„Anatomie eines Völkermords“

„Anatomie eines Völkermords“

„Anatomie eines Völkermords“

Ein Artikel von John J. Mearsheimer

Anfang Mai hat der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer auf einen Bericht über den anhaltenden Völkermord in Gaza – den UN-Report mit dem Titel „Anatomy of a Genocide“ – aufmerksam gemacht und in dem Zusammenhang noch mehr Schweigen und Komplizenschaft des liberalen Westens festgestellt. Dieser im Folgenden aufgeführte Beitrag von Mearsheimer wurde von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen.

Vorbemerkung: Am 24. Dezember 2024 hat sich John Mearsheimer mit einem kurzen Artikel zu Wort gemeldet, in dem er angesichts des anhaltenden Gaza-Krieges mit eindeutigen Worten von einer moralischen Bankrotterklärung des Westens gesprochen hat [1]. Dieser Artikel wurde von Klaus-Dieter Kolenda mit Erlaubnis des Autors ins Deutsche übertragen und am 12. Januar in den NachDenkSeiten veröffentlicht [2]. Hier folgt der übersetzte Artikel von Mearsheimer:

Der UN-Menschenrechtsrat hat einen ausführlichen Bericht mit dem Titel „Anatomie eines Völkermords“ veröffentlicht. Wie der Titel andeutet, beschreibt der Bericht detailliert den anhaltenden israelischen Völkermord in Gaza.

Trotz einer Fülle an Beweisen für Israels grauenvolle Barbarei tut der liberale Westen nicht nur praktisch nichts, um sie zu stoppen, sondern ist sogar mitschuldig am Völkermord.

Wo sind all die liberalen Akademiker, Aktivisten, Journalisten und politischen Entscheidungsträger, die einen Großteil ihres Erwachsenenlebens damit verbracht haben, über Menschenrechte und die Tugenden der liberalen internationalen Ordnung zu predigen? Sie sind „AWOL“ [4], d. h. unerlaubt abwesend angesichts eines der großen Verbrechen der Neuzeit.

Alex Lo, der angesehene Kolumnist der South China Morning Post, trifft in seiner jüngsten Kolumne mit dem Titel „Die westliche Welt hat im Gaza-Krieg bereits ihr eigenes Grab gegraben“ den Nagel auf den Kopf. Er fährt fort:

„Indem sie Israel in die Lage versetzt haben, seinen völkermörderischen Impuls zu entfesseln, haben die meisten Führer der entwickelten Nationen eine moralische rote Linie überschritten, die nicht rückgängig gemacht werden kann.“

Die folgenden drei Absätze von Lo sind besonders beachtenswert:

„In vielen westlichen Ländern, aber vor allem in den Vereinigten Staaten und in Deutschland, wird eine außergewöhnliche Zensur ausgeübt, um jeden zum Schweigen zu bringen, der versucht, das auszusprechen, was in Palästina vor sich geht und was jeder bereits weiß. Es ist kein Zufall, dass die beiden Länder, die den Holocaust als universelle politische Bildung am meisten nutzen, die beiden Länder sind, die am aktivsten einen Völkermord in Echtzeit ermöglichen, der begangen und live auf unseren Computerbildschirmen und Social-Media-Seiten gezeigt wird.“

„Die Schreie der Opfer zum Schweigen zu bringen, sodass die Mörder mit dem Gemetzel fortfahren können, und Kritik als rassistische Hassrede gegen die Mörder und ihre Apologeten darzustellen: Wer tut so etwas?“

„Der Westen kümmert sich mehr um die Gefühle der Schlächter als um das Leben und die Gliedmaßen der Opfer. Die westliche ‘Zivilisation’ klingt jetzt wie ein Widerspruch in sich.“

Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: [email protected]

Titelbild: Melnikov Dmitriy / Shutterstock