Nordkorea: Besinnliches inmitten von Bizarrem

Nordkorea: Besinnliches inmitten von Bizarrem

Nordkorea: Besinnliches inmitten von Bizarrem

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK – Nordkorea) ist aus der Perspektive des „Westens“ geblieben, was sie seit ihrer Staatsgründung am 9. September 1948 war – bestenfalls terra incognita, normalhin aber ein „Schurkenstaat“ oder „letzter stalinistischer GULAG“. Die dynastische Führung der DVRK – von Staatsgründer Kim Il-Sung über dessen Sohn Kim Jong-Il bis hin zum aktuell amtierenden Enkel Kim Jong-Un – wird in westlichen Medien entsprechend etikettiert: Sie gilt als „Diktatur“ und mit eingerollter Zunge wird durchgängig von „Machthabern“ gesprochen. Dass ausgerechnet einem solchen Regime der Aufstieg zur neunten Atommacht gelang, ist Washington ein besonderer Dorn im Auge. Doch es waren US-amerikanische Politiker, Diplomaten und sogenannte Sicherheitsstrategen, deren Fehleinschätzungen und mangelndes Geschick im Umgang mit der DVRK letztlich zur Entwicklung und Erweiterung des Nuklearprogramms Pjöngjangs beitrugen. Das jedenfalls ist das ernüchternde Fazit der Mitte Januar von der Stanford University Press publizierten Studie Hinge Points: An Inside Look at North Korea’s Nuclear Program (Dreh- und Angelpunkte: Einblicke in Nordkoreas Nuklearprogramm) aus der Feder des international renommierten Nuklearexperten Siegfried S. Hecker unter Mitwirkung von Elliot A. Serbin. Ein Kommentar unseres Ostasienexperten Rainer Werning.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Martialische Drohgebärden

In den vergangenen Tagen und Wochen ist die DVRK erneut ins Blickfeld internationaler Medienberichterstattung geraten. Natürlich – aus westlichem Blickwinkel – mit reichlich Irrem, Wirrem und Bizarrem. Es gab in der Volksrepublik Raketentests zuhauf, Massenauftritte, Militärparaden, eine martialisch auftretende Schwester und schließlich ein der Öffentlichkeit lieblich präsentiertes Töchterchen von Staatschef Kim Jong-Un, seines Zeichens Vorsitzender des Komitees für Staatsangelegenheiten der DVRK.

Pjöngjang hat nach eigenen Angaben allein in den letzten Tagen mehrere Langstrecken-Marschflugkörper getestet, die ostwärts in Richtung offenes Meer abgefeuert wurden und eine Flugzeit von annähernd zwei Stunden und 50 Minuten gehabt haben sollen. Laut der staatlichen nordkoreanischen Nachrichtenagentur KCNA sei damit „klar demonstriert“ worden, dass die eigenen Streitkräfte über die Fähigkeit zum „tödlichen nuklearen Gegenangriff gegen die feindlichen Kräfte“ verfügen. Darunter versteht Pjöngjang die Republik Korea (ROK – Südkorea) und deren langjährig engsten Verbündeten, die USA. Die letzten Tests bezeichnete Nordkorea als Reaktion auf erneute gemeinsame Militärübungen und Manöver der USA und Südkoreas. Washington und Seoul warnen ihrerseits bereits seit Monaten, dass Nordkorea in naher Zukunft einen weiteren Atomwaffentest ausführen könnte – nach sechs vorangegangenen Tests seit 2006.

Über Matten und Hochsitze

Dass Nordkorea überhaupt in die Lage versetzt wurde, ein eigenes Nuklearprogramm zu entwickeln, geschah nicht nur aus Gründen systemimmanenter Staatslogik, sondern auch und gerade aufgrund arroganten Machtgehabes Washingtons auf der Koreanischen Halbinsel. Für Pjöngjang ist sein Nuklearprogramm die wichtigste Lebensversicherung angesichts der US-Politiken vis-à-vis Irak, Libyen et al., wo aus seiner Sicht imperial exekutierte Regimewechsel mit eklatanten Wort- und Vertragsbrüchen einhergingen. Oberste raison d’être der nordkoreanischen Nomenklatur ist und bleibt es: Wenn wir schon nicht auf internationalem Parkett geachtet sind, wollen wir wenigstens auf Augenhöhe geächtet sein. Im Klartext: Es geht um gegenseitige Achtung, Anerkennung und Respekt. Ein koreanisches Sprichwort lautet: „Wer auf der Matte schläft, der fällt nicht tief.“ Das verträgt sich schlecht mit einem imperialen Habitus, von einem Hochsitz aus alles ringsherum kommandieren zu können.

Fatale Versäumnisse

Da kommt so ein Buch wie das von Siegfried S. Hecker gerade zur rechten Zeit. Dieser macht wesentlich einen eben solchen Habitus dafür verantwortlich, dass das US-amerikanisch-nordkoreanische Verhältnis auch 70 Jahre nach dem Ende des Koreakrieges, des ersten „heißen Konflikts“ im Kalten Krieg, erstarrt bleibt.

Von Anfang 2004 bis Ende 2010 hatte der ehemalige Direktor des Los Alamos National Laboratory wie kaum ein anderer Wissenschaftler seiner Zunft einen beispiellosen Zugang zu den nordkoreanischen Nuklearanlagen und den mit ihnen verbundenen Wissenschaftlern und Beamten. Nach seinen zahlreichen Besuchen in der DVRK und anschließenden Recherchen außerhalb des Landes kam Hecker zu der Überzeugung, dass die Standarddarstellung der USA über ihre verschiedenen gescheiterten Versuche, ein Ende des nordkoreanischen Atomprogramms auszuhandeln, völlig falsch ist. In dieser Darstellung der USA wird Nordkorea als unzuverlässig dargestellt, als ein Land, das immer wieder gegen diplomatische Vereinbarungen verstößt und provoziert, um vom Westen Belohnungen zu erpressen.

Stattdessen ist Hecker der Ansicht, dass die Geschichte der Entwicklung und der Ausweitung des nordkoreanischen Atomwaffenarsenals im 21. Jahrhundert eher als eine Reihe verpasster Gelegenheiten – von ihm eben als Dreh- und Angelpunkte bezeichnet – erzählt werden kann. Diplomatische Öffnungen, die zu einer Kontrolle des nordkoreanischen Atomprogramms hätten führen können, wurden untergraben, mitunter von Pjöngjang, doch mehr noch und konsequenter seitens Washingtons.

In einem ausführlichen Gespräch mit John Mecklin, dem Chefredakteur des Bulletin of the Atomic Scientists (Chicago), das am 20. Februar erschien, skizziert Hecker die Kernpunkte seines Buches, die ich hier in eigener Übersetzung wiedergebe.

Die Hauptfehler der US-Politik liegen nach Heckers Ansicht darin, dass es wiederholt versäumt wurde, technisch fundierte Risiko-Nutzen-Analysen durchzuführen und Nordkoreas zweigleisigen Ansatz in Bezug auf Diplomatie und den Aufbau eines Atomprogramms zu verstehen. Die Vereinigten Staaten erkannten nicht, so Hecker, dass Pjöngjang je nach den Umständen dem einen oder dem anderen Weg den Vorrang gab, und versäumten es daher, die nordkoreanischen Möglichkeiten zu nutzen. Wie Hecker es ausdrückt, „schloss [Washington] einen politischen Mittelweg aus, indem es Pjöngjang schon früh zwang, zwischen Diplomatie oder Atomprogramm zu wählen.“

Jedes Mal argumentierten die Befürworter eines Engagements, begrenzte Fortschritte seien besser als gar nichts und es sei besser, Inspektoren vor Ort zu haben, um die nordkoreanischen Einrichtungen zu überwachen, als dort nicht präsent zu sein. Doch jedes Mal fanden die Hardliner – namentlich der außenpolitische „Superfalke“ und von 2018 bis 2019 sogar amtierende Nationale Sicherheitsberater unter Präsident Donald Trump, John R. Bolton – einen Weg, um neue Abkommen zu blockieren oder bestehende zu torpedieren. Mit der Konsequenz, dass Nordkoreas Atomwaffen- und Raketenprogramme sukzessiv voranschritten.

Vertane Alternative(n)

Dabei hätte eigentlich bereits vor reichlich zwei Jahrzehnten eine umsichtige Politik Washingtons reale Erfolgschancen gehabt. Zur Beilegung des ersten Atomstreits mit Nordkorea war nämlich unter dem damaligen US-Verteidigungsminister William J. Perry im Herbst 1994 in Genf das sogenannte Rahmenabkommen (Agreed Framework) ausgehandelt worden, das immerhin in einem Zusatzprotokoll die Sicherheit Nordkoreas garantierte. Ein nordkoreanisch-amerikanischer Deal schien gar zum Greifen nahe, als US-Präsident Bill Clintons Außenministerin Madeleine Albright Ende Oktober 2000 in Pjöngjang sondierte. Erstmals besuchte eine derart ranghohe US-Vertreterin die Volksrepublik. Zwei Wochen zuvor hatte Bill Clinton Vizemarschall Jo Myong-Rok als Sondergesandten von Staatschef Kim Jong-Il mit einem Händedruck im Weißen Haus empfangen. Die damalige Nummer zwei der nordkoreanischen Nomenklatur überreichte eine Einladung zum Staatsbesuch und erklärte gegenüber Clinton:

„Wenn Sie nach Pjöngjang kommen, garantiert Ihnen Kim Jong-Il, allen Sicherheitsbedürfnissen gerecht zu werden.“

Während Anfang 2001 starke Zeichen auf Entspannung deuteten, erledigte sich das brüsk nach dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush. Dieser sah plötzlich in Nordkorea einen „Bedrohungsfaktor in Ostasien“ und er ließ sämtliche Kontakte so lange ruhen, bis eine komplette Neubestimmung der US-Asienpolitik stattgefunden hatte. Bush verortete Anfang 2002 neben Iran und Irak auch Nordkorea auf seiner „Achse des Bösen“ und ersetzte die traditionelle Politik der Eindämmung durch eine neue Strategie präventiver Militärschläge. Und es war Bushs Parteikumpan John R. Bolton, 2001 als Staatssekretär für Rüstungskontrolle vereidigt, der im Rahmen der sogenannten Sechs-Parteien-Gespräche besonders unangenehm auffiel. An dieser auf Initiative der VR China entstandenen Dialogrunde nahmen von 2003 bis 2009 neben dem Gastgeber auch Delegationen aus den USA, Japan, Russland und beiden koreanischen Staaten in Beijing teil. Bolton musste die US-Delegation verlassen, nachdem er Kim Jong-Il öffentlich einen „tyrannischen Diktator“ genannt hatte. Bolton äußerte sich im Jahre 2007 auf dem Parteitag der britischen Conservative Party mit Blick auf Nordkorea und den Iran in der ihm eigenen Weise:

„Die USA hatten einst die Fähigkeit, in verdeckter Weise einen Sturz von Regierungen einzufädeln. Ich wünschte, wir könnten dies wieder haben.“

Laut Hecker ereignete sich der verhängnisvollste Dreh- und Angelpunkt im Oktober 2002, als die Bush-Regierung dem Rahmenabkommen von 1994 einen Todesstoß versetzte, ohne die Risiken eines Ausstiegs vollständig zu bewerten oder richtig einzuschätzen. Ein Grund für das anhaltende Scheitern der US-Nordkoreapolitik liegt darin, dass es nie Konsequenzen für die Verantwortlichen gab, stattdessen immer wieder dieselben Personen in anderen Regierungen eingesetzt wurden, um die Dinge von neuem zu vermasseln. Wenn für kolossale Fehler kein politischer Preis oder kein schlechter Ruf zu zahlen ist, werden kurzfristige Anreize einer aggressiven Haltung die Oberhand gewinnen. Zieht diese Haltung am Ende ernsthafte Kosten für die Interessen der USA und ihre Verbündeten nach sich, sind die politischen Entscheidungsträger, die den Schlamassel angerichtet haben, bereits auf dem Weg nach draußen. Oder sie haben es sich zwischenzeitlich in Pfründen bequem gemacht und gerieren sich so schamlos, den Umgang der aktuellen Regierung mit just dem Problem zu attackieren, das sie selbst kreierten. In diesem Sinne lässt Hecker kein einziges gutes Haar an Bolton.

Als Bush sein Amt antrat, hatte Nordkorea keine Atomwaffen, als der Präsident das Weiße Haus verließ, verfügte die DVRK indes über fünf oder gar mehr Atombomben.

Kein substanzieller Wandel in Sicht

Enttäuscht äußert sich Hecker auch über die Nordkorea-Politik unter Präsident Barack Obama, der zu Beginn seiner Amtszeit mit Blick auf Länder wie den Iran und Nordkorea immerhin angekündigt hatte:

„Ich werde meine Hand ausstrecken, wenn ihr eure Faust lockert.“

Doch zum Zeitpunkt von Obamas Ausscheiden aus dem Amt verfügte die DVRK über genügend Brennstoff für 25 Atomwaffen.
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Das erste Amtsjahr von Präsident Donald Trump – 2017 – war wahrscheinlich das gefährlichste Jahr in Bezug auf Nordkorea. Als Trump Kim Jong-Un in seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit „Feuer und Zorn“ drohte, verfügten die Nordkoreaner über ein Arsenal von mehr als 25 Atomwaffen und ein weitaus stärkeres Raketenarsenal, das in der Lage war, einen großen Teil Südkoreas und/oder Japans zu zerstören. Dennoch hegte Kim Jong-Un laut Hecker ein ernsthaftes Interesse an der Diplomatie, um eine Annäherung mit Washington zu erreichen. Trump erwiderte den Wink mit dem Zaunpfahl, nachdem er Kim zuvor noch als „kleinen Raketenmann“ gescholten hatte.

Zur Jahreswende 2017/18 hatte Nordkorea bereits eine Wasserstoffbombe mit einer Sprengkraft von mehr als 200 Kilotonnen getestet – seinen sechsten Atomtest. Ebenfalls feuerte Pjöngjang eine ballistische Interkontinentalrakete ab, die in der Lage war, die Vereinigten Staaten zu erreichen, allerdings in einer abgehobenen Flugbahn. In dieser äußerst brenzligen Situation beschlossen beide Seiten, es mit der Diplomatie zu versuchen. Just das geschah, als Trump und Kim sich erstmalig anlässlich eines – wahrlich historischen – Gipfels in Singapur im Juni 2018 persönlich trafen. In Singapur wurde, wenngleich ohne Details, immerhin eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea avisiert, was die DVRK seit fast drei Jahrzehnten angestrebt hatte.

Trump wurde weithin dafür kritisiert, Kim Jong-Un die Möglichkeit gegeben zu haben, sich auf internationalem Parkett zu profilieren. Laut Hecker war es genau das Richtige und was auf dem Nachfolgetreffen in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi im Februar 2019 hätte vertieft werden sollen. Doch dort begingen, so Hecker, sowohl Trump als auch Kim den Fehler, dies nicht zu tun. Trump ließ sich von seinem Nationalen Sicherheitsberater John Bolton beeinflussen, letztlich keine Einigung zu erzielen, worauf Letzterer nach eigenem Bekunden sichtlich stolz war. Kim Jong-Un beging den Fehler, dass er seine Diplomaten anwies, nicht mit dem US-Sondergesandten für Nordkorea, Steve Biegun, zu verhandeln – einem laut Hecker erfahrenen Diplomaten. Ein in der Sicht weiterer und letzter Dreh- und Angelpunkt, der in der Quintessenz dazu führte, dass Trump einfach wegging und Kim eine Blamage hinnehmen musste.

Seitdem hat Pjöngjang, wie kaum anders zu erwarten, sein Atomprogramm wieder prioritär verfolgt. Die Diplomatie wurde nicht nur auf die lange Bank geschoben. Es scheint, als habe sich Kim von Washington losgesagt und eine engere Anbindung an Russland und China favorisiert. Was nicht zuletzt die offene Unterstützung der DVRK für Russlands Invasion in der Ukraine verdeutlicht.

Titelbild: Anton Watman/shutterstock.com

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