Die Schuldenbremse muss weg

Die Schuldenbremse muss weg

Die Schuldenbremse muss weg

André Tautenhahn
Ein Artikel von André Tautenhahn

„Wer auch zukünftig einen handlungsfähigen Staat will, muss die Schulden- und Zinslast reduzieren.“ Das sagte Peer Steinbrück als Bundesfinanzminister 2009 im Bundestag.
Danach beschloss das Parlament die Schuldenbremse mit den Stimmen der Großen Koalition. Der Zeitgeist war pro Schuldenbremse, auch bei den Grünen, die das Gesetz ablehnten. Der damalige Fraktionsvorsitzende Fritz Kuhn hielt eine Rede[1], auf die hier noch einmal eingegangen werden soll. Der Schlusssatz lautete aber: „Deswegen werden wir dagegenstimmen, obwohl wir für eine Begrenzung der Schuldenaufnahme durch die öffentliche Hand sind.“ Grün war also nicht gegen eine Schuldenbremse, sondern nur gegen diese Schuldenbremse. Von André Tautenhahn.

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Die Schuldenbremse oder die Vorstellung, die Schuldenaufnahme der öffentlichen Hand unbedingt begrenzen zu müssen, hatte einen Grund. Die Finanzkrise, in der Regierung wie Parlament eine milliardenschwere Bankenrettung organisierten. Binnen einer Woche standen damals rund 500 Milliarden für HRE und Co bereit. Ein Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) wurde eingerichtet, quasi ein Sondervermögen, wie es heute heißt. Der öffentliche Eindruck bei allen war, Gewinne würden privatisiert und Verluste sozialisiert. Das ließ sich nicht von der Hand weisen, aller Rhetorik über Systemrelevanz zum Trotz. Außerdem wurde klar, dass das jahrelange Suchen und Ringen nach Haushaltsmitteln für wichtige politische Vorhaben etwa im Bildungs- oder Sozialbereich nur eine Farce sein musste, wenn es dem Staat doch gleichzeitig möglich war, finanzielle Hilfen in unbegrenzter Höhe und in kürzester Zeit bereitzustellen. Um diesem Eindruck zu begegnen, erfand die Politik die Schuldenbremse. Sie war überstürzte Symbolpolitik, mit der Absicht, verlorenes Vertrauen beim Wähler zurückzugewinnen.

Da aber klar war, dass es auch künftig Krisen geben würde, baute der Gesetzgeber vorsorglich einen Mechanismus ein, der es erlaubt, von den strengen Vorgaben der Schuldenbremse in Notlagen abzuweichen. Das Bundesverfassungsgericht mit seinem unendlich großen volkswirtschaftlichen Defizit hat nun den einst mit voller Absicht und ebenso großer Dummheit ins Grundgesetz hineingeschriebenen Text beim Wort genommen und klargestellt, dass die Hütte erst abgebrannt sein muss, bevor Regierung und Parlament eine Notlage feststellen dürfen, um von den Vorgaben der Schuldenbremse abzuweichen. Heiner Flassbeck schreibt dazu treffend: „Die Regierung ist dann wie eine Feuerwehr, die mit dem Löschen warten muss, bis das Haus vollständig abgebrannt ist, weil der Schaden sonst nicht groß genug sein könnte, um ihr Einschreiten zu rechtfertigen.“

In der Schuldenbremsenfalle

Mit anderen Worten: Deutschland sitzt in der Schuldenbremsenfalle, was bereits durch die Bildung immer neuer Sondervermögen, also Schattenhaushalte, deutlich geworden ist und jetzt final durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts amtlich besiegelt wurde. Denn die Richter erklären dem Gesetzgeber, der die Schuldenbremse ja selbst mit allergrößter Inbrunst verteidigt, dass er diese auch einzuhalten hat, statt sie mit Tricks laufend zu umgehen. Diese sind aber wiederum zwingend nötig, weil öffentliche Schulden nun mal eine wichtige Funktion erfüllen, die aber weder damals noch heute verstanden oder verständlich gemacht wird. Stattdessen wird Unsinn über die Belastung künftiger Generationen verbreitet, der sich auch darin ausdrückt, dass eine öffentliche Schuldenaufnahme immer zuerst mit einem verbindlichen Tilgungsplan versehen werden muss. Der Staat muss aber keine Schulden tilgen, das wäre volkswirtschaftlich auch katastrophal, sondern sie immer nur bedienen. Das ist ein Unterschied.

Das ist auch logisch, wenn man sich einmal klarmacht, dass neben den Schulden, also Verbindlichkeiten, auch immer die Vermögen, also Forderungen, an die künftigen Generationen weitervererbt werden. Jede Generation handelt dieses Verhältnis zwischen Vermögen und Schulden selbst aus, etwa durch eine angemessene Steuerpolitik. Es ist somit völliger Unsinn zu behaupten, dass die jetzige Generation deshalb sparen muss, damit die künftige keine Belastungen erbt. Umgekehrt ist es viel richtiger. Die Sparanstrengung von heute führen zwangsläufig zur Belastung von morgen, weil Straßen nicht gebaut, in die Bildung nicht investiert oder die Kindergrundsicherung zusammengestrichen wird. Verzichtet der Staat auf Ausgaben, nimmt er Bürgern und Unternehmen unmittelbar die Einkommen weg. Alle werden ärmer. Fritz Kuhn sagte damals im Bundestag völlig richtig: „Das Problem des Kooperationsverbots in Bezug auf die Kommunen – aber auch im Bereich der Bildung – ist unzulänglich gelöst. Ich will es zuspitzen: Wer etwas für die Gemeinden tun will – das ist die absurde Logik dessen, was Sie heute beschließen –, der muss schon auf eine Flut oder eine Finanzkrise hoffen, um helfen zu dürfen. Was ist denn das für ein Staat, der nur über eine solche Definition Hilfe ermöglicht?“

Kuhn hat damals im Prinzip das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von heute vorweggenommen. Aber diese Erkenntnis führte bei den Grünen nicht dazu, die Schuldenbremse an sich für ein falsches Instrument zu halten, sondern im Gegenteil eine Art „vernünftige Schuldenbremse“ einzufordern. Es ging ihnen ja auch nur um Symbolpolitik gegen die schwindende Glaubwürdigkeit. Im Rahmen der Verhandlungen zur Föderalismusreform II sagte Kuhn, dass sich die Finanzpolitik nicht mehr länger am Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 orientieren dürfe[2]. Dabei sind hier die Grundsätze der Staatsfinanzen sehr gut beschrieben, als magisches Viereck, wie die Volkswirtin Friederike Spiecker schreibt:

Die grundlegende Beschreibung einer verantwortungsvollen Wirtschaftspolitik wurde vor über 50 Jahren im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) mit dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht, auch bekannt unter dem Stichwort „magisches Viereck“, gegeben. Es besteht aus vier Zielen, die alle möglichst gleichzeitig erreicht werden sollen: angemessenes Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, hohes Beschäftigungsniveau und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Als gesamtwirtschaftlich wird es völlig zurecht bezeichnet, weil es sich nicht auf einen einzelnen Sektor allein, z.B. den Staatssektor, konzentriert; als magisch gilt es, weil es in der Tat eine Kunst ist, allen vier Zielen zugleich gerecht zu werden.

Trotzreaktion und Chuzpe

Die Schuldenbremse ist nicht praxistauglich, sondern führt zum Gegenteil dessen, was Peer Steinbrück 2009 ankündigte. Der Staat ist zunehmend handlungsunfähig, weil es ihm nicht mehr gelingt, seine Aufgaben zu erfüllen. Der heutige Bundesfinanzminister übt sich derweil in Trotz. Der Staat habe kein Einnahme-, sondern ein Ausgabeproblem, sagt Lindner, der natürlich darauf vertrauen kann, dass sein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr unangetastet bleibt. Das hat die Ampel mit der Union schlauerweise gleich ins Grundgesetz schreiben lassen. Das heißt, dass jetzt beispielsweise Sozialdemokraten und Grüne ihren Wählern erklären müssen, wieso für Waffen Geld in Hülle und Fülle da ist, sogar im Beschaffungswesen unnütz verballert werden darf, für Bildung, Kindergrundsicherung oder die Förderung der Wärmepumpe aber nicht.

Der Bundesfinanzminister sagte in seiner Trotzreaktion auch, dass die Staatsausgaben über die Jahre immer weiter gestiegen seien und man jetzt mit weniger Geld halt wirksamere Politik machen müsse, also endlich die Prioritäten zu klären habe, was bislang angeblich noch nie geschah. Das ist schon bemerkenswert, einen Finanzminister zu haben, der immer noch nicht begriffen hat, dass Wirtschaftswachstum und höhere Steuereinnahmen die Folge steigender Staatsausgaben sind und nicht umgekehrt. Wofür sollte man auch sonst so viele Sondervermögen einerseits und das Ausland andererseits brauchen, das die permanenten Bilanzüberschüsse Deutschlands mit Schulden finanziert? Die Chuzpe von Lindner, Scholz und Habeck ist unglaublich. Sie halten einfach weiter an der absurden Erzählung fest, wonach gerade die Ampel-Regierung besonders streng auf Ausgabendisziplin und die Einhaltung der Verschuldungsregeln achte oder künftig noch stärker achten könne, so als ob es die Realität und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht geben würde.

Die Schuldenbremse muss weg. Möglicherweise dämmert das auch der Union, die ja das Erbe der jetzigen Regierung – Stand heute – auf jeden Fall im Kanzleramt antreten muss. Einen geschenkten Elfmeter zu verwandeln, ist das eine und auch vollkommen nachvollziehbar, aber so zu tun, als könne man nun unter dem Eindruck des Urteils vernünftig regieren, indem man nur ein paar Prioritäten neu ordnet, ist vollkommen absurd. Auch die Union muss erklären, warum sie dann ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr für richtig hält und zur Absicherung zusätzlich ins Grundgesetz hat schreiben lassen, wenn man doch weiß, wie solide Haushaltspolitik [sic!] geht. Verteilungskampf bleibt Verteilungskampf und Aufgabenpflicht bleibt Aufgabenpflicht. Das ist übrigens die Ironie an dem Urteil. Dasselbe Bundesverfassungsgericht, das dem Gesetzgeber die penible Einhaltung einer handlungsunfähig machenden Schuldenbremse auferlegt, verlangt auch in einer ellenlangen Herleitung (Urteil von 2021), dass der Gesetzgeber besondere Klimaschutzpflichten gemäß Art. 20a Grundgesetz zu erfüllen habe.

Was ist da jetzt richtig? Vielleicht ein Sondervermögen, das gegen die Schuldenregel verstößt, aber Ausgaben für den Klima- und Umweltschutz ermöglicht? Oder einfach das Streichen von Sektorzielen zur Reduktion von CO2, wie bereits geschehen? Das leistet zwar keinen Beitrag zum Klimaschutz, aber immerhin werden auch Ausgaben im laufenden Haushalt eingespart. Welche Kosten später entstehen, kann dann ja die Union mit einem Kanzler Merz regeln. Man könnte natürlich auch beides verbinden, wie das die Ampel ebenfalls tut, also mit Sondervermögen LNG-Terminals bauen, um Flüssiggas aus den USA zu importieren, das viel klimaschädlicher als das Verbrennen von Kohle ist. Die Sache funktioniert also nicht, weder logisch noch ideologisch. Möglicherweise sind die neuen Koalitionen auf Länderebene zwischen Union und SPD in Berlin und Hessen erste Hinweise darauf, dass sich in der Finanzpolitik etwas bewegen wird. Nur ist die Zeit der ganz großen, verfassungsändernden Koalition vorbei. Aktuell kommen Union und SPD auf gerade einmal 44 Prozent, das war 2009 noch anders.

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Titelbild: CHOKCHAI POOMICHAIYA/shutterstock.com


[«1] Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 225. Sitzung Berlin, Freitag, den 29. Mai 2009

[«2] MARIAN KRÜGER, Ein Projekt der Entstaatlichung, Einige Anmerkungen zur Debatte um die Föderalismusreform II

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