„Wenn wir glauben, wir denken frei und bilden uns eigenständig eine Meinung, dann stimmt das eben nicht. Wir sind längst in dem, was Noam Chomsky manufactured consent genannt hat, den fabrizierten Konsens: die Medien und Zeitungen lenken unser Denken subtil dahin, wohin es soll.“ Das sagt Ulrike Guérot im Interview mit den NachDenkSeiten. Im Gespräch zu ihrem neuen Buch „ZeitenWenden: Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart“ geht die Politikwissenschaftlerin auf den Krieg in der Ukraine ein, prangert die Verengung des Meinungskorridors an und sagt, dass wir eine „Entkernung der Demokratie“ erleben. Von Marcus Klöckner.
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Marcus Klöckner: „Adieu, Vernunft!“ – so lautet die Überschrift eines Kapitels in Ihrem neuen Buch. Gerade wollen deutsche Politiker massiv aufrüsten. Außenminister Johann Wadephul sprach von fünf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für die Verteidigung. Was hat das noch mit Vernunft zu tun?
Natürlich nichts! Allerdings geht es im ersten Kapitel meines neuen Buches weniger um Verteidigungsausgaben, sondern grundsätzlich um die epistemischen Verdrehungen unserer Zeit: warum wir unser Denken verlieren, warum wir nicht mehr erkenntnisfähig sind, warum wir die haptische Dimension verlieren, das Internet uns den Kopf buchstäblich verquirlt wie mit einem Schneebesen, warum und wie der Wissenschaftsapparat entkernt wurde und uns in einem Szientismus hat landen lassen, der der Gesellschaft nicht mehr guttut. Follow the Science als gesellschaftliches Credo ist de facto paratotalitär, weil wissenschaftliche Ergebnisse immer der Falsifikation unterliegen und nie eine endgültige Wahrheit bieten.
„Wenn die Logik des 21. Jahrhunderts heißt, dass wir uns totrüsten, dass wir Frieden mit immer mehr Waffen schaffen wollen, dann ist das nicht die Zukunft, die ich mir vorstelle“, sagte gerade Heribert Prantl bei „Miosga“. Was ist das für eine „Logik“, die Prantl hier kritisiert?
Nun, es geht ja nicht um „Logik“, sondern um Propaganda. Das wollte Heribert Prantl wohl durch die Blume sagen. Waffen, die produziert wurden, werden immer benutzt. Immer mehr Waffen werden also zu immer mehr oder längerem Krieg führen. In den 1970er-Jahren unter Willy Brandt und Egon Bahr wussten wir das in Europa noch, weswegen Brandt zusammen mit Olaf Palme und Bruno Kreisky eine Entspannungspolitik und eine europäische Sicherheitsarchitektur mit, nicht gegen Russland konzipiert hatten. 1925 hat der Völkerbund in einem Bericht festgestellt, dass der Erste Weltkrieg, der ab etwa 1916 militärisch schon entschieden und „nur“ noch ein Abnutzungskrieg war, letztlich zwei weitere Jahre gedauert hat, weil die Rüstungsindustrie das befördert hat.
Und heute ist doch auch der Ukraine-Krieg …
… militärisch längst entschieden, und zwar schon seit Monaten. Von einem „Siegfrieden“ der Ukraine, wie Friedrich Merz und Emmanuel Macron das bei ihrer ersten Begegnung ist Paris nannten, kann keine Rede sein, abgesehen davon, dass das eher ein Vokabular des 20. Jahrhunderts ist. Trotzdem geht das Sterben an der Front weiter, denn auch heute geht es bestenfalls um die Börsenlogik von Rheinmetall: Am Gebäude der Firmenzentrale von Rheinmetall – und übrigens auch am Konrad-Adenauer-Haus in Berlin – hängen die Fahnen der Ukraine und Israels, jeweils mit der Bildunterschrift #stand with Ukraine/Israel. Bei Rheinmetall kann man das ja noch nachvollziehen, wenn man es auch moralisch verurteilt, aber bei der Parteizentrale der CDU würde man sich ein #stand for Peace wünschen.
Wie blicken Sie auf das Verhalten der CDU?
Hier ist nicht ausreichend Platz, um angemessen differenziert zu diskutieren, dass die Bundesregierung unter der Führung der CDU durch die Waffenlieferungen letztlich in dem einen Fall ein Regime in der Ukraine stützt, das unter der Kuratel von Protofaschisten und Bandera-Anhängern steht; und im anderen Fall eine israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu, gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt und die unter der Kuratel von zionistischen Ultras steht, gegen die die eigene Bevölkerung wochenlang im Herbst 2023 demonstriert hat. Beides ist de facto nicht kompatibel mit dem Grundgesetz, das nicht nur eine Friedenspflicht aus Artikel 125 und 126 GG kennt, sondern auch das Verbot von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Es ist beschämend, dass über diesen Verfassungsbruch von Regierung und Regierungspartei öffentlich nicht ausreichend reflektiert wird. Das thematisiere ich im letzten Kapitel meines Buches.
Sie wissen selbst, wie mit jenen umgegangen wurde, die die vorherrschende Erzählung zum Krieg in der Ukraine hinterfragt haben. Allein der Begriff „Stellvertreterkrieg“ war und ist immer noch in weiten Teilen der deutschen Medien ein Tabu. Aktuell finden sich folgende bemerkenswerte Zeilen in einem Artikel der New York Times: „Aus Moskaus Sicht müssen die Russen ihre Verteidigung verstärken, um sich vor der NATO-Erweiterung zu schützen, die schon immer ein wunder Punkt war. Die baltischen Staaten waren die ersten Mitglieder der ehemaligen Sowjetunion, die der NATO beitraten, wodurch weite Teile der russischen Grenze an die der NATO stießen. Die Aussicht, dass die Ukraine, eine noch größere ehemalige Sowjetrepublik, diesem Beispiel folgen könnte, war für Moskau so bedrohlich, dass sie zu einem der Gründe für den verheerendsten Landkrieg seit Generationen wurde.“ Würden Sie diese Zeilen bitte im Hinblick auf die „Wahrheit“ zum Ukraine-Krieg in der deutschen Medienlandschaft kommentieren?
Nun, da gibt es nicht viel zu kommentieren, außer dass die NYT den deutschen Leitmedien voraus ist. Immerhin veröffentlichte diese Zeitung inzwischen mehrere Artikel über die Mitverantwortung des Westens an dem russisch-ukrainischen Krieg, zum Beispiel durch die NATO-Osterweiterung, und bestreitet nicht mehr, dass es ein amerikanischer Stellvertreterkrieg ist. Wenn das schon amerikanische Zeitungen tun, dann muss man sich doch fragen, warum europäische Leitmedien es nicht auch eingestehen oder so formulieren können. Wobei die NYT die amerikanische Einmischung in den Krieg auch noch glorifiziert, statt sie zu kritisieren. Darauf haben ja die NDS in einem sehr guten Beitrag von Sabiene Jahn vom 2. April dankenswerterweise hingewiesen.
Kurz: Wir leben in einem Zustand kompletter kognitiver Dissonanz, und das ist ein großes Problem. Denn der sogenannte „Wertewesten“ wird seine Bevölkerungen bald damit konfrontieren müssen, dass man ihnen Märchen mit Blick auf die Genese dieses Krieges erzählt hat, der heute noch mantraartig als „völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg“ geframed wird, wo doch eigentlich, wären alle nüchtern und bei Verstand, längst klar ist, dass die Kriegsschuldfrage neu aufgerollt werden müsste – und sicher auch wird. Das dürfte ein unschöner Moment für den „Westen“ und seine Gesellschaften werden.
„Willkommen in der Realität. Die Vernunft ist zerstört, die Gesellschaften sind zersetzt.“ Auch diese Zeilen stammen aus Ihrem Buch. Was bedeutet es für eine Demokratie, für eine Gesellschaft, aber auch für den Journalismus, wenn Medien und Politik über Jahre eine falsche, ja: propagandistisch kontaminierte Pseudorealität aufrechterhalten und der Öffentlichkeit als „Wahrheit“ verkaufen? Wir haben das bei Corona erlebt, aber eben auch jetzt, was den Krieg in der Ukraine angeht. Wie sehen Sie das?
Das ganze irritierende Zeitgeschehen, das zunehmend zeigt, dass (auch) westliche, europäische Staaten, die das nie von sich selbst annehmen würden, problematischen Narrativen unterliegen, mit denen ganze Gesellschaften in die Gefügigkeit oder gar Kontrolle gelenkt werden, fand mit Corona seinen ersten, wirklich für viele sichtbaren Auswuchs.
Es gab ja schon zuvor sogenannte false flag operations [Operationen/Missionen unter falscher Flagge, Anm. d. Red.], die medial durchgestochen wurden, etwa die weapons of mass destruction [Massenvernichtungswaffen, Anm. d. Red.] im zweiten Irak-Krieg, die dann nie gefunden wurden; oder die sogenannte Brutkastenlüge im ersten Irak-Krieg. Auch die „faule-Griechen“-Erzählung während der Bankenkrise war letztlich eine Legende, waren doch im Wesentlichen die deutschen Landesbanken die Treiber oder Auslöser der Bankenkrise, nicht die Griechen.
Kurz: Wir sind in – meines Erachtens immer stärker – gelenkten Öffentlichkeiten. Aber es ist schwer, das zu benennen und zu verstehen, denn in der Selbstwahrnehmung sind wir ja in Europa und besonders in der Bundesrepublik Deutschland gewohnt, die Guten zu sein: demokratische Staaten mit freier Presse, Meinungsäußerung und Wissenschaftsfreiheit. Repressionen gegen Journalisten, Einengung von Meinungskorridoren etc. – das gibt es aus unserer Sicht nur in den Staaten der Achse des Bösen, also Russland, China, Iran oder der Türkei. Vielen fällt es schwer, auch nur ansatzweise zu denken, dass es auch hier anders sein könnte. Diese moralische Überlegenheit fällt uns jetzt auf die Füße, denn die meisten Bürgerinnen und Bürger bemerken gar nicht, wie sehr sie bei ARD und ZDF zwar in der ersten Reihe sitzen, aber de facto ge-brainwashed werden – und zwar in fast allen ihren politischen Einstellungen. Zum Beispiel haben vor ein paar Tagen Zehntausende in Rotterdam für Gaza protestiert. Alle Demonstranten waren in Rot gekleidet, sodass es von oben aussah, als versänke ganz Rotterdam in einem Blutbad. In den deutschen Leitmedien waren diese Bilder nicht zu sehen. Nicht-Berichten bzw. Verschweigen ist die große Schwester der Lüge.
Bei aufgeklärter, neutraler oder investigativer Berichterstattung der jeweiligen Vorgeschichten und einer Kontextualisierung der Konflikte in der Ukraine und in Gaza wäre die derzeitige Koste-es-was-es-wolle-Unterstützung für die Ukraine und Israel meines Erachtens politisch gar nicht möglich. Denn dann müsste man unter anderem die Ereignisse auf dem Maidan 2014 in neuem Licht betrachten. Oder man müsste konzedieren, dass Verteidigung etwas anderes ist als Vergeltung. Von anderen Themen wollen wir erst gar nicht reden. Es gibt heute eine umfassende historische oder medienwissenschaftliche Forschung über neuro-psychologische Kriegsführung, also die gezielte Lenkung von öffentlichen Meinungen, die sich mittels KI, Algorithmen und Sozialen Medien gerade in den letzten Jahren perfektioniert hat. Wenn wir glauben, wir denken frei und bilden uns eigenständig eine Meinung, dann stimmt das eben nicht. Wir sind längst in dem, was Noam Chomsky manufactured consent genannt hat, den fabrizierten Konsens: Die Medien und Zeitungen lenken unser Denken subtil und unbewusst dahin, wohin es soll. Meinungen, die nicht sein sollen oder keine Wirkung entfalten sollen, werden schon früh aussortiert – und wenn sie dann doch mal auftauchen, werden sie verlacht oder wahlweise als Querdenken, rechts oder Antisemitismus abgestempelt. Davor wiederum hat dann inzwischen jeder Angst. Also auferlegt man sich Denkverbote, weil man dazu ja nicht gehören will. Der Historiker Jonas Tögel von der Universität Regensburg hat dazu ausführlich geforscht. Seine Bücher gehörten eigentlich in alle Haushalte und Schulen.
Was passiert, wenn auf falsche Prämissen gesetzt wird, weiß doch im Prinzip jeder. Die sich anschließenden Entscheidungen werden logischerweise mindestens genauso falsch sein. Wenn die Prämisse lautet, ‚Russland will uns angreifen‘, dann ist Aufrüstung logisch. Ist die Prämisse aber falsch, wird zunehmend die gesamte Politik von einem Bruch mit der Realität angeleitet. Und wir haben bei Corona gesehen, was passiert, wenn Politik, Medien und weite Teile der Gesellschaft die Scheinrealität als real betrachten. Sehen Sie eine Möglichkeit, wie dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann?
Es geht gar nicht mehr oder nicht mehr nur um falsche Prämissen, das wäre ja fast noch einfach. Es geht, wie ich vor allem im ersten Kapitel meines Buches ausführe, darum, dass uns die epistemischen, also erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wegbrechen, die Realität zu erfassen. Das Internet, so sagen Neurologen, verändert die Lesegewohnheiten und mithin die Denkstrukturen. Wissen wird beim Wischen nicht mehr ganzheitlich erfasst, sondern man (ver-)bohrt sich Hyperlink um Hyperlink immer mehr in Details. Das räumliche Denken geht verloren, Haptik und Gefühle dazu, mit denen man Verstandeswissen überprüft. Es findet keine Kontextualisierung mehr statt. Man kann vieles verstehen, aber hat oft nichts begriffen. Das Internet, so sagt zum Beispiel die französische klinische Psychologin Adriane Bilheran, ist ein Instrument gezielter Infantilisierung und führt strukturell zum Verlust von Orientierung. Die meisten Leute schauen heute auf ihr Handy, wenn man sie fragt, in welcher Straße sie sind. Kaum jemand also kann sich noch eigenständig verorten. Eine solche Gesellschaft kann wie eine Schafherde überall hingeführt werden, da geht es nicht mehr um falsche Prämissen. Ganz davon abgesehen, dass praktisch niemand mehr liest, das Video ist das neue Buch. Aber was man hört, hat man sich eben nicht erlesen, es ist nicht zum Eigenen geworden.
Nun haben wir noch gar nicht über den Titel Ihres Buches gesprochen: „ZeitenWenden“. Damit greifen Sie jenen Begriff auf, der in Deutschland der Politik zur Legitimierung der Aufrüstung dient. Wie ist der Begriff in Ihrem Buch angelegt?
„ZeitenWenden“, ja, den Titel habe ich gewählt, weil der Begriff Zeitenwende meines Erachtens geradezu inflationär benutzt wurde in den letzten Monaten, ähnlich wie damals alternativlos. An der Zeitenwende sind jetzt wahlweise Putin oder Trump schuld.
Im ersten Kapitel stelle ich daher Überlegungen an, was eine Zeitenwende eigentlich ist, nämlich eine Zeit, in der Atlanten oder Karten neu gemacht werden. Denn darum geht es ja im Kern, egal, ob Wladimir Putin auf Teile der Ukraine Anspruch erhebt oder Donald Trump sagt, Kanada und Grönland müssten amerikanisch werden: Es geht buchstäblich um die Neuvermessung der Welt. Die Zäsur, also die Zeitenwende, die wir gerade durchlaufen, ist die Abwendung von der Pax Americana hin zu einer multipolaren Welt. Aber anstatt das als solches zu benennen und zu diskutieren – und möglichst noch zu fragen, welchen Platz Europa denn in der multipolaren Welt einnehmen soll – zeigt man mit dem Finger auf Putin und Trump, verharrt in Besitzständen und will die alte Ordnung verteidigen.
In meinem Buch versuche ich darum, die paradigmatischen Verschiebungen, die wir gerade erleben, neu zu beleuchten. Zum Beispiel bestreite ich, dass es derzeit – wie allgemein kolportiert – darum geht, dass Europa jetzt von den USA gleichsam allein gelassen wird und darum selbst seine Verteidigung ausbauen und möglichst noch allein in den Krieg gegen Russland ziehen soll. Sondern ich skizziere das, was ich einen transatlantischen Bürgerkrieg nenne: Ein Teil der USA bekämpft Trump, zieht über den Atlantik hinweg mit transatlantischen Eliten in Europa an einem Strang, während die sogenannten Populisten in Europa Trump feiern. Es geht hier meines Erachtens um ein Schisma zwischen Liberalismus und Populismus, was ein neues, gesellschaftspolitisches Paradigma, keine geostrategische Frage ist.
Ich spreche von einem Moment der stasis (griechisch), einem Moment der gesellschaftlichen Stockung. Zwei Teile einer Gesellschaft – in den USA ebenso wie in Europa – sind gestockt, verrühren sich also gleichsam nicht mehr, so wie ranzige Milch im Kaffee ausflockt. Daraus ergibt sich das, was man gemeinhin lawfare nennt, also die Fortführung der Politik mit juristischen Mitteln: Marine Le Pen darf nicht bei den Präsidentschaftswahlen antreten, ein rumänischer Präsidentschaftskandidat wird ausgewechselt, die AfD soll verboten werden usw. Diese Erosion oder die Aushebelung des Politischen an sich nenne ich Zeitenwende, also eigentlich die Entkernung der Demokratie mit (vermeintlich) demokratischen Mitteln.
Was kann der einzelne Bürger tun, um sich der Politik entgegenzustellen?
Zu verstehen, was ist, zu versuchen, eine präzise Analyse der Vorgänge der Zeit zu haben, ist immer schon die halbe Miete. Sagen, was ist, ist laut Hannah Arendt der politische Akt per se. Wenn wir schon einmal dahin kämen, nämlich dass viele Bürgerinnen und Bürger sich dessen gewahr würden und mithin die Propaganda entlarvten, die uns umgibt, besonders mit Hinblick auf die Ukraine und Israel, dann wären wir dem, was grundgesetzliches Gebot der Bundesrepublik ist – nämlich einer Friedenspflicht – schon ein bisschen näher. Wie sagte Willy Brandt: Ohne Frieden ist alles nichts! Wir werden eine gute, demokratische und sozial gerechte Zukunft in der Bundesrepublik und für ganz Europa nicht gestalten können, wenn wir den russisch-ukrainischen Krieg nicht bald vom Kontinent bekommen. Diese Friedensarbeit muss unbedingt mit Blick auf die jüngeren Generationen intensiviert werden, die der Kriegspropaganda, auch und insbesondere in den Schulen, besonders unterliegen. Es ist auffällig, dass die ohnehin schon schwächelnde Friedensbewegung eher von den Ü-60-Jährigen getragen wird, „Unter-30“ findet sich kaum.
Konkret muss an den Schulen der Beutelsbacher Konsens aus den 1970er-Jahren wieder zur Anwendung kommen, der ein Überwältigungsverbot enthält: „Gemäß dem Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot) dürfen Lehrkräfte Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen Schüler in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung bilden zu können. Dies ist der Zielsetzung der politischen Bildung geschuldet, die Schüler zu mündigen Bürgern heranzubilden.“ Davon sind wir inzwischen meilenweit entfernt, ganz egal, ob es dabei um Soldaten in der Schule oder frühkindliche Sexualisierung geht. Alle Eltern, alle Schüler, alle Lehrer, alle Gewerkschaften könnten auf diesen verbrieften Rechtsbestand hinweisen und hier als Bürger aktiv werden, das wären schon viele!
Sie haben zum Schluss des Buches eine „Kleine Hausordnung für die Republik“ aufgestellt. Dort heißt es zum Beispiel unter Punkt 1: „Jeder besteht darauf, Bürger dieser Republik zu sein, nicht Mensch in diesem Lande.“ Das ist ein bemerkenswerter Gedanke. Würden Sie ihn bitte erläutern?
Da gibt es doch eigentlich gar nicht so viel zu erläutern, oder? Das Gegensatzpaar zum Menschen ist das Tier. Wir sind aber eben nicht, wie Angela Merkel das immer sagte, die Menschen in diesem Lande, sondern die Bürger dieses Landes, und als solche hat eine Kanzlerin uns zu adressieren. Der Verfall der politischen Kultur der Bundesrepublik hat meines Erachtens damals begonnen. Anders formuliert: Mensch-sein ist eine vorpolitische Kategorie. Bürger jedoch bezeichnet die Beziehung zum Staat, genauer: zur Republik, zur res publica, also dem allgemeinen Wohl. Wir alle sind als Bürger gehalten, an diesem Gemeinwohl mitzuwirken. Hannah Arendt weist zu Recht darauf hin, dass die Republik das inter-esse, also das Zwischen-Sein der Bürger in einem Gemeinwesen organisiert, denn niemand lebt allein.
Auch Immanuel Kant sprach bekanntlich vom mündigen Bürger, nicht vom mündigen Menschen. Ohne mündigen Bürger kann keine Demokratie funktionieren. Wenn wir uns auf vorpolitische Kategorien reduzieren lassen, dann wird es schwierig.
Was können die Bürger noch tun?
Nun, fast würde ich – ein bisschen schalkhaft – antworten wollen: Mein Buch lesen? Ich wünsche mir wirklich eine große, breite, ehrliche, offene, strittige, heftige Diskussion über die Ideen, Theorien und Thesen meines Buches. Ich bürste vieles in dem Buch gegen den Strich, spreche mich vehement gegen die Brandmauer aus, ohne jedoch die AfD zu hofieren. Die kleine Hausordnung für die Republik ist eigentlich genau das: die Bitte, dass wir aufhören mit kindischem oder kleinkariertem Geschwätz, mit Getue und lawfare, mit Cancel Culture, Denunziantentum, gegenseitigem Schlechtreden und Ausgrenzen; sondern dass wir wieder fair und ehrlich über Sachargumente streiten, wie mündige Bürger eben, die wehrhaft sind, die kein Correctiv oder Fakten-Checker brauchen, um sich ihre freie Meinung zu bilden, und die ihre politischen Geschicke in die Hand nehmen, statt sie der KI zu überlassen.
Eigentlich ist mein Buch eine Ode an die Republik, eine Volte gegen die derzeitigen libertären Versuchungen und – im letzten Kapitel – vor allem der Versuch, über eine völlige Neuausrichtung von Europa jenseits der EU nachzudenken.
Lesetipp
Ulrike Guérot: ZeitenWenden: Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart. Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, gebundene Ausgabe, 224 Seiten, ISBN 978-3864894855, 24 Euro
Titelbild: Carmela Negrete Navarro