Das UN-Hilfswerk im Gaza-Krieg

Das UN-Hilfswerk im Gaza-Krieg

Das UN-Hilfswerk im Gaza-Krieg

Klaus-Dieter Kolenda
Ein Artikel von Klaus-Dieter Kolenda

Ein Bericht von Mitarbeitern des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge, die versuchen, angesichts des Massenmords an den Palästinensern in Gaza die Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten, wird hier übersetzt wiedergegeben. Ihre verzweifelten Bemühungen unterstreichen die dringende Notwendigkeit eines sofortigen humanitären Waffenstillstands als Voraussetzung dafür, dass eine ausreichende Menge von lebenswichtigen Gütern wie Medikamente, Lebensmittel, Wasser und Treibstoff nach Gaza geliefert werden kann. Von Klaus-Dieter Kolenda.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Vorbemerkungen

Kürzlich ist auf Telepolis ein Artikel mit einem von mir übersetzten, sehr bewegenden Text von Chris Hedges über die derzeitige Situation in Gaza erschienen[1]. Dort sagt der renommierte US-Journalist, er befürchte, dass die letzte Phase eines möglichen israelischen Völkermords in Gaza durch eine menschengemachte Hungerkatastrophe begonnen habe.

Hedges vermutet, dass Israel jetzt beschlossen habe, der Tätigkeit des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, abgekürzt UNRWA, das 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge mit Kliniken, Schulen, Lebensmitteln und Gesundheitsdiensten versorgt, ein Ende zu setzen, was seiner Meinung nach bereits seit Langem ein Ziel Israels gewesen sei.

Der Anlass dafür seien die unbewiesenen israelischen Anschuldigungen gegen das UNRWA, dass zwölf (!) der insgesamt 13.000 Mitarbeiter Verbindungen zu denjenigen hatten, die die Anschläge in Israel am 7. Oktober verübten, bei denen etwa 1.200 Israelis getötet und 240 Geiseln verschleppt wurden.

Diese Vorwürfe hätten inzwischen ihren Zweck erfüllt, sagt er, denn 16 der großen Geberländer, darunter die Vereinigten Staaten, Großbritannien und auch Deutschland, seien daraufhin veranlasst worden, ihre finanzielle Unterstützung für das UN-Hilfswerk zu beenden, von der die Ernährung von fast jedem Palästinenser in Gaza abhängig ist.

Die Kündigung der finanziellen Unterstützung durch die wichtigsten Geberländer werde in wenigen Wochen dazu führen, dass das UNRWA nicht mehr weiterarbeiten könne.

Am 13. Februar 2024 erschien in der weltweit hoch angesehenen britischen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet ein Artikel von Mitarbeitern des UN-Hilfswerks mit dem Titel „UNRWA at the frontlines: managing health care in Gaza during catastrophe“ (deutsch: „Das UNRWA an den Frontlinien: Gesundheitsversorgung in Gaza in der Katastrophe“). In diesem Bericht schildern die Mitarbeiter, mit welchen Herausforderungen das UN-Hilfswerk derzeit bei der Gesundheitsversorgung in Gaza zu kämpfen hat[2]. Über diesen Artikel, den ich ins Deutsche übertragen habe, werde ich im Folgenden mit freundlicher Zustimmung der Autoren in Gaza berichten:

Humanitäre Lage im Gazastreifen katastrophal

Schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen – über 75 Prozent der Bevölkerung – wurden bis zum 30. Januar 2024 in Gaza vertrieben, oft mehrfach. Familien waren gezwungen, auf der Suche nach Sicherheit mehrmals umzuziehen. Bis zum 7. Januar 2024 wurden mindestens 26.901 Palästinenser getötet, 65.949 verletzt und 7.780 werden vermisst, wobei die meisten davon unter den Trümmern verschüttet sind.

Der Zugang zu lebensrettenden Gesundheitsdiensten ist stark eingeschränkt. Elektrizität, Treibstoff, Wasser und Medikamente sind entweder sehr knapp oder gar nicht mehr vorhanden.

UNRWA ein Rettungsanker

Besonders während dieses Krieges war und ist das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge, das UNRWA, ein Rettungsanker für die Menschen in Gaza.

Mit Stand vom 31. Januar 2024 leben hier nun fast 1,7 Millionen Vertriebene in Notunterkünften und informellen Behausungen, die sowohl vom UNRWA geschaffen als auch von der öffentlichen Verwaltung bereitgestellt wurden.

Vor dem 7. Oktober 2023 hatte die UNRWA 22 primäre Gesundheitszentren, die von etwa 1.000 Mitarbeitern des Gesundheitswesens betreut wurden und 1,3 Millionen Palästinaflüchtlinge versorgt haben, betrieben. Die Zahl der in Betrieb befindlichen Gesundheitszentren hat sich inzwischen durch die Bombardements auf sechs vermindert.

Diese stationären Gesundheitszentren versuchen, wichtige medizinische Grundversorgungsdienste anzubieten, einschließlich der kontinuierlichen Behandlung nicht übertragbarer Krankheiten und der Bereitstellung kritischer ambulanter Behandlungen.

Der Rest der Einwohner des Gazastreifens, die keine registrierten Palästina-Flüchtlinge sind, ist bei der medizinischen Versorgung abhängig vom Gesundheitsministerium und von privaten Einrichtungen.

Noch 650 UNRWA-Mitarbeiter tätig

Von den etwa 1.000 UNRWA-Mitarbeitern vor dem 7. Oktober 2023 sind noch etwa 650 in bestehenden Gesundheitszentren und in Gesundheitsanlaufstellen in Gaza tätig. Um trotzdem den großen Zustrom an Patienten zu bewältigen, haben einige Gesundheitszentren den Zweischichtbetrieb eingeführt.

Überweisungen an UNRWA-Vertragskrankenhäuser sind aufgrund der Beeinträchtigung von deren Betrieb durch den Mangel an elektrischem Strom und die Erschöpfung der Vorräte immer schwieriger geworden.

In den drei südlichen Gouvernements von Gaza verwaltet das UNRWA mit Stand vom 7. Januar 2024 zusätzlich 93 Schutzräume. Diese Unterkünfte wurden in erster Linie in umfunktionierten UNRWA-Schulen oder anderen Gebäuden eingerichtet, um Binnenflüchtlinge unterzubringen und ihnen Gesundheitsdienste anbieten zu können.

Notunterkünfte überlaufen

Das Ausmaß der Vertreibung von Menschen in Gaza übersteigt bei Weitem den Notfallplan des UN-Hilfswerks, der vor dem Krieg die Bereitstellung von Unterkünften für 150.000 Binnenvertriebene in etwa 75 Unterkünften (etwa 2.000 Menschen pro Unterkunft) vorsah.

Stattdessen gibt es jetzt durchschnittlich 18.000 registrierte Binnenflüchtlinge pro Unterkunft, was die Ressourcen und die Gesundheits- und Hygienebedingungen weit über ihre Grenzen hinaus strapaziert.

Von den beiden nördlichen Gouvernements des Gazastreifens gibt es aufgrund der schlechten Erreichbarkeit nur wenige Daten.

Das UNRWA hat Gesundheitsanlaufstellen in Notunterkünften eingerichtet, um es dem Gesundheitspersonal, sowohl Ärzten als auch Krankenschwestern, zu ermöglichen, dort ein eingeschränktes Angebot an Gesundheitsdiensten anzubieten.

Diese verringern auch den Druck auf die Gesundheitszentren, die noch in Betrieb sind. Zu den angebotenen eingeschränkten Leistungen dort gehören die Behandlungen von übertragbaren Krankheiten und nicht übertragbaren Krankheiten, Verletzungen, Mutterschaftspflege und psychosoziale Unterstützung der traumatisierten Menschen.

Die Bereitstellung dieser Dienstleistungen ist eine große Herausforderung für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, da die meisten selbst Vertriebene und ebenfalls auf Unterkunft, Nahrung und Wasser angewiesen sind.

Starke Zunahme der Konsultationen

Vor dem Krieg führten die Gesundheitszentren des UNRWA etwa 15.000 Konsultationen pro Tag in Gaza durch. Diese Zahl ist um etwa 50 Prozent in den Gesundheitszentren und Gesundheitsanlaufstellen in den Notunterkünften gestiegen.

Obwohl sich das Mandat des UNRWA auf registrierte Flüchtlinge begrenzt, hat die Organisation weitere Verantwortung übernommen, um allen bedürftigen Menschen in Gaza inmitten des Krieges medizinische Versorgung anzubieten.

Die Gesundheitszentren haben sich auf die Bereitstellung wichtiger primärer Gesundheitsdienste konzentriert, wie z.B. die Behandlung von Patienten mit nicht übertragbaren Krankheiten (z.B. Diabetes und Bluthochdruck) und die ambulante Intensivversorgung.

In Abhängigkeit von Beschränkungen des Patientenzugangs aufgrund der allgemeinen Situation des Krieges bieten die Gesundheitszentren neben dem nationalen Impfprogramm auch Impfungen für Kinder an.

Medizinisches Personal extrem belastet

Die Bewältigung der extremen Zahl an behandlungsbedürftigen Patienten ist für das medizinische Personal ein ernstes Problem. Ihre Zahl hat sich inzwischen fast verdoppelt und liegt nun bei durchschnittlich 113 Patienten pro Gesundheitsfachkraft und Tag in Gesundheitszentren und 107 Patienten in den Gesundheitsanlaufstellen der Notunterkünfte.

Die Krise der Gesundheitsversorgung in Gaza wird verschärft durch den akuten Mangel an medizinischer und nichtmedizinischer Versorgung in Krankenhäusern, Gesundheitszentren und Gesundheitsanlaufstellen.

Die Lieferung von Medikamenten wird durch die Blockade des Gazastreifens und den eingeschränkten Zugang für Hilfsgüter behindert. Diese Situation gibt Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit und Qualität der Versorgung unter solch extrem angespannten Bedingungen.

Kritische Wasser-, Sanitär- und Hygiene-Situation

Nach Schätzungen des UNRWA zur Wasserverfügbarkeit haben Menschen in Notunterkünften in den südlichen Gouvernements Zugang zu nur 8,8 Litern Wasser pro Person und Tag, 1,6 Liter zum Trinken und 7,2 Liter für den Hausgebrauch.

Die Notfall-Richtlinien schreiben vor, dass eine Person mindestens 7,5 Liter Wasser pro Tag (einschließlich 2,5 bis 3 Liter Trinkwasser) zum Überleben benötigt, und empfehlen 15 Liter pro Person und Tag als minimalen Notfall-Standard.

Folglich haben Binnenvertriebene in den Unterkünften des UNRWA Zugang zu etwa der Hälfte der täglichen Mindestmenge an Trinkwasser, die zum Überleben benötigt wird. Deshalb greifen die meisten Menschen jetzt auf unsichere Wasserquellen zurück, was zu einem Anstieg von durch Wasser übertragenen Krankheiten führt (siehe Abbildung 1, die der Figure 2 im Original entspricht).

Für 504 Personen eine Toilette und für 2.568 eine Dusche

Mit Stand vom 7. Januar 2024 teilten sich nach den Daten des UNRWA durchschnittlich 504 Personen eine Toilette und 2.568 Personen eine Dusche. Diese Zahlen liegen weit unter den Zahlen für die Notfallstandards, die die Anzahl auf 20 Personen pro Toilette und 20 Personen pro Dusche begrenzen.

Dieser schwerwiegende Mangel an sanitärer Grundversorgung in Verbindung mit der kritischen Wassersituation stellt ein ernsthaftes Gesundheitsrisiko dar, das die Ausbreitung von Krankheiten in einer bereits gefährdeten Bevölkerung weiter verschärft.

Massenhafte Krankheiten und Gefahr von Epidemien

Seit dem 16. Oktober 2023 überwacht das UNRWA 14 Krankheiten mit Potenzial für Epidemien in ihren Unterkünften.

Es wurden Warnungen vor akuter Hepatitis herausgegeben, und die Zahl der Krankheitsfälle ist im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen.

Weiterhin zeigt ein Vergleich der Daten von 2022 und 2023 einen starken Anstieg der Fälle von unblutigem und blutigem Durchfall und Impetigo (bakterielle Hauterkrankungen) im Jahre 2023 und unterstreichen den Ernst der Lage (Abbildung 1).

So stieg beispielsweise im Zeitraum zwischen den epidemiologischen Wochen 43 und 52 (d. h. dem 23. Oktober und dem 31. Dezember 2023) die Inzidenz von nichtblutigem Durchfall bei Kindern unter fünf Jahren um das 33-Fache und bei Personen ab fünf Jahren um das 99-Fache im Vergleich zu 2022 (Abbildung 1).

Blutiger Durchfall und Impetigo (bakterielle Hauterkrankungen) haben im gleichen Zeitraum ebenfalls gefährlich zugenommen (um das 22-Fache bzw. das Vierfache), was die Schwere des Gesundheitsnotstands in den Unterkünften unterstreicht (Abbildung 1).

Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen ohne Beispiel

Der Angriff auf Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitspersonal in Gaza ist sowohl in seinem Ausmaß als auch in seinen unmittelbaren Auswirkungen bisher beispiellos.

Bis zum 30. Januar 2024 gab es 342 Angriffe auf alle Arten von Gesundheitseinrichtungen in Gaza, bei denen 627 Menschen getötet und weitere 783 verletzt wurden. Insgesamt waren 95 einzelne Gesundheitseinrichtungen betroffen, darunter 27 Krankenhäuser. Folglich ist die Lage der 36 Krankenhäuser in Gaza trostlos, 15 funktionieren nur teilweise.

Der Krieg hat auch dem UNRWA einen beispiellosen Tribut abverlangt: Seit dem 7. Oktober 2023 wurden 146 Mitarbeiter getötet.

Sofortiger humanitärer Waffenstillstand dringend erforderlich

Die katastrophale Gesundheitssituation im Gazastreifen unterstreicht die dringende Notwendigkeit eines humanitären Waffenstillstands, der die Voraussetzung dafür ist, dass eine ausreichende Menge lebenswichtiger Güter wie Medikamente, Lebensmittel, Wasser und Treibstoff nach Gaza geliefert werden kann.

Das UNRWA, das sowohl vor als auch während des Krieges bereits der wichtigste öffentliche Anbieter von medizinischen Dienstleistungen zur Grundversorgung in Gaza war, hat auch damit begonnen, auf neue Bedürfnisse wie die Versorgung von Verwundeten zu reagieren, indem es eine abgestufte (bis mittlere) Versorgung anbietet.

Das UNRWA unterstützt die Krankenhäuser durch die Bereitstellung von Unterkünften in deren Nähe für Patienten, die vorzeitig entlassen werden mussten, und macht so Krankenhausbetten frei.

Das UNRWA hat auch damit begonnen, medizinische Anlaufstellen außerhalb ihrer bestehenden Unterkünfte in offenem Gelände einzurichten, wo Binnenvertriebene, die keine andere Möglichkeit gefunden haben, wo sie sich aufhalten können, versorgt werden, da die vorhandenen Unterkünfte bereits überfüllt waren. Dies gilt zusätzlich zu den 96 schon etablierten Gesundheitsanlaufstellen in den 93 Unterkünften.

Abschließend heißt es in dem Artikel:

„Das UNRWA wird weiterhin mit Partnern aus dem Gesundheitssektor wie dem Gesundheitsministerium, der WHO, dem Palästinensischen Roten Halbmond und anderen nationalen und internationalen NGOs zusammenarbeiten, um Dienstleistungen in Gaza anzubieten.

In Gaza ist jetzt viel zusätzliche Unterstützung durch internationale humanitäre Organisationen erforderlich. Gaza verfügt jedoch über eine große Anzahl an Gesundheitsfachkräften, und diese Fachkräfte im Gesundheitswesen sollten, zusammen mit der bestehenden Gesundheitsinfrastruktur, soweit diese nicht zerstört wurde, Vorrang beim Einsatz vor internationalen Gesundheitsfachkräften haben, die nach Gaza kommen.

Der Einsatz dieser anderen Organisationen, soweit sie die bestehenden Dienste ersetzen (und nicht verstärken), sollte nach Möglichkeit vermieden werden.

Ein Schwerpunkt für deren Tätigkeit könnte jedoch bei der Wundversorgung und Rehabilitation von Trauma-Patienten liegen und wäre auch bei der umfassenden psychischen und psychosozialen Unterstützung vieler Patienten ebenfalls von entscheidender Bedeutung.

Es geht in Gaza um die Lebenserhaltung und die grundliegenden Bedürfnisse von über zwei Millionen Menschen. Die gemeinsamen Anstrengungen von Organisationen wie dem UNRWA und der gesamten Weltgemeinschaft sind unerlässlich, um diese Katastrophe zu bewältigen.“

Ghada Al-Jadba et al., The Lancet vom 22. Februar 2024

Autor und Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit.


Titelbild: Anas-Mohammed / Shutterstock

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