Wer wird für die Palästinenser sprechen?

Wer wird für die Palästinenser sprechen?

Wer wird für die Palästinenser sprechen?

Ein Artikel von Vijay Prashad

Die palästinensische Politik ist durch jahrzehntelange Besatzung und Israels gezielte Tötung und Inhaftierung populärer Führungspersönlichkeiten geschwächt worden. Israel, die USA und die Golfstaaten sind nun sehr zufrieden damit, ohne palästinensische Vertretung über den Wiederaufbau des Gazastreifens zu sprechen. Politische Anführer wie Marwan Barghouti und Ahmad Sa’adat müssen freigelassen werden, ihre Organisationen müssen offen über die Zukunft Palästinas beraten und diese Ansichten am Verhandlungstisch vertreten können. Alles andere ist lediglich die Fortsetzung des Völkermords mit anderen Mitteln. Von Vijay Prashad.

Nach und nach wird das ganze Ausmaß der Zerstörung Gazas durch Israel deutlich.

Das Palästinensische Zentralamt für Statistik (PCBS) veröffentlichte etwa zur Zeit des Waffenstillstands einen Bericht, in dem die Zahlen vorgelegt wurden: Die Bombardierung Gazas durch Israel führte zur vollständigen Zerstörung von 190.115 Gebäuden und zur nahezu vollständigen Zerstörung von weiteren 330.500 Wohneinheiten. Die anhaltenden Artillerie- und Luftangriffe während der 734 Tage des Völkermords führten zur Zerstörung von 85 Prozent des Wasser- und Abwassersystems in Gaza.

Zum Zeitpunkt des Waffenstillstands war in Gaza-Stadt nur noch eine einzige medizinische Einrichtung in Betrieb, 94 Prozent der Krankenhäuser und Kliniken waren zerstört oder schwer beschädigt. Gemäß dem PCBS ist Gaza derzeit praktisch nicht mehr bewohnbar.

Es ist unmöglich, das volle Ausmaß der physischen und psychischen Schäden zu erfassen, die dem palästinensischen Volk in Gaza zugefügt wurden: Das Gesundheitsministerium verfügt nicht über ausreichende Zahlen zu den Toten und Verletzten, und das Trauma wird erst im Laufe der Jahre bekannt werden – sofern Spezialisten tatsächlich in die Region zurückkehren können.

Die Vereinten Nationen berichten, dass ihr gesamter Kinderschutzmechanismus in Gaza „fast zusammengebrochen“ ist. Und die UNO stellt fest, dass jedes fünfte Baby in Gaza zu früh oder untergewichtig geboren wird und dass im Juni 2025 11.000 schwangere Frauen mit Bedingungen einer Hungersnot konfrontiert waren, während 17.000 weitere ohne nennenswerte Hilfe mit akuter Unterernährung zu kämpfen hatten.

Die Kosten des Wiederaufbaus

Der Wiederaufbau des Lebens der Überlebenden des Völkermords ist eine Aufgabe, deren Ausmaß noch nicht vollständig verstanden worden ist.

Gaza ist spätestens seit dem Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen 2006 von Israel unter Beschuss genommen worden. Den punktuellen Angriffen Israels auf die palästinensische Bevölkerung und Infrastruktur in Gaza – etwa in den Jahren 2009 und 2014 – folgten umfangreiche Wiederaufbaumaßnahmen, die größtenteils von den Golfstaaten (angeführt von Katar) und der Europäischen Union finanziert wurden. 2014 sagten die Geber auf der Kairoer Konferenz zum Wiederaufbau Gazas 5,4 Milliarden US-Dollar zu, gaben aber nur 2,6 Milliarden US-Dollar aus, was zum Teil auf die Unnachgiebigkeit Israels in Bezug auf den Wiederaufbaumechanismus für Gaza zurückzuführen war.

Im Februar 2025 veröffentlichten die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die Weltbank eine vorläufige Bewertung der Schäden und Bedürfnisse, in der geschätzt wurde, dass für den Wiederaufbau und die Wiederherstellung über einen Zeitraum von zehn Jahren 53,2 Milliarden US-Dollar benötigt würden und dass in den nächsten drei Jahren 20 Milliarden US-Dollar erforderlich wären, um die Infrastruktur wiederaufzubauen, grundlegende Dienstleistungen wiederherzustellen und die zerstörte Wirtschaft wieder anzukurbeln. Ein ägyptischer Plan kam zu derselben Schätzung von 53 Milliarden US-Dollar, die jedoch über einen Zeitraum von fünf Jahren ausgegeben werden sollten.

Alle Augen sind auf die Golfstaaten gerichtet, die die Rechnung bezahlen sollen, aber das ist nichts, worauf sich die Palästinenser verlassen können.

In der ganzen Debatte gibt es keine Stimme, die sagt, dass Israel für den Wiederaufbau zahlen muss, da es Israel war, das den Gazastreifen zerstört hat.

Politizid“ an den Palästinensern

Einer der Gründe, warum es keine so klare Stimme gibt, die Reparationen von Israel fordert, ist, dass die palästinensische Politik selbst durch die jahrzehntelange Besatzung und durch Israels Politik der gezielten Tötung und Inhaftierung populärer palästinensischer Führungspersönlichkeiten geschwächt wurde.

So befinden sich beispielsweise die populärsten Anführer der fünf großen Fraktionen seit über zwei Jahrzehnten im Gefängnis: Marwan Barghouti, der mit Abstand beliebteste palästinensische Anführer und eine der Schlüsselfiguren der Fatah und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), ist seit 23 Jahren und sechs Monaten politischer Gefangener. Ahmad Sa’adat, der Anführer der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), ist seit 23 Jahren und acht Monaten politischer Gefangener.

Anführer der Hamas und des Islamischen Dschihad wurden entweder ins Exil geschickt oder regelmäßig in Gaza getötet. So wurde der Gründer der Hamas, Scheich Ahmed Yassin, im März 2004 durch einen israelischen Angriff in Gaza getötet, gefolgt von Abdel Aziz al-Rantisi im April 2004 und einer Welle von Attentaten in den letzten Jahren – darunter auf Saleh al-Arouri, Muhammad Ismail Darwish, Osama Mazini, Ismail Haniyeh und Yahya Sinwar.

Durch Inhaftierungen und Bombenangriffe wurde fast die gesamte Führungsstruktur der wichtigsten palästinensischen politischen Parteien dezimiert.

Die 14 palästinensischen Führungspersönlichkeiten, die 2024 nach Peking kamen, um ein gemeinsames Abkommen zu unterzeichnen, vertraten zwar ihre Organisationen, aber sie waren nicht die bekanntesten oder populärsten Persönlichkeiten (etwa Mahmoud al-Aloul von der Fatah, der als Nachfolger von Mahmoud Abbas gehandelt wird, Musa Abu Marzouk, der oft als Außenminister der Hamas angesehen wird, oder Jamil Mazhar von der PFLP).

Die Bedeutung der 14-Parteien-Gespräche wäre bedeutend größer gewesen, wenn Marwan Barghouti und Ahmad Sa’adat mit am Tisch gesessen hätten. Aber Israel will sie nicht freilassen, auch wenn die Palästinenser sie weiterhin ganz oben auf ihre Liste für einen Gefangenenaustausch setzen.

Israel weiß, dass es Palästina stärker von der kompromittierten Präsidentschaft von Mahmoud Abbas, den Golfstaaten und den rückgratlosen arabischen Nachbarn (wie Ägypten und Jordanien) abhängig machen kann, wenn es weiterhin die palästinensische politische Führung enthauptet.

Niemand wird direkt für die Palästinenser oder für die Notwendigkeit sprechen, die Besatzung zu beenden; sie werden nur auf mildeste Art und Weise über den Wiederaufbau für die Flüchtlinge und über Sicherheitsgarantien für die Israelis sprechen, damit diese ihre Besatzung fortsetzen können.

Wer wird für die Palästinenser sprechen?

Man kann Yasser Arafat, den Anführer der PLO, nicht nur aufgrund seiner Aufgabe der palästinensischen Position bei den Osloer Verträgen 1994 beurteilen. So kann man seine Rolle nicht richtig verstehen, die er sich 30 Jahre zuvor, 1964 in Kuwait, mit der Gründung der PLO gesichert hatte.

Von diesem Zeitpunkt an bis Ende der 1980er-Jahre war Arafat als das sichtbare Gesicht der palästinensischen Sache hoch angesehen, und unabhängig von den Differenzen zwischen den verschiedenen Fraktionen sprach er als unangefochtener Sprecher für das palästinensische Volk.

Seit Oslo, seit der Delegitimierung Arafats, wurde keiner solchen politischen Persönlichkeit mehr gestattet, die palästinensische Position in Verhandlungen oder Dialogen zu vertreten.

Die israelische Politik der Inhaftierung und Ermordung palästinensischer Anführer und ihre Politik der Dämonisierung palästinensischer politischer Organisationen (indem sie beispielsweise alle als Terroristen eingestuft werden) hat dazu geführt, dass keine Persönlichkeit anstelle von Arafat als Stimme des palästinensischen Volkes auftreten konnte.

Das hat bedeutet, dass andere für Palästina sprechen und oft die palästinensische Position falsch darstellen, weil diese Position ohne regelmäßige Treffen der Fraktionen und ohne die Anwesenheit ihrer wichtigsten politischen Anführer am Verhandlungstisch nicht demokratisch erreicht werden kann.

Israel weiß das sehr gut, weshalb es entweder politische Gefangene jahrzehntelang (rechtswidrig) festhält, ohne ihnen Zugang zu Medien oder ihren Mitstreitern zu gewähren, oder alle Führungskräfte, selbst solche der mittleren Ebene, ermordet, die das Potenzial haben, sich als Sprecher für die palästinensische Sache zu profilieren (wie Abu Ali Mustafa von der PFLP im Jahr 2001 und Salah Shehade von der Hamas im Jahr 2002).

Seit Jahrzehnten beklagen sich die Israelis, dass es auf palästinensischer Seite keinen „Partner für den Frieden“ gibt. Aber wie kann es einen „Partner für den Frieden“ geben, wenn die Israelis systematisch palästinensische politische Anführer ermorden oder sie unter schrecklichen Bedingungen in israelischen Gefängnissen festhalten?

Zu behaupten, dass jede einzelne palästinensische Fraktion eine terroristische Organisation sei, was die Israelis mit voller Unterstützung der USA getan haben, bedeutet, jegliche palästinensische Politik zu delegitimieren.

So sind die Israelis und die USA sowie die Golfstaaten sehr zufrieden damit, ohne jegliche palästinensische Vertretung am Verhandlungstisch über den Wiederaufbau des Gazastreifens zu sprechen. Selbst der ägyptische Plan, der die Notwendigkeit einer palästinensischen Beteiligung vorschlägt, begnügt sich damit, von der Notwendigkeit zu sprechen, dass „palästinensische Fachleute” am Verhandlungstisch sitzen sollten und nicht die aktuellen politischen Organisationen, die die Interessen des palästinensischen Volkes vertreten.

Der systematische Versuch, die palästinensische Politik zu zerstören, führt zu einer Situation, in der Israel bestimmen kann, wann es Palästinenser bombardiert und wie es ihre Häuser mit dem Geld der Golfstaaten wiederaufbaut. Es ist zum Vorteil Israels, zu verhindern, dass eine palästinensische Vertretung aufgebaut wird und am Verhandlungstisch sitzt.

Barghouti und Sa’adat freilassen!

Aber tatsächlich vereitelt die anhaltende Widerstandsfähigkeit der palästinensischen Fraktionen die Ambitionen Israels. Die politischen Organisationen sind nach wie vor lebendig und aktiv und werden eine Rolle beim Wiederaufbau des Gazastreifens sowie bei allen Gesprächen über Palästina einfordern.

Für die US-Regierung ist es ein Leichtes, einseitig zu bestimmen, wen sie als terroristische Organisation einstuft, ebenso wie für Israel (und die Europäische Union).

Aber die Vereinten Nationen haben noch nie eine palästinensische Gruppe auf ihre Sanktionsliste gesetzt und keine dieser Gruppen als terroristische Organisation eingestuft. Trotz der beschränkten Sichtweise des Westens, dass die Hamas oder die PFLP terroristische Organisationen sind, ist dies nicht die Meinung des größten Teils der Welt. Sie werden als politische Gruppen angesehen, und zwar als nationale Befreiungsorganisationen, die für die Befreiung Palästinas von Apartheid, Besatzung und nun vom Völkermord kämpfen.

Aufgrund der überragenden Rolle der USA und der Europäischen Union auf der Seite Israels sind die palästinensischen Organisationen nicht an den Diskussionen über die Zukunft Palästinas beteiligt. Das bedeutet in der Tat, dass Palästina bei den Gesprächen über seine eigene Zukunft abwesend ist.

Eine Möglichkeit, diese Gleichung zu ändern, besteht darin, dass die politischen Anführer (wie Marwan Barghouti und Ahmad Sa’adat) freigelassen werden, ihre Organisationen offen über die Zukunft Palästinas beraten und sie diese Ansichten am Verhandlungstisch vertreten können.

Alles andere ist lediglich die Fortsetzung des Völkermords mit anderen Mitteln.

Der Beitrag erschien im Original auf Peoples Dispatch. Übersetzung: Marta Andujo.

Über den Autor: Vijay Prashad ist ein indischer Historiker, Autor und Journalist und Mitarbeiter des Tricontinental: Institute for Social Research.

Quelle: Wikimedia Commons