Vorbemerkung der Redaktion: Wir veröffentlichen hier einen Vortrag von Sevim Dagdelen. Es ist eine „Abrechnung mit der NATO“. Sie hat diesen Vortrag vor Kurzem in Madrid gehalten.
Für mich war es immer eine Motivation, genau über das zu schreiben, was zu den großen Mysterien unserer Zeit gehört. Und da haben wir die NATO, den mächtigsten Militärpakt der Erde mit den USA als Führungsnation, die sich immer weiter ausdehnt und auch im Krieg in der Ukraine eine nicht unerhebliche Rolle spielt.
Über diese NATO gibt es praktisch nicht ein kritisches Buch, das den Militärpakt in allen seinen Facetten zu beleuchten versucht. Wir können lange spekulieren, woran das liegt. Ich weiß nicht, wie die Situation in Spanien ist, aber von Deutschland kann ich sagen, dass es nicht einen Hochschullehrer gibt, der wagt, die NATO zu kritisieren; nicht einen Lehrstuhl, bei dem Studenten irgendetwas Kritisches dazulernen können; nicht eine Gewerkschaft, die zumindest eine distanzierte Position zur NATO hat. Das ist doch bemerkenswert. Woher kommt dieses Gesetz des Schweigens?
Dagegen gibt es Tausende Publikationen, die das Selbstbild der NATO wiedergeben, die scheinbar von der NATO-Webseite abschreiben und dies dann als aufklärerische Position zu vermitteln versuchen. Der große Aufklärer Immanuel Kant hat einmal als Definition für Aufklärung geschrieben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“
Unmündigkeit bedeutet dabei das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Die Aufklärung fordert uns auf, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen und nicht blindlings Autoritäten zu folgen.
Die Aufklärung über den größten Militärpakt der Welt, der expandiert und eskaliert, Kriege führt, einen Völkermord unterstützt, sich terroristischer Mittel bedient und versucht, den globalen Hegemonieanspruch der USA mit durchzusetzen. Und nicht zuletzt können wir anhand der massenhaften Reproduktion des Selbstbildes der NATO viel darüber lernen, wie Propaganda funktioniert und wie sie notwendiger Teil einer Kriegsvorbereitung ist.
Mythos vom Verteidigungsbündnis
Wie wir sehen, ist die NATO kein Verteidigungsbündnis. Sie führte aber nicht nur Kriege in der Vergangenheit. Die NATO zielt aktuell auf Expansion in Europa durch ständige Erweiterungen bis an die Grenze Russlands und in Asien gegen China durch bilaterale Verträge. Die NATO fordert im Stellvertreterkrieg in der Ukraine Russland heraus. Die damalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat als Kriegsziel ausgegeben, „Russland zu ruinieren“, die EU-Außenbeauftragte Kallas will Russland, wie einst Nazi-Deutschland die Sowjetunion, in viele kleine Nationen zerschlagen. In der deutschen Stadt Wiesbaden ist das Hauptquartier für die Ukraine. Ohne die NATO-Hilfe wäre dieser Krieg für die Ukraine nicht weiter führbar. Die NATO setzt, wie wir später sehen werden, auf die bedingungslose Fortsetzung des Krieges, weil sie zumindest Russland schwächen will, auch wenn dies weitere Hunderttausende tote ukrainische Soldaten bedeutet.
Mythos vom Demokratiebündnis
Der Mythos des Bündnisses der Demokratien stellt die Geschichte der NATO auf den Kopf. Salazar war sogar Gründungsmitglied, die Kolonialkriege Portugals waren nichts anderes als NATO-Kriege. Die Militärputsche in Griechenland und der Türkei waren kein Hindernis für eine NATO-Mitgliedschaft. Mit Spanien unter Franco gab es im Grunde eine NATO-Mitgliedschaft light. Die NATO hatte durch die Stay-Behind-Einheiten Strukturen für Putsche etabliert, wenn zum Beispiel wie in Italien die Beteiligung einer kommunistischen Partei an der Regierung drohte, die die NATO-Mitgliedschaft etwa in Frage stellen würde.
Heute ist die NATO eine Organisation, die mit Diktaturen in aller Welt bestens kooperiert. Nicht die Demokratie, sondern die geopolitische Ausrichtung ist das entscheidende Kriterium. Daran hat sich seit ihrer Gründung 1949 nichts geändert. Ja, man muss in der Konsequenz formulieren, dass die NATO eine Organisation ist, die die demokratische Souveränität verhindert. Um die Hegemonie der USA zu unterstützen, sind die europäischen NATO-Staaten einen geradezu teuflischen Pakt mit Washington eingegangen. Sie verzichten auf ihre Souveränität und erhalten im Gegenzug ein Sicherheitsversprechen, das aber nicht trägt, gerade weil die USA jetzt auf eine Arbeitsteilung in der NATO drängen.
Die Europäer, allen voran die Deutschen, sollen Russland konfrontieren, während die USA es in Asien mit China aufnehmen. Besichtigen ließ sich dieses Vasallenverhältnis etwa beim Besuch des deutschen Kanzlers in Washington. Wie ein Schuljunge lauschte Merz den Ausführungen von US-Präsident Trump im Weißen Haus. Devot verzog der deutsche Regierungschef selbst dann keine Mine, als Trump die Zerstörung der wichtigsten Energieversorgungsleitung, der Nord-Stream-Pipeline, für sich reklamierte. Merz trinkt eben auch noch den Kakao, durch den er gezogen wird. Das einzige Anliegen, das er vorgetragen hat, war der unbedingte Wille, den Krieg in der Ukraine fortzuführen und die Ukraine auch noch pauschal von allen Angriffen auf zivile Strukturen freizusprechen, was zumindest kurz nach den Terroranschlägen auf Brücken in Russland, bei denen Zivilisten getötet wurden, einen fahlen Beigeschmack hatte.
Die internationale Kräfteverschiebung hin zu den BRICS-Staaten aber wird von Merz und Co. einfach nicht wahrgenommen und konsequent ignoriert. Die Europäer werden in einen verlorenen Krieg gedrängt, der für ihre wirtschaftliche Macht und den sozialen Zusammenhalt ihrer Gesellschaften zu einer existenziellen Bedrohung wird.
Helfer bei Terror und Völkermord
Die NATO gibt sich als Wertebündnis, aber ihre beiden führenden Staaten, die USA und Deutschland, liefern der rechtsextremen Netanjahu-Regierung in Israel Waffen für einen Völkermord an den Palästinensern. Und lassen wir uns hier keinen Sand in die Augen streuen: Das Ganze, die NATO, ist für die Handlungen seiner Teile, die Mitgliedstaaten, voll verantwortlich. Es sei denn, es hätte dazu irgendwelche Diskussionen im NATO-Rat gegeben – hat es aber nicht. Das heißt, die NATO verantwortet den Völkermord in Gaza.
Die NATO ist also kein Wertebündnis, sondern ein Militärpakt, der den Völkermord eines engen Verbündeten unterstützt. Die NATO ist kein Wertebündnis, sondern ein Militärpakt, der das Anwenden terroristischer Methoden unterstützt. Sich als Militärblock gegen den Terrorismus drückend, ist die NATO damit selbst ein terroristisches Bündnis. Mit ihren Waffen werden Angst und Schrecken im Gazastreifen verbreitet. Mit ihren Waffen sind bereits über 50.000 Palästinenser getötet worden, 70 Prozent davon Frauen und Kinder. Mit ihren Waffen wird die Blockade aufrechterhalten, deretwegen Kinder im Gazastreifen verhungern, während wir hier debattieren.
Vielleicht müssen wir hier sogar stärker formulieren: Wer die NATO angesichts dieses Grauens als Wertebündnis bezeichnet, der lügt und ist ein Unterstützer des Völkermords. Der deutsche Schriftsteller Bertolt Brecht hat zu diesen Leuten einmal folgende richtige Beobachtung gemacht: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“
Wir müssen davon ausgehen, dass man in den Amtsstuben in Washington und Brüssel sehr wohl die Wahrheit kennt.
So, wie 2022 die Istanbuler Verhandlungen durch den Westen torpediert wurden, so auch im Jahr 2025 durch die Unterstützung der ukrainischen Angriffe auf die russischen Atomstreitkräfte vor wenigen Tagen. Trotz aller Friedensrhetorik des US-Präsidenten werden von den europäischen NATO-Verbündeten alle Weichen gestellt, um den Krieg gegen Russland weiterführen zu können. Die Ukrainer sind ihnen dabei Mittel zum Zweck. Und einen Satz zum Völkerrecht: Diejenigen, die die Invasionen und Völkerrechtsbrüche der USA immer unterstützt haben, schwingen sich heute zu den großen Verteidigern des Völkerrechts auf. Das aber ist wenig glaubwürdig. Und wer die Abspaltung des Kosovo anerkannt hat, mit welchem Recht kann er heute die Lostrennung von Regionen wie der Krim von der Ukraine kritisieren? Und noch dazu, wo wir es mit einer nationalistischen Diktatur in Kiew zu tun haben, die die nationalen Minderheiten unterdrückt und sich in eine Nazi-Vergangenheit einschreibt. Die NATO will, dass bis zum letzten Ukrainer gekämpft wird, und sie ist dabei, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, indem etwa Taurus-Raketen von Deutschland geliefert werden, die Moskau treffen könnten und die nur mit deutschen Bundeswehrsoldaten bedienbar sind.
Historische Aufrüstung
Wir stehen wenige Tage vor einem historischen NATO-Gipfel. In Den Haag soll eine historische Aufrüstung beschlossen werden: nahezu eine Verdoppelung der Militärausgaben der NATO auf drei Billionen Dollar. Für Deutschland hieße das, in Zukunft fast die Hälfte des Bundeshaushalts für Militär auszugeben, 225 Milliarden Euro. Für Spanien würde es mehr als das Dreifache der bisherigen Militärausgaben bedeuten – über 70 Milliarden Euro. Und machen wir uns keine Illusionen: Diese gigantische Aufrüstung hat mit Verteidigung nichts zu tun, sondern mit Kriegsvorbereitung; denn man ist bereit, ein Vielfaches der Rüstungsausgaben Russlands und Chinas auszugeben. Die Aufrüstung der europäischen NATO-Verbündeten oder der EU ist auch keine Stärkung europäischer Souveränität, sondern eine Verstärkung des US-Vasallentums.
Diese Aufrüstungsentscheidung der NATO ist das Startsignal für einen sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Denn jeder Euro, der für die Kriegstüchtigkeit ausgegeben wird, muss am Ende bei Renten, Sozialleistungen, Bildung und Gesundheit eingespart werden. Die NATO ist der Militärblock, der den sozialen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, für gigantische Profite des militärisch-industriellen Komplexes und für die Aufrechterhaltung einer niedergehenden westlich-kapitalistischen Ordnung.
Neokoloniale Kontrolle über den Globalen Süden
Wohl am wenigsten bekannt ist, dass die NATO sich als globales Bündnis versteht. Der Nordatlantik ist mittlerweile die ganze Welt – oder, um mit einem James-Bond-Titel zu sprechen: „The world is not enough“, da man auch den Krieg in den Weltraum tragen möchte.
Gerade der Wirtschaftskrieg gegen Russland und in Teilen gegen China dient zum einen dazu, den Niedergang der Europäer zu beschleunigen und dazu einen lästigen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen, der sich durch die Sanktionen selbst zerstört, etwa durch Energiepreise, die die Europäer dann nicht mehr bezahlen können, oder indem man eigene Exportchancen zerstört.
Es geht aber auch darum, die neokoloniale Kontrolle über den Globalen Süden zu erneuern. Ländern soll in neokolonialer Art und Weise vorgeschrieben werden, mit wem sie Handel zu treiben haben und mit wem nicht. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland ist deshalb auch ein Wirtschaftskrieg des Westens gegen den Globalen Süden. Die Emanzipation des Globalen Südens, die auch mit dem wirtschaftlichen Aufstieg etwa Chinas verbunden ist, soll wieder rückgängig gemacht werden. Es ist eine gefährliche Illusion, die den äußersten Widerstand des Globalen Südens nach sich ziehen wird. Die Europäer aber, die versuchen, in diesem Rahmen koloniale Abhängigkeiten zu erneuern, dürften an der Seite der USA schweren Schiffbruch erleiden. Der Aufstieg des Südens ist nicht mehr aufhaltbar. Die NATO, die sich dies auf die Fahnen schreibt, wird immer weiter von der Gefahr der eigenen Überspannung erdrosselt.
Wer genau hinschaut, der muss erkennen, dass der Hauptfeind der NATO nicht mehr Russland, sondern China ist. Die USA versuchen, Ressourcen nach Asien umzuleiten, um sich für einen Krieg gegen das Land zu wappnen. Dabei setzten sie auf eine Arbeitsteilung mit den Europäern. Die NATO geht nach Asien – vom Nordatlantik in den Indo-Pazifik – in erster Linie durch bilaterale Sicherheitsverträge. Japan stimmt sich bereits aufs Engste mit Brüssel ab. Die gigantische Aufrüstung der NATO soll einen Zweifrontenkrieg gegen Russland und China in Europa und Asien ermöglichen. Dabei wird das Augenmerk darauf gelegt, dass diese Kriege möglichst als Stellvertreterkriege geführt werden, um sich selbst zu verbergen und andere Ressourcen, auch „Humanressourcen“ nutzen zu können.
„Wie hältst Du es mit der NATO?“
In Goethes Roman „Faust“ gibt es eine Figur, Mephistopheles, der immer Böses tun will, aber am Ende immer nur Gutes schafft. Die NATO schweißt durch ihre Politik genau die Staaten zusammen, die zur gefährlichsten Herausforderung seit ihrem Bestehen werden. Durch ihre Politik der Überspannung manövriert sich der Militärpakt in seine größte Krise. Wer an sozialer Gerechtigkeit und den Interessen der Arbeiter interessiert ist, der muss der NATO und ihrer Kombination aus gigantischer Aufrüstung und sozialem Krieg gegen die eigene Bevölkerung in den Arm fallen.
Die Gretchenfrage für alle Parteien im globalen Nordwesten heißt deshalb heute: „Wie hältst Du es mit der NATO?“
Wer die NATO nicht mehr kritisiert und sich in Wirtschafts- und Stellvertreterkriege des Pakts einschreibt, egal ob Sozialdemokratie, Linke oder Kommunisten, der entkernt sich selbst ideologisch. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, so haben wir mit Kant am Anfang gesagt. Wir aber haben eine Welt zu gewinnen, die es zu verändern gilt.
P.S.: Veranstaltungshinweis:
„Alle Zeichen stehen auf Sturm. Europa. Die Bundesregierung. Und der Krieg.”
Diskussionsveranstaltung zum 80. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen
- mit Michael von der Schulenburg (Abgeordneter im EU-Parlament, ehem. Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen mit 34 Jahren Erfahrungen in vielen Kriegs- und Krisengebieten der Welt),
- Sevim Dagdelen (BSW-Außenexpertin, Bestsellerautorin von „Die NATO – eine Abrechnung”) und
- Reiner Braun (Friedensaktivist, Internationales Friedensbüro).
Montag, 30. Juni 2025, um 18 Uhr im Rathaus Schöneberg in Berlin
Titelbild: Deutscher Bundestag, aufgenommen von Inga Haar