„Korruption und informelle Kanäle entsprechen der Natur des Systems Putin“ – Die DGAP und ihr Einfluss auf unser Russlandbild

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Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP) wollen die politische Meinungsbildung formen. Ihr Einfluss speist sich vor allem aus der Nutzung und Verbreitung ihrer Materialien durch Journalisten und andere „Multiplikatoren“. Das erhöht die Bedeutung des hier beispielhaft besprochenen Artikels der DGAP, der bekannte anti-russische Standpunkte zu dem Schluss destilliert: EU-Staaten müssen mehr für Rüstung ausgeben – sollen sich dadurch aber nicht militärisch von den USA emanzipieren. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass transatlantische Vorfeldorganisationen in die politische Meinungsbildung in Deutschland eingreifen, wurde auf den NachDenkSeiten bereits beschrieben, etwa hier. Nun hat die Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP) einen Aufsatz namens „Präsident Wladimir Putin verabschiedet sich von der liberalen Weltordnung“ von Stefan Meister veröffentlicht. Der Artikel ist für sich genommen nur ein weiterer Mosaikstein in der anti-russischen Tendenz transatlantischer Kreise in Deutschland, eine weitere Einzelstimme im Chor gegen die Völkerverständigung, die man ignorieren könnte. Da die Impulse der US-orientierten Think-Tanks aber eine breite Wirkung etwa in zahlreiche Redaktionen deutscher Medien hinein entfalten können, lohnt es, den Aufsatz genauer anzusehen – möglicherweise werden sich etliche zukünftige Artikel an dieser „Leitlinie“ orientieren.

Ein Wort zur DGAP: Das US-britische Netzwerk wurde 1955 gegründet – vom US-amerikanischen Council On Foreign Relations, den die NachDenkSeiten unter anderem bereits hier thematisiert haben, und dem britischen Chatham House. Die Zusammensetzung der „Gründungsväter“ auf deutscher Seite spricht für sich: Bankiers (Hermann Josef Abs /Deutsche Bank AG, Robert Pferdmenges/Bankhaus Sal. Oppenheim), Großindustrielle (Hans Goudefroy/ Allianz AG, Richard Merton/Metallgesellschaft, Fritz Berg/Präsident des BDI) und Journalisten wie Ernst Friedlaender, der nicht nur Chefredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ war, sondern auch Mitbegründer der Atlantik-Brücke, sowie zahlreiche hohe Politiker ergaben die bis heute angestrebte Mischung vergleichbarer Organisationen.

Russland beugt das Recht, Deutschland stärkt es?

Interessanter als die von Stefan Meister erneut aufgeschriebenen Argumente gegen eine deutsch-russische Annäherung sind die entgegengestellten „positiven“ Aspekte westlicher Politik. So unterscheide sich Russlands außen- und sicherheitspolitisches Denken „grundsätzlich von der deutschen Politik. Während Deutschland mit der Stärkung kollektiver Sicherheit, internationaler Institutionen und internationalen Rechts einen multilateralen Ansatz verfolgt, gehen russische Eliten vom Recht des Stärkeren in einer multipolaren Welt aus“.

Diese Aussage ist zentral für die aktuelle westliche Vorwärtsverteidigung – man sollte dazu bedenken, dass Russland gegen zahlreiche westliche Angriffskriege („Recht des Stärkeren“) der jüngeren Vergangenheit protestiert hat – Kriege, die Hunderttausende Tote und die Flüchtlingsbewegungen zu verantworten haben. Der „Krieg gegen den Donbass“ fällt nur sehr bedingt in diese Kategorie, da er wegen des vorangegangenen Putsches in Kiew weitgehend als Selbstverteidigung und weniger als Angriffskrieg gewertet werden sollte. Deutschland also angesichts seiner „uneingeschränkten Solidarität“ mit dem „Anti-Terror-Krieg“ der USA – einschließlich der Bereitstellung etwa von Drohnen-Infrastuktur – einen Ansatz zur „Stärkung internationalen Rechts“ zuzuschreiben, ist verwegen. Erst recht nach den von Deutschland unterstützten illegalen US-EU-Raketenangriffen auf Syrien im April. Dennoch wird diese Deutung der Think-Tank-„Experten“ bereits in zahlreichen deutschen Medien wiederholt.

Zerstörte Staaten sind „Albtraum des russischen Präsidenten“

Meister verurteilt die Zerstörung des Iraks und Libyens nicht, denn er beschreibt den „Sturz Saddam Husseins im Irak und von Muammar al-Gaddafi in Libyen durch eine von den USA geführte Koalition“ nicht als Verbrechen, sondern als einen „Albtraum des russischen Präsidenten“. Und: „Solch ein Szenario erneut zu verhindern, ist eine der wichtigsten Aufgaben russischer Politik vor allem seit 2012, als Putin ins Präsidentenamt zurückkehrte“, fährt Meister fort, als sei dieses Vorhaben ein Makel.

Der Westen wird von Verantwortung für die Entfremdung von Russland freigesprochen: Viele Gefahren, die die russischen Eliten wahrnehmen würden, „wie etwa die Bedrohung durch die USA und NATO“, sind laut einem im Text zitierten Politikwissenschaftler „eingebildet oder werden konstruiert“, die “Einkreisung und Schwächung Russlands durch die NATO“ wird als „vermeintlich“ abgetan. Wahres Motiv „für den Konflikt mit dem Westen ist die innere Legitimationskrise des Systems Putin nach der globalen Finanzkrise 2008/09“, so Meister.

„Mit Chaos, Unsicherheit und fehlender Staatlichkeit kann ein System Putin besser umgehen als jeder ‚westliche‘ Staat.“

Putin habe deshalb „kein Interesse, den Konflikt mit den USA, der NATO und EU auf absehbare Zeit zu lösen, im Gegenteil, er schürt diesen bis zu einer bestimmten Eskalationsschwelle“. Diese Taktik und generell die aktuelle geopolitische Tendenz hin zu einer multipolaren Weltordnung spiele dem „Sytem Putin“ in die Karten, so Meister: „Mit Chaos, Unsicherheit und fehlender Staatlichkeit kann ein System Putin besser umgehen als jeder ‚westliche‘ Staat. Korruption und informelle Kanäle entsprechen der Natur des Systems Putin.“

Der Schuldige für die Ost-West-Konfrontation wird hier eindeutig ausgemacht. Gleichzeitig lastet Stefan Meister als Vertreter der geopolitischen Strömung, die in Afghanistan, Libyen, Syrien, im Yemen und im Irak die beschriebenen Symptome „Chaos, Unsicherheit und fehlende Staatlichkeit“ verbreitet haben, Russland eine Sehnsucht nach „Chaos“ an.

Dieser Artikel fordert im Übrigen keine Kritiklosigkeit gegenüber Russland – sehr wohl aber ein Ende der medialen Ungleichbehandlung und der kampagnenhaften Darstellung des Landes.

Der Mythos von der hybriden „Gerassimow-Doktrin“: russische Medien werden dämonisiert

Die im Westen betriebene Dramatisierung und Dämonisierung der Arbeit russischer Auslandsmedien wird von Meister mit seinem Ausdruck „Zersetzungspolitik“ fortgeführt: Aus einer eher defensiven Politik gegen NGOs sei „eine offensive Politik geworden, mit Desinformation, GONGOS (staatliche „Nichtregierungs-Organisationen“) im Ausland und aggressiven Auslandsmedien wie RT und der Medienplattform Sputnik“. Dann stützt Meister erneut die von einem anderen transatlantischen Think-Tank verbreitete Fehlinformation, es gebe eine offizielle „hybride“ russische Militärdoktrin: „Diese Informations- und Zersetzungspolitik ist Teil der russischen Sicherheitspolitik und erfolgt in Abstimmung mit Militär und Geheimdiensten.“ Dabei räumt selbst der Erfinder des Begriffs „Gerassimow-Doktrin“ in diesem stramm anti-russischen Artikel ein, dass der vielzitierte General Gerassimow über vom Westens praktizierte hybride Taktiken der Destabilisierung gesprochen hat, nicht über solche Pläne Russlands.

Meister schreibt auch Zutreffendes:

„Die innere US-Debatte zu Russlands Einmischung in den Präsidentschaftswahlkampf wird mit Befremden gesehen, da man zwar stolz auf die Zuschreibung dieser Fähigkeiten ist, aber selbst realistisch einschätzen kann, wie begrenzt die Wirkung der Aktivitäten tatsächlich war.“ Und: „Die Störmanöver des Kongresses mit Blick auf die Russlandpolitik, die Polarisierung der inneren Debatte in den USA zu Russland und der fehlende direkte Draht Putins in das Weiße Haus werden in der russischen Führung kritisch gesehen.“

Man weiß jedoch nicht, ob Meister dies auch kritisch sieht.

Das Fazit des Textes: Mehr Rüstung – ohne Überwindung der US-Abhängigkeit

Erst gegen Ende des Textes kommt Meister zu seinem mutmaßlich zentralen Anliegen, auf das er die adressierten Journalisten nach der Wiederholung bekannter „Argumente“ stoßen möchte: Um die von ihm aufgezählten Bedrohungen aus Russland abzuwehren, „braucht es in erster Linie glaubwürdige Abschreckung, die auch mit einer Erhöhung der Militärbudgets in Deutschland und anderen EU-Mitgliedsstaaten einhergehen muss“. Nur so könnten die EU-Staaten „den schleichenden Rückzug der USA aus Europa“ mittelfristig kompensieren. Eine militärisch eigenständige EU geht Meister dann aber doch zu weit. Die europäischen Militärstrukturen PESCO seien zwar „ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“ – es dürften dadurch aber nicht „NATO-Strukturen dupliziert“ (= überflüssig gemacht) werden. Meisters Plan, der sich als Tendenz in transatlantisch orientierten deutschen Medien bereits wiederfindet, lautet: erhöhte militärische EU-Budgets, ohne dadurch die US-Abhängigkeit zu überwinden.

In diesem Zusammenhang spricht der Text richtige Fakten an: „Dagegen ist die EU kein relevanter Akteur im russischen sicherheitspolitischen Denken. Sie wird in Moskau als schwacher wenig relevanter Sicherheitsakteur angesehen, ein Anhängsel der USA.“ Organisationen wie die DGAP arbeiten dafür, dass das möglichst lange so bleibt.