren, um die sowjetischen Soldaten zu ehren. Das war wirklich für mich eine große und angenehme Überraschung. Da gab es auch polnische Staatsbürger, die gekommen waren. Mit den einfachen Bürgern Deutschlands und auch Polens haben wir wirklich immer noch gute Kontakte. Das wissen wir auch zu schätzen.
Ich habe die Kriegsgräberfürsorge erwähnt. Da sehen wir ständig, wie entgegenkommend die einfachen Deutschen sind. Es tut mir wirklich leid, dass diese guten Stimmen nicht mehr so gehört werden. Schade, denn wir haben mit Deutschland wirklich sehr viel Gemeinsames. Was die Kultur anbetrifft, ich kenne kein anderes Land in Westeuropa, mit dem wir eine so inhaltsreiche kulturelle Geschichte teilen, in der die beiden Kulturen einander bereichert haben. Ich bin sicher, dass Kultur das ist, was uns natürlich näherbringt. Das ist eine sehr, sehr wichtige Brücke.
In Kürze begehen Sie, Ihr Land und seine Bürger wieder den Tag des Sieges über den Faschismus, am 9. Mai. Wie ist das derzeit angemessen möglich? Und was haben Sie als Botschafter und die Botschaft dafür geplant? Und wie steht es um die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden zum Schutz und zur Pflege der sowjetischen Ehrenmäler und Gedenkstätten in Deutschland, die Sie in den letzten Jahren immer wieder lobten?
Netschajew: Wir sind den deutschen Kommunen und Gemeinden für den fürsorglichen Umgang mit den sowjetischen Kriegsgräberstätten in Deutschland sehr dankbar. Auch für schnelle Beseitigung von Beschädigungen infolge von Vandalismus, den es leider Gottes auch gibt, danken wir sehr.
In diesem Jahr haben wir tatsächlich wieder vor, Kränze und Blumen an zentralen Kriegsgräberstätten und in ehemaligen Nazi-Konzentrationslagern niederzulegen und der Soldaten und Opfer des Nazi-Regimes zu gedenken. Dass der Verwaltung der Gedenkstätten und den Kommunalbehörden eindringlich empfohlen wurde, es nicht zu Begegnungen mit den russischen Vertretern kommen zu lassen, ist bedauernswert. Wir hoffen, dass sich diese Haltung früher oder später ändert.
Titelbild: © Tilo Gräser