„Es gibt keine Friedensbewegung wie vor ein paar Jahrzehnten, dabei bräuchten wir sie heute mindestens so dringend wie damals“ – das sagt Jürgen Müller, der gerade die große Friedensdemo für den morgigen Samstag in München mitorganisiert, im NachDenkSeiten-Interview. Die Bundesregierung riskiere, „dass wir in einen großen Krieg gezogen werden, obwohl die Bevölkerung das nicht will“, sagt Müller, der als Anwalt in München arbeitet. Ein Gespräch unter anderem über die von NATO-Generalsekretär Mark Rutte geforderte „Kriegsmentalität“, die Option eines NATO-Austritts für Deutschland und darüber, warum am Samstag möglichst viele Bürger zur Demo auf dem Königsplatz kommen sollten. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Marcus Klöckner: „Macht Frieden“ – das ist der Leitspruch der Demonstration, die am morgigen Samstag in München stattfinden wird. An wen richtet sich dieses „Macht Frieden“?
Jürgen Müller: Wir richten uns mit unseren Forderungen an unsere Regierung, die das Grundgesetz und ihren Amtseid achten sollte. Wir haben im Grundgesetz ein Friedensgebot, das wir missachtet sehen. Viele Politiker handeln aktuell nicht zum Wohle des Volkes. Bereits jetzt sind die Folgen des Wirtschaftskrieges gegen Russland sehr deutlich an massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten zu spüren. Damit nicht genug, riskiert die Regierung, dass wir in einen großen Krieg gezogen werden, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung das nicht will – vermutlich nicht einmal die, die aktuell – durch Propaganda getäuscht – meinen, Krieg zu wollen.
Wir alle wissen: Deutschland soll kriegstüchtig werden. Das ist die Losung von politischer Seite. NATO-Generalsekretär Mark Rutte sprach davon, dass wir eine „Kriegsmentalität“ entwickeln sollten. Und er sagte auch: „Wir müssen uns auf einen Krieg vorbereiten.“ Das sind nur zwei aus einer langen Reihe von Aussagen, die alle in eine Richtung zielen. Immer wieder wird von der Bedrohung Russlands gesprochen. Bitte sagen Sie uns: Wie ordnen Sie die Situation ein? Was bedeutet all das für Deutschland?
Ich kann dieses „Si vis pacem, para bellum“ (Anm. Red.: „Wenn du (den) Frieden willst, bereite (den) Krieg vor.“) nicht mehr hören und lesen. Es ist eine platte und immer wiederkehrende Entgegnung auf jede Forderung nach Frieden. Und das Weitere ist, man betreibe Täter-Opfer-Umkehr, wenn man Verhandlungen fordert. Was hat denn der Krieg der Ukraine gebracht? Hunderttausende sind gestorben, weite Gebiete des Landes sind an Russland oder BlackRock verloren, und Infrastruktur ist zerstört. Wer auf die Geschichte des Kriegs hinwies und Verhandlungen forderte, wurde auf das Übelste beschimpft, und das dauert bis heute an, obwohl doch jeder sehen kann, wie verheerend diese Strategie war. Ich werfe den Verantwortlichen vor, nicht einmal ernsthaft versucht zu haben, Frieden zu schaffen.
Oft wird uns gesagt, wir sollten uns doch mit unseren Forderungen an Putin richten, aber warum sollten wir das tun? Putin war doch verhandlungsbereit. Das alles hätte längst enden können, wenn man denn gewollt hätte. Wir richten uns an unsere Regierung, die unsere Kinder kriegstüchtig machen will. Durch fast alle Parteien scheint der Kriegspfad unumkehrbar beschritten worden zu sein. Ich sage daher, wir sollten dringend friedenstüchtig werden und über Frieden reden.
Wir sind mittlerweile in einer sehr schlechten Lage. Ich wüsste nicht, warum Russland noch mit Deutschland verhandeln sollte. Die Politik, die die Ampel-Regierung geboten hat, hat zu einem unvorstellbaren Ansehensverlust Deutschlands in der Welt geführt. Wer sollte denn mit uns noch verhandeln wollen? Die ganze Welt konnte sehen, dass Deutschland das macht, was die USA wollen. Am deutlichsten dürfte dies gewesen sein, als unser Bundeskanzler lächelte, als US-Präsident Biden ankündigte, unsere günstige Energieversorgung zu beenden. Nord Stream wurde dann gesprengt, und es interessierte von den Regierenden eigentlich niemanden. Stattdessen haben wir uns nun in die Abhängigkeit der USA begeben, die dazu noch viel teurer ist und unserer Volkswirtschaft massiv schadet. Was soll man von so einem Land erwarten? Aus meiner Sicht sollte man nun alles daran legen, zu deeskalieren und sich herauszuhalten, denn wenn es eskaliert, sind wir in einer ganz schlechten Lage – nicht nur geographisch. Und wenn ein NATO-Generalsekretär so etwas äußert, sollten wir endlich einmal anfangen, ernsthaft über einen NATO-Austritt zu reden. Daran würde sich auch zeigen, wie souverän wir überhaupt sind.
Auf den Plakaten zu Ihrer Friedensdemo heißt es: Bundestagswahl = Friedenswahl. Was genau wollen Sie damit ausdrücken?
Die Idee stammt unmittelbar aus der Zeit, als die Ampelregierung zerbrach und verkündet wurde, dass es Neuwahlen geben solle. Es war der Versuch, das Thema Frieden – neben der Aufarbeitung der Coronakrise – zu einem der bestimmenden Themen der Bundestagswahl zu machen. Dazu wäre es jedoch nötig gewesen, dass möglichst viele darüber sprechen – auf Demos, in den sozialen Medien, in Kommentaren und Leserbriefen zu Medienberichterstattung usw. Das ist leider nicht gelungen. Nun, kurz vor der Wahl, hat es kaum mehr Bedeutung. Es steht halt noch drauf, aber den Zweck hat es nicht erfüllt, das muss man ganz klar sagen. Für mich waren gerade die letzten Wochen Lehrbuchbeispiele, wie Aufmerksamkeitsökonomie und Empörungsmanagement funktionieren und wie die Machtstrukturen die Bevölkerung lenken können. Redet im Wahlkampf irgendjemand über Frieden und die Aufarbeitung der Coronakrise? Nein, es wird fast ausschließlich über Brandmauern und Migration gesprochen. Das sind die Themen, die alles andere verdrängen. Dazwischen schaffen es immer wieder auch ein paar kleinere Aufreger, das Tagesthema mitzubestimmen.
Es wird gerade viel über Demokratie geredet von Menschen, die gemeinsam mit Akteuren der Macht dafür auf die Straße gehen. Aber Demokratie bedeutet auch, die Machtfrage zu stellen. Machtstrukturen verhindern Demokratie, wie Rainer Mausfeld in seinem Buch „Hybris und Nemesis“ wunderbar herausgearbeitet hat. Frieden stellt diese Machtfrage wie kaum ein anderes Thema. Es wären unsere Kinder, die im Krieg sterben, nicht die Kinder der Mächtigen. Es sind in der Ukraine Hunderttausende gefallen, jedoch keiner der westlichen Kriegstreiber. Krieg ist nicht im Interesse des Großteils der Bevölkerung, sondern im Interesse einer kleinen Minderheit, die sehr gut daran verdient und ihre geostrategischen Interessen verfolgt. Leider dringt man damit nicht durch. Es gibt keine Friedensbewegung wie vor ein paar Jahrzehnten, dabei bräuchten wir sie heute mindestens so dringend wie damals.
Merz sagte vor Kurzem: „Frieden gibt’s auf jedem Friedhof.“ Was würde ein Kanzler Merz für Deutschland bedeuten?
Wenn ich das so flapsig in diesem Interview sagen darf, würde ich antworten: Merz würde den Larry raushängen lassen – in Anspielung auf Larry Fink, den US-Milliardär und BlackRock-Chef. BlackRock verwaltet Vermögenswerte in einer Größenordnung von zehn Billionen Dollar und vereinigt damit mehr Macht auf sich als die meisten Länder bzw. Volkswirtschaften. Merz war von 2016 bis 2020 Aufsichtsratsvorsitzender der BlackRock Asset Management Deutschland AG. Er ist ein BlackRock-Mann und damit ein Mann der Macht. Es ist nicht davon auszugehen, dass er Politik für die Bevölkerung machen würde. Auch wenn sich der Millionär Friedrich Merz zur „gehobenen Mittelschicht“ zählt, ist er ein Mann des Kapitals. Und genau diese Politik ist von ihm zu erwarten.
Was den Krieg in der Ukraine anbelangt, bekämen wir damit nicht nur einen Kanzler, der die Rüstungsindustrie und deren Oligarchen weiter füttert. Wir bekämen einen Kriegskanzler, der bereit wäre, Deutschland in einen großen Krieg mit Russland zu steuern. Denn nichts anderes bedeutet sein Versprechen, der Ukraine auch Taurus-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen, mit der sie bis weit nach Russland hinein angreifen könnte.
In Zwickau haben gerade das BSW und die AfD gemeinsam im Stadtrat beschlossen, dass Bundeswehrwerbung auf städtischen Fahrzeugen verboten wird. Konkret ging es um eine Straßenbahn, die in Tarnfarben zu sehen war und auf der die Bundeswehr für Nachwuchs werben wollte. AfD-Politiker Sven Itzek sagte: „Wenn die Politiker ihre Kinder in den Krieg schicken müssten, wäre dieser ganz schnell vorbei.“ Das hört sich nach einem friedenspolitischen Flügel der AfD an. Andererseits: Die AfD ist für die Wiedereinführung der Wehrpflicht, und mehr Geld für die Verteidigung scheint auch kein Problem zu sein. Was ist Ihre Einschätzung? Wie ist die AfD im Hinblick auf das Friedenspolitische zu erfassen?
Jeder Schritt gegen die Kriegstreiberei ist zu begrüßen, so auch dieser Beschluss. Es ist auch zu begrüßen, wenn die AfD und ihre Wähler einen Entspannungskurs gegenüber Russland befürworten und dafür auch auf die Straße gehen. Allerdings ist die AfD aus meiner Sicht keine Friedenspartei. Sie stand hinter Israel – egal, was dort passierte. Und Alice Weidel kann sich vorstellen, dass der Kriegsetat auch über fünf Prozent des BIP liegen könnte. Das ist die bislang höchste mir bekannte Forderung. Wir reden von deutlich über 200 Milliarden Euro pro Jahr bei einem Bundeshaushalt von rund 488 Milliarden Euro. Das wäre weit mehr, als für Arbeit und Soziales geplant ist. Entweder kürzt man dort, verschuldet sich oder finanziert dies durch weitere Steuern bei den Bürgern, die ohnehin mit immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten konfrontiert sind. Umgerechnet würde dies für jeden Nettosteuerzahler einen fünfstelligen Betrag pro Jahr für Kriegsgerät bedeuten. Ich denke, die Bürger wüssten mit diesem Geld Besseres anzufangen.
Noch mal zur Demo. Wie ist die Demo geplant, wer werden die Redner sein?
Wir starten am 15. Februar 2025 um 14:00 Uhr auf dem Königsplatz in München und freuen uns, dass wir prominente Redner gewinnen konnten. Sprechen werden Dr. Ingrid Pfanzelt vom IPPNW, Prof. Ulrike Guérot, Dr. Friedrich Pürner und Rechtsanwalt Dirk Sattelmaier aus der Bürgerrechtsbewegung. Musikalisch unterstützt werden wir von der Band THE KANT, Diether Dehm und Corona Bavaria. Zudem werden wir einige Videoeinspielungen haben. Ab 15:30 Uhr startet der Umzug durch München. Die Rückkehr auf den Königsplatz ist für ca. 17:00 Uhr geplant. Das Abschlussprogramm wird bis 18:30 Uhr dauern.
Angenommen, ein Bürger überlegt, ob er auf die Demo gehen soll, ein anderer hat sich schon entschieden und findet, eine Teilnahme ist nicht nötig, da nicht so wichtig. Was würden Sie diesen Bürgern sagen?
Wir haben im „Wir-gemeinsam-Bündnis“ seit geraumer Zeit eine Serie namens Zeitzeugen. Dort erfassen wir die letzten Stimmen der Kriegsgeneration, solange dies noch möglich ist. Sie berichten von ihren traumatischen Kriegserlebnissen: Das Kind, das aus dem Luftschutzkeller in den Armen der Eltern nach oben getragen wurde, in die Wohnung, und dort auf dem Sofa abgelegt wurde, allerdings unter freiem Himmel. Das Dach war weggebombt worden. Die junge Frau, dem der Lehrling aus der Firma einen Heiratsantrag ankündigt, der sich aber vorher noch für das Vaterland zum Militär melden will. Am nächsten Tag ist er tot – auf dem Weg zum Friseur haben ihm die Splitter einer Granate den Kopf gespalten. Die junge Teenagerin, die mit der Mutter nach dem Bombenangriff aus Dresden irgendwie aus den Bombenkellern heraus und den Flammen entkommt und das nackte Leben rettet. Diese Erinnerung wird nie verschwinden. Die Erlebnisse auf den Fluchtwegen nach Westen, der Hunger, die zerstörten Familien. Die Kriegsversehrten – mit fehlenden Gliedmaßen, mit halben Gesichtern, allgegenwärtig im Straßenbild, damals für das Kind ein Horror, für die alte Frau immer noch präsent. Die fehlenden Väter oder die später zwar zurückkehrenden Väter, die mit ihren Kriegserlebnisse aber nicht klarkommen und am Weiterleben scheitern, mit all den Folgen zu Hause. Krieg zerstört noch so viel mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Die Folgen sind über Generationen hinweg zu spüren. Wer das hört und noch dazu Kinder hat, kann erahnen, dass es kaum wichtigere Themen geben kann als Frieden und es zwingend ist, sich dafür einzusetzen.
Ich würde daher beide Bürger fragen, was um Gottes Willen Ihnen bitte wichtig ist, wenn der Frieden “nicht so wichtig” ist. Falls sie mir einen deutschen Regierungspolitiker zeigen können, der sich glaubhaft für Frieden einsetzt, können wir gern alle zu Hause bleiben. Falls nicht, muss der Protest wohl oder übel lauter werden. Politisch ist derzeit sehr viel im Fluss, gerade auch in der Ukraine und in Gaza. Es kann sich jeweils sowohl zum Frieden als auch zur weiteren Eskalation wenden. Die Redner werden darauf eingehen, während drinnen bei der Sicherheitskonferenz vielleicht gerade wichtige Entscheidungen fallen. Die Stimmen der Vernunft und für den Frieden müssen durch so viele Menschen wie möglich aufgegriffen und verstärkt werden – dazu ist diese Demo eine Möglichkeit, die sich niemand entgehen lassen sollte, der den Frieden will. Die Menschen erwartet ein tolles Programm, inhaltsdicht, mit herausragenden Rednern. Es erfordert keine weitere Vorbereitung für die Teilnehmer. Sie müssen nur kommen und noch ein paar Menschen mitbringen. Dann haben sie garantiert einen erfüllenden, erkenntnisreichen und sinnstiftenden Tag in einer Gemeinschaft von friedliebenden Menschen, der das Potenzial hat, politische Entscheidungen, die gerade getroffen werden, zum Friedlicheren zu beeinflussen.
Titelbild: StreetviewPhotography