Viele von uns, die die 90er-Jahre schon bewusst miterlebt haben – ich auf jeden Fall –, fragen sich seit mindestens anderthalb Jahren, warum in den Diskussionen und politischen Äußerungen westlicher Politiker so viel von „Empörung“ und in letzter Zeit auch „Entsetzen“ über das Vorgehen Israels in Gaza (und dem Westjordanland) die Rede ist, aber fast nie auch nur über die Möglichkeit einer Entsendung von Friedenstruppen, einem internationalen Eingreifen in Gaza oder auch nur von Flugverbotszonen gesprochen wird, um die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die israelische Armee zu beenden. Warum ist das so, und welche völkerrechtlichen Möglichkeiten gibt es? Ein Artikel von Maike Gosch.
Natürlich liegt die Antwort darauf, warum dieser komplette Bereich in der Diskussion weitgehend ausgespart wurde, auf der Hand: Israel ist ein „Verbündeter“, und diese Maßnahmen wurden seit Bestehen der Vereinten Nationen (UNO) von westlichen Staaten nur gegen Nicht-Verbündete angewandt.
Dennoch ist es allerhöchste Zeit – wenn nicht längst zu spät –, diese Möglichkeiten, die das internationale Recht vorsieht, wieder in die Diskussion zu bringen.
Gucken wir uns einmal gemeinsam an, was die durch das internationale Recht vorgegebenen Bedingungen für ein solches Eingreifen sind und ob es irgendeine realistische Aussicht dafür gibt, dass es zu einem solchen kommen wird.
Die völkerrechtlichen Grundlagen
Kapitel VII der UNO-Charta trägt den Titel „Maßnahmen bei Friedensbedrohungen, Friedensbrüchen und Angriffshandlungen“ und gewährt dem Sicherheitsrat die Befugnis, Durchsetzungsmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zu ergreifen.
Die Resolution „Uniting for Peace“ (sich für den Frieden vereinen) von 1950 sieht einen Mechanismus vor, der es der Generalversammlung ermöglicht, zu handeln, wenn der Sicherheitsrat aufgrund des Vetos eines ständigen Mitglieds dazu nicht in der Lage ist. So kann die Generalversammlung eine Sondersitzung einberufen, um kollektive Maßnahmen zu empfehlen.
Kapitel VII: Maßnahmen bei Friedensbedrohungen, Friedensbrüchen und Angriffshandlungen
Dieses Kapitel ermächtigt den UN-Sicherheitsrat, das Vorliegen von Friedensbedrohungen, Friedensbrüchen oder Angriffshandlungen festzustellen. Es umreißt eine Reihe von Maßnahmen, die der Rat ergreifen kann, darunter vorläufige Maßnahmen, nichtmilitärische Sanktionen und als letztes Mittel militärische Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens.
Die Fähigkeit des Sicherheitsrats, gemäß Kapitel VII zu handeln, ist ein Eckpfeiler des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen, kann jedoch durch das Vetorecht seiner ständigen Mitglieder behindert werden. Allein zwischen dem Oktober 2023 und Juni 2025 hat die USA im Sicherheitsrat fünfmal durch ein Veto eine Resolution für eine Waffenruhe in Gaza verhindert.
Die Resolution „Uniting for Peace” (Resolution 377(V) der Generalversammlung)
Die erste „Uniting for Peace“-Resolution wurde 1950 während des Kalten Krieges verabschiedet und war eine Reaktion auf die Lähmung des Sicherheitsrats aufgrund der häufigen Ausübung des Vetorechts durch ständige Mitglieder.
Sie ermöglicht es der Generalversammlung, in einer Dringlichkeitssitzung zusammenzukommen, um kollektive Maßnahmen zu empfehlen, wenn der Sicherheitsrat seiner vorrangigen Verantwortung für die Wahrung von Frieden und Sicherheit nicht nachkommt. Die Resolution wurde zur Bewältigung von Situationen wie der Suez-Krise 1956 herangezogen und gilt als bedeutender Erfolg, da sie der Generalversammlung eine stärkere Rolle bei der Wahrung des Friedens einräumt, wenn der Sicherheitsrat sich in einer Pattsituation befindet.
„Uniting for Gaza“-Versuch 2024
Dies geschah dann auch am 18. September 2024. Die Generalversammlung trat zu einer Sondersitzung zu Gaza zusammen und bat auf der Basis des „Uniting for Peace“-Prinzips den Internationalen Gerichtshof (IGH), über die Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung und die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen zu entscheiden. Die Entscheidung fiel deutlich aus, mit 124 Ja-Stimmen, 14 Nein-Stimmen und 43 Enthaltungen. Auslöser für die neue Resolution war das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 19. Juli 2024, wonach die israelische Besatzung rechtswidrig ist und „so schnell wie möglich“ beendet werden muss, spätestens bis September 2025. Ein Jahr später hat Israel es bisher „versäumt“, irgendeine der Forderungen der 124 Staaten zu erfüllen. Im Gegenteil, es hat seinen Völkermord ausgeweitet und eine massive Hungersnot willentlich herbeigeführt.
Ein neuer Versuch
Am 9. September steht die nächste Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York an. Viele renommierte Experten wie die US-amerikanische Politikerin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin der Green Party, Jill Stein, der US-amerikanische Militärexperte und ehemalige Stabschef von Colin Powell, Col. Lawrence Wilkerson, der Menschenrechtsanwalt und ehemalige Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte, Craig Mokhiber, der Direktor des Zentrums für Vereinte-Nationen-Studien an der Universität Buckingham, Mark Seddon und die Juristin und UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas, Francesca Albanese machen sich nun für eine weitere „Uniting for Peace“-Resolution gegen Israel stark, die diesmal die Entsendung von internationalen Schutztruppen, also ein militärisches Eingreifen zum Inhalt haben soll.
Der entscheidende Brief an den Sicherheitsrat
Ist das rechtlich möglich, obwohl die Generalversammlung nur Empfehlungen aussprechen kann, die völkerrechtlich keine Wirkung entfalten? Ein wichtiger, oft vergessener Punkt ist hier, dass völkerrechtlich Gaza weiterhin als ein besetztes Gebiet nach internationalem humanitären Recht (IV. Genfer Abkommen) gilt, auch wenn Israel 2005 den „vollständigen Rückzug“ erklärt hat; und dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) bzw. die von der UN anerkannte Vertretung Palästinas, die Palestine Liberation Organization (PLO) rechtlich der legitime Vertreter ist, um über einen Einsatz auf dem souveränen Gebiet des Gazastreifens zu entscheiden. Klassische UN-Friedensmissionen setzen die Zustimmung aller beteiligten Konfliktparteien voraus. Wenn der palästinensische Vertreter die Entsendung von internationalen Schutztruppen ausdrücklich anfordert und genehmigt, wäre die rechtliche Hürde der Einwilligung erfüllt.
Am 22. August 2025 hat die Vertretung Palästinas in der UN in einem Brief an den Sicherheitsrat eine solche internationale Intervention und die Entsendung von Schutztruppen gefordert, um den Völkermord zu beenden und die Palästinenser zu schützen.
Eine solche Konstituierung und Entsendung von internationalen Schutztruppen wäre also wahrscheinlich rein völkerrechtlich möglich.
Ein militärisches Szenario
Der US-amerikanische Militärexperte Col. Wilkerson schilderte in einem Interview mit Nima R. Alkhorshid vor Kurzem ein mögliches Szenario, was dann folgen könnte:
„Wir schätzen, dass wir dafür 40 bis 50.000 Soldaten benötigen. Und wir würden China bitten, die Führungsrolle zu übernehmen und den größten Truppenbeitrag zu leisten. Andere Länder könnten sich nach Bedarf beteiligen. Zum Beispiel könnten türkische, indische oder pakistanische Truppen zum Einsatz kommen. Wir hatten 1991 und 1992 einige gute indische und türkische Truppen in Somalia. Das würde dem Vorgehen in Gaza sofort einen Riegel vorschieben. Setzen Sie diese Truppen mit Einsatzregeln ein, die besagen, dass Sie die IDF auffordern können, Ihnen aus dem Weg zu gehen, und wenn sie Ihnen nicht aus dem Weg gehen, können Sie schießen, Sie können Ihre Waffen einsetzen. Nun, ich denke, wenn man eine solche Truppe plötzlich in Gaza stationiert, würde es entweder zu einer Konfrontation kommen, die für Israel sehr negativ, wenn nicht sogar völlig negativ ausgehen würde, oder es käme zu einer Waffenruhe. Es würde sofort ein Waffenstillstand durchgesetzt werden, denn ich glaube nicht, dass Netanjahu so dumm ist, es mit einer Truppe aufzunehmen, der vielleicht 30 oder 40.000 Chinesen angehören.“
Allerdings fügte Wilkerson dann selbst hinzu:
„Gibt es nun eine reale Chance, dass wir dies erreichen? Wahrscheinlich nicht. Ich würde die Chance auf 1 zu 50 schätzen, denn erstens wird Abbas [Anm. NDS: Mahmoud Abbas, der Präsident des Staates Palästina] große Angst davor haben, dies zu tun. Und zweitens werden der UN-Generalsekretär und der UN-Sicherheitsrat, zumindest die Vereinigten Staaten, ebenso wie andere Mitglieder wie Frankreich und Großbritannien, sehr entschieden dagegen sein. Aber ich denke, es würde ein Signal senden, das die Vereinten Nationen, Washington, Brüssel und Europa im Allgemeinen so sehr beschämen würde, dass wir etwas Positives daraus ziehen könnten, selbst wenn die Truppen nicht eingesetzt würden. Aber ich würde gerne sehen, dass die Truppen eingesetzt werden, und ich würde gerne sehen, dass China dies tut. Und Nima, ich würde gerne noch eine weitere Maßnahme sehen. Ich würde mir wünschen, dass auf der nächsten SOZ-Konferenz [Shanghaier Konferenz für Zusammenarbeit] ein starker Vorschlag gemacht wird, das Hauptquartier der Vereinten Nationen von New York nach Shanghai zu verlegen. Es ist an der Zeit.“
Keine Visa für Palästina
Der Forderung einer Verlegung des Hauptquartiers der Vereinten Nationen von New York nach Shanghai hat ein aktuelles Ereignis zusätzliche Relevanz verschafft: Vor einigen Tagen hat US-Außenminister Marco Rubio die Visa des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas sowie von 80 weiteren palästinensischen Beamten im Vorfeld der jährlichen Sitzung der UN-Generalversammlung am 9. September widerrufen, was verhindert, dass sie an dem Treffen teilnehmen können. Dies ist ein Schritt, der wie so vieles in den heutigen Zeiten gegen das Völkerrecht verstößt. Die Begründung ist geradezu skurril. Rubio wirft den palästinensischen Vertretern vor, die Friedensbemühungen im Nahen Osten zu untergraben, indem sie unter anderem die einseitige Anerkennung ihres palästinensischen Staates anstreben würden.
Als die Vereinten Nationen 1947 gegründet wurden und ihren Sitz in New York erhielten, wurde vereinbart, dass die Einwanderungspolitik der USA keine Auswirkungen auf Personen haben dürfte, die aus offiziellen Gründen zur UN in New York reisen wollen.
Wer solche Unterstützer hat, braucht keine Feinde
Außerdem gibt es eine Initiative Saudi-Arabiens und Frankreichs, die quasi ein alternatives Vorgehen in dieser Frage einzuleiten versucht. Der französische Präsident Macron hat angekündigt, in der nächsten Sitzung der Generalversammlung als erster europäischer Staat die formelle Anerkennung Palästinas zu erklären. Dieser Initiative hat sich auch Belgien angeschlossen. Auch Keir Starmer hat angekündigt, dass Großbritannien Palästina anerkennen würde, sollte Israel sich nicht auf einen Waffenstillstand einlassen.
Diese Initiative und diese Erklärungen werden aber von vielen Kommentatoren, wie zum Beispiel von Soumaya Ghannoushi von Middle East Eye, als Taktik angesehen, ein wirklich wirksames Vorgehen gegen Israel zu verhindern. Sie bezeichnet die Initiative als diplomatisches Theater:
„Frankreichs Macron und Großbritanniens Starmer präsentieren symbolische Gesten als Durchbrüche – doch was angeboten wird, ist laut Ghannoushi kein souveräner Staat, sondern eine Hülle unter Besatzung: keine Grenzen, keine Armee, keine Kontrolle über Ressourcen.
Angesichts des anhaltenden Krieges Israels gegen Gaza und der Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland, so fährt sie fort, seien diese Erklärungen als Ablenkung vom tatsächlichen Druck auf Israel zu verstehen – wobei die Anerkennung nicht als Recht, sondern als Druckmittel angeboten werde.
„Ein Staat, der die Erlaubnis seines Unterdrückers braucht, um zu existieren, ist kein Staat“, schreibt Ghannoushi. „Es ist eine diplomatische Illusion, die über Massengräbern verkauft wird.“
Sie warnt davor, dass jedes Mal, wenn sich die Palästinenser erheben, der „Friedensprozess“ wiederbelebt wird – nicht um Gerechtigkeit zu erreichen, sondern um sie zu begraben.“
Es bleibt also spannend. Wir werden sehen, was am 9. September 2025 in New York passieren wird.
Wir sind die UNO
Wenn aber auch dieses letzte Mittel nicht ergriffen wird, muss man wohl konstatieren, wie es eine Teilnehmerin an der Global Sumud Flotilla formulierte: Das internationale Recht ist tot. Wir, die Bevölkerungen der Welt, müssen die „vereinten Nationen“ sein, um Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen.
Titelbild: Anas-Mohammed