Einen schlimmeren Rechtsruck als das rücksichtslose Durchboxen von TTIP, die Agenda 2010 und Kriegseinsätze gibt es nicht

Albrecht Müller
Ein Artikel von:
Albrecht Müller

Die AfD treibt nur auf die Spitze, was die etablierten Parteien vorgemacht und vorbereitet haben. Beim Umgang mit TTIP wird sichtbar, dass CDU/CSU, SPD und Grüne auf die Demokratie pfeifen; die Agenda 2010 war der Abschied vom Konzept der Sozialstaatlichkeit; die Kriegseinsätze und die Beteiligung der Bundeswehr bei Kriegseinsätzen außerhalb des NATO-Bereichs beginnend 1999 mit dem Jugoslawien Krieg und die Forcierung des West-Ost-Konfliktes sowie die Abkehr vom Konzept der Entspannungspolitik sind massive Bewegungen nach rechts. Der Boden für die wirklich schlimme AfD ist bestens vorbereitet worden. Die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin ist nur das Tüpfelchen auf dem i. – Korrekturen sind in allen Bereichen nötig. Albrecht Müller.

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Jens Berger hat auf den NachDenkSeiten am 27. April einen Beitrag zum Disput über den Rechtsruck geleistet. („Europas Rechtsruck, die Flüchtlingskrise und die politische Linke … Zeit für eine unaufgeregte Debatte“) Das war verdienstvoll, bedarf aber einiger Ergänzungen:

TTIP und der Umgang damit ruiniert das Ansehen der Demokratie. Demokratie gehört zur Kernsubstanz fortschrittlichen Denkens

  1. Das Freihandelsabkommen, das jetzt auf Druck der USA mit aller Macht durchgeboxt werden soll, ist ein Vertragswerk zugunsten der Wirtschaft und dabei insbesondere jener der USA. Es wird unter Umständen betrieben, die mit demokratischer Willensbildung nichts aber auch gar nichts zu tun haben: unsere Abgeordneten, die darüber letztlich entscheiden sollen, werden nicht informiert, sie müssen sich unter unwürdigen Verhältnissen in ausgelagerten und speziell eingerichteten Räumen informieren. Das alleine ist schon ein solcher Skandal, dass all den etablierten Politikern von Merkel bis Gabriel, die dieses Verfahren abgesegnet haben, die Schamröte ins Gesicht steigen müsste. Ist das parlamentarische Demokratie? Ist das Demokratie? Die Gegner der Demokratie brauchen doch nur auf dieses Verfahren hinzuweisen, um dieses System der Lächerlichkeit preiszugeben.

    Dieser Umgang mit einem wichtigen Gesetzesvorhaben liegt auf der Linie dessen, was wir vorher schon von unseren politischen Oberen gehört haben: Merkels Spruch von der marktkonformen Demokratie hat verhöhnenden Charakter; die berühmte Klage des früheren SPD-Vorsitzenden und Ministers Müntefering über die Wähler, die nach einer Wahl auch noch verlangen, dass das Versprochene umgesetzt wird, war ähnlich verhöhnend.

    Und jetzt also soll ein Vertragswerk durchgesetzt werden, das nicht nur den Wählerinnen und Wählern nicht zur Abstimmung vorlag, als sie 2013 ihre Abgeordneten wählten; es soll jetzt auch an den gewählten Abgeordneten vorbeigeschleust werden. Daraus spricht Verachtung für die Demokratie. Und das ist ausgesprochen rechtsradikal.

Der Rechtsruck und spiegelbildlich der Niedergang fortschrittlicher Parteien findet schon seit längerem statt – und er fand und findet im Inneren der Parteien statt

  1. Zunächst: es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, jedenfalls nicht erhellend, wenn man von der „Linken“ spricht. Wer ist gemeint? Die SPD? Die Linkspartei? Die Grünen? Alle fortschrittlichen Menschen und Verbände?
  2. Wenn man zum Beispiel die SPD damit meint, dann muss man ja wohl feststellen, dass der Rechtsruck gleich in mehrerer Hinsicht schon früher stattgefunden hat: zum einen hat die SPD schon im Jahre 2009 mit 23 % bei der Bundestagswahl ein miserables Ergebnis erreicht; diese Linke war damals schon halbiert, gemessen am besten Ergebnis mit 45,8 %.
  3. Wenn man auf die SPD und auf die Grünen schaut, dann sieht man ohne Schwierigkeiten, dass diese den Rechtsruck im Innern schon lange vor dem Flüchtlingsproblem vollzogen haben. Und mit großer Wirkung für die Gesellschaft: 1999 haben sie zugelassen und dabei mitgewirkt, die Bundeswehr außerhalb des NATO-Bereichs zu Militäreinsätzen einzusetzen. Einen gravierenderen Rechtsruck gibt es eigentlich nicht.

    Der entscheidende Rechtsruck fand so in den neunziger Jahren statt: das Ende der Bereitschaft, wirklichen Frieden in Europa zu schließen, der Beginn der Fortführung der Konfrontation mit dem Osten, in diesem Fall Russlands, durch die Regierung Clinton, durch Albright und ihre Ableger in Deutschland, vor allem Joschka Fischer. Seitdem wird der Krieg wieder als Mittel der Politik betrachtet. Gibt es einen eklatanteren Ausdruck für Rechtsruck als dieses? Und dann die praktischen Kriege unserer Verbündeten und unsere offene oder versteckte Beteiligung – im Irak, der Drohnenkrieg, im Jemen, in Afghanistan, in Libyen. Daran wird auch sichtbar, dass die Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt und zum Einsatz von Mord und Totschlag Teil der Politik dieses Westens ist und Teil der etablierten Parteien. Ist das, was die AFD vertritt, noch schlimmer? Schlimm ist es. Aber schlimmer?

Die Agenda 2010 – ein massiver Rechtsruck

  1. Die etablierten Parteien haben dann wenige Jahre später, im März 2003, die Agenda 2010 verabschiedet, ein massiver Rechtsruck. Sie haben schon 2002 unsere Altersvorsorge teilprivatisiert. Und Schröder hat sich des Aufbaus des besten Niedriglohnsektors gerühmt. Das haben Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen oder ohne Arbeit wahrgenommen. Auf diesen Rechtsruck in der aktuellen Politik haben manche mit ihrem persönlichen Rechtsruck geantwortet, sie sind in die innere Emigration gegangen, haben sich nicht mehr an Politik beteiligt. Sie haben das übrigens auch deshalb getan, weil ihnen die SPD zum Beispiel keine Alternative bot.
  2. Übrigens ist die Gesellschaft durch die rechten Ideologen um Herrn Otto Graf Lambsdorff und dann um die Regierung Kohl schon 1982 nach rechts verschoben worden. Das wurde nur überlagert durch die Propaganda der Union und ihrer Helfer, die behaupteten, die Union sei „sozialdemokratisiert“ worden. Tatsächlich wurde Sozialstaatlichkeit abgebaut, zum Beispiel wurde das gleiche Kindergeld für alle Kinder wieder abgeschafft und durch Kindersteuerfreibeträge, die den besser Verdienenden mehr Entlastung pro Kind bringen, ersetzt. Das hat übrigens der sogenannte linke Dr. Geißler als Familienminister zu verantworten. Und dann wurden öffentliche Einrichtungen und Unternehmen privatisiert. Am laufenden Band. Das war keine linke Programmatik.

Die konservativen Parteien und die Liberalen in Europa sind wie mit kommunizierenden Röhren mit den eigentlichen Rechtsparteien verbunden.

  1. Sie frönen dem Neoliberalismus. Sie attackieren die Sozialstaatlichkeit. Der verstorbene Westerwelle hat als FDP-Vorsitzender über die Hartz IV Empfänger gespottet, wie man sich das bei Frau Petry kaum gekonnter vorstellen kann. Sie glauben, jeder sei seines Glückes Schmied. Und sie haben sich in der Asyldebatte der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts so gegeben und verhalten wie die AfD heute. So hat sich zum Beispiel die Anti-Asylantenpropaganda der CSU, ihres Ministerpräsidenten Max Streibl und des Bayerischen Rundfunks zu Anfang der Neunzigerjahre nicht von dem unterschieden, was wir heute von der FPÖ oder von manchen in der AfD hören.
  2. Den Rechtsruck in Europa gibt es schon lange: Blair hat Labour in den neunziger Jahren nach rechts verschoben, bis zur Nicht-mehr-Wiedererkennung: New Labour nannte man das. Das war der Vorlauf zu Schröder sozusagen. Und dann hat er erst die Macht in Großbritannien gewonnen und dann verloren. Und ähnlich ging es in vielen anderen Ländern Europas: in Dänemark, in Schweden, in Norwegen, in Frankreich, in Italien und Portugal. Berlusconi ist das herausragende Symbol für den Rechtsruck in Europa. Wo haben eigentlich Sozialdemokraten noch regiert? Rechtsruck ohne Flüchtlingsströme.
  3. Und dann haben sich sogenannte linke Parteien, die Sozialdemokraten und andere linke Parteien Europas so sehr selbst nach rechts geschoben, dass ihre Politik kaum mehr zu unterscheiden war von den Konservativen. Das gilt für den erwähnten Gerhard Schröder wie auch für Frankreich unter Hollande.
  4. Übrigens begann in Deutschland diese Verschiebung zugunsten rechter Positionen schon bei der Ablösung von Brandt durch Schmidt. Damals fing es zumindest an und gegen Ende der Regierung Schmidt wechselte dieser Bundeskanzler Ausgangs der siebziger Jahre ständig von progressiven Positionen zu Positionen, die er selbst gelegentlich vertrat oder unter dem Druck von Graf Lambsdorff, seinem Wirtschaftsminister und dessen Staatssekretär Hans Tietmeyer, übernommen hat. Es sei an dieser Stelle an die Operation 82 erinnert, eine Sparaktion zulasten des Sozialstaats, gegen die sich die IG Metall unter dem Vorsitz von Franz Steinkühler mit großen Demonstrationen aufgelehnt hat.
  5. So muss man als entscheidende Beobachtung für die Bilanz des Rechtsrucks festhalten, dass die linken Parteien, früher die SPD allein, und heute die SPD und die Grünen und einige Elemente der Linkspartei schon gar nicht mehr versuchen, eine politische Alternative zum Neoliberalismus zu formulieren und schon gar nicht versuchen, diese Alternative geistig und weltanschaulich und mit einer Wertorientierung zu unterfüttern. Egoismus und „jeder ist seines Glückes Schmied“ ist auch ihre Ideologie, mit kleinen Variationen. Sie haben schon in den neunziger Jahren und nachdrücklich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ihren Willen zur fortschrittlichen Gestaltung unseres Landes aufgegeben – mit wenigen Ausnahmen, das betraf meist die Homo-Ehe oder etwas ähnliches und die Rechte der Frau. Lauter wichtige Sachen, aber sie sind nicht entscheidend für die Prägung einer linken Alternative. Sie haben den Willen zur Gestaltung unserer Gesellschaft im fortschrittlichen Sinne aufgegeben.

Der Kampf gegen die Beteiligung linker Kräfte an der Macht ist weltweit angelegt und wird weltweit geführt

  1. Man kann heute einen Text über das Verschwinden und die Strategie der Linken nicht schreiben, ohne wahrzunehmen, was weltweit abgeht: alles, was wirklich fortschrittlich ist, wird Gegenstand von Intervention zum Regime Change: in Brasilien, in Venezuela, in Kuba, wenn auch getarnt als Freundlichkeit. Alles Linke wird bekämpft, so in den USA und in Großbritannien und in Frankreich, und in Spanien. Und Griechenland. Dort hat man die linke Regierung am ausgestreckten Arm verhungern lassen, damit sie keinen Erfolg hat.

Die entscheidende Beobachtung und Erklärung zum Niedergang der Linken und zum Rechtsruck: früher oder später werden alle linken Bewegungen fremdbestimmt

  1. Die Mächtigen in der Welt versuchen, jede linke Bewegung im Keim zu ersticken oder sie so zu beeinflussen, zu verändern und zu prägen, dass von links nichts mehr übrigbleibt. Deshalb gilt: Man kann heute nicht über das Versagen der Linken bzw. der Parteien, die man als links betrachten könnte, schreiben und sprechen, ohne wenigstens wahrzunehmen, dass dieser Versuch der Fremdbestimmung und der Unterwanderung von außen immer wieder gemacht wird. In der SPD gibt es fast keine Führungspersonen mehr, von denen man annehmen kann, sie seien nicht fremdbestimmt und die Linkspartei wird immer in der Gefahr stehen, dass man es bei ihr auch versucht. (Siehe auch: Die fremdbestimmte Linke – Albrecht Müller, Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2003, S. 1162-1165)
  2. Die gängig gewordene politische Korruption ist der Katalysator, das Öl sozusagen im Feuer des Rechtsrucks. Wenn man einen politisch korrupten Politiker aus Luxemburg zum Präsidenten der europäischen Union macht, dann braucht man sich darüber nicht mehr zu wundern. Und wenn man die Altersvorsorge so privatisieren lässt wie bei uns, dann braucht man sich auch nicht darüber zu wundern, dass das Vertrauen in die Demokratie verloren geht.

Das Imperium sorgt für die Fremdbestimmung und sorgt für den Rechtsruck.

  1. Das US-Imperium kümmert sich um die Innereien anderer Völker.

    Die Fremdbestimmung läuft über die Medien. Sie sind das Hilfspersonal des Rechtsrucks.

    Und sie läuft für die Parteien. Sie haben sich schon in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts einer wenigstens ein bisschen anspruchsvolleren programmatischen Debatte entledigt.

  2. Kritische Medien wurden ihres Bisses beraubt. Beste Beispiele sind der Spiegel und der Stern und auch die meisten Magazine in den öffentlich-rechtlichen Sendern.

    In einer großen Gemengelage von Politik, Wirtschaft und Medien haben sich die sogenannten Atlantiker ausgebreitet. Sie bestimmen heute weitgehend die Meinungsbildung bei CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen. Und bei den wichtigsten Medien: von den öffentlich-rechtlichen über die privaten Sender bis zu den großen regionalen Zeitungen und den Presseagenturen.

Die Ohnmacht der Bürgerinnen und Bürger

  1. Angesichts der gewaltigen Macht der bestimmenden Kräfte bleibt den meisten Bürgerinnen und Bürgern eigentlich gar nichts anderes übrig, als sich ohnmächtig zu fühlen. Die Zerstörung der sozialen Sicherheit war ein wichtiger Katalysator des Rechtsrucks, genauso wie auch der Aufbau des Niedriglohnsektors, Leiharbeit, prekäre Arbeitsverhältnisse.

    Die Konsequenz aus der Ohnmacht: Verschwinden des politischen Interesses, Entpolitisierung, Wahlenthaltung. Sie brechen aus, wenn es eine Alternative gibt und manche sehen in der AfD eine Alternative. Deshalb ist die Wahlbeteiligung bei den letzten Wahlen gestiegen. Das ist sozusagen ein Notschrei.

    Das Kernproblem: die linken haben in den letzten Jahrzehnten keine Alternative mehr geboten. Im Gegenteil, bei ihrem ständigen irren Versuch, Mehrheiten dadurch zu gewinnen, dass sie in die Mitte rückten (was das auch immer für Blödsinn bedeutet), sind sie immer weiter nach rechts gerückt.

  2. CDU/CSU, SPD und Grüne haben den Boden für die AfD bereitet.

    Der Name der AfD ist übrigens sehr geschickt gewählt. In der Tat geht es nämlich darum, dass wir eine Alternative zur herrschenden Ideologie und zur herrschenden praktischen Politik gebrauchen. Aber wir brauchen nicht die AfD.

Wir brauchen eine wirkliche fortschrittliche Alternative.

Deren Inhalt und Profil ist leicht zu formulieren: Sozialstaatlichkeit, aktive Beschäftigungspolitik, eine Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik, die die Länder Europas wieder zusammenführt Friedenspolitik und keine militärischen Interventionen, gemeinsame Sicherheit in Europa, auch mit Russland. Kampf gegen die Ursachen der Flüchtlingsbewegung: die Kriege und die Zerstörung der Länder im Nahen und mittleren Osten. Verabschiedung der USA aus Europa und Stärkung der UNO.

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