Der US-amerikanische Historiker Marc Trachtenberg und der Soziologe Marcus Klöckner erhellen in ihrem Buch „Chronik eines angekündigten Krieges – Die Ukraine und das Versagen der Diplomatie“ Zusammenhänge, die unerlässlich sind, um den Ukraine-Konflikt zu durchschauen. Aber ist „Versagen der Diplomatie“ zutreffend? Müssen wir nicht davon ausgehen, dass Diplomaten im Dienst machtpolitischer Interessen ihrer jeweiligen Staaten gehandelt haben? Der US-dominierte Westen folgt bis heute der Logik des Kalten Krieges. Deutschland rüstet massiv auf. Und Russland im Kampfmodus hat jedes Vertrauen in Zusagen verloren. Von Irmtraud Gutschke.
Der Buchtitel soll an den kolumbianischen Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez denken lassen: Im Roman „Chronik eines angekündigten Todes“ (1981) rekonstruiert er den Mord an einem jungen Mann. Dieser selbst war ahnungslos, aber alle anderen im Dorf hatten die Gewalttat vorausgesehen. Wobei die Täter gar froh gewesen wären, wenn jemand sie gehindert hätte. Von sich aus konnten die Brüder nicht davon ablassen, weil es um die Ehre ihrer Schwester ging.
Ein überaus klug gewählter Titel also. Denn darin steckt ein wichtiger Zusammenhang auch für die Beurteilung politischer Sachverhalte: Ein Paradigma, eine grundsätzliche Denkweise prägt die Einschätzung einer Situation und kann einen fatalen Handlungszwang erzeugen. Wenn sich in der europäischen Politik das Dogma eingefressen hat, dass die Ukraine um jeden Preis unterstützt und Russland geschwächt werden soll, sind wir Gefangene unserer selbst.
„Europa droht in den Abgrund des Krieges zu rutschen. Längst hat die Politik die Weichen auf eine Weise gestellt, die zu der größten Aufrüstung in der bundesdeutschen Geschichte führt“, schreibt Marcus Klöckner. „Von Anfang an war für jeden nur halbwegs versierten Analysten zu erkennen, dass bei Russland die Eskalationsdominanz liegt und welcher Schluss daraus dringend zu ziehen gewesen wäre, nämlich: Alles sollte daran gesetzt werden, diesen Krieg so schnell wie nur möglich politisch zu beenden.“ [1]
Wie Deutschland immer mehr zur Kriegspartei wurde
Das Buch besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen, die sich beim Lesen in ihrer Verbindung offenbaren. Zunächst analysiert der Historiker und Politologe Marc Trachtenberg die US-amerikanischen Interessen in der Umbruchsituation 1990, die Rolle der NATO und ihre Ausdehnung nach Osten.
Dem folgt eine akribisch zusammengestellte „Chronik eines angekündigten Krieges“ aus deutscher Sicht: Marcus Klöckner, Soziologe und Medienwissenschaftler, führt vor Augen, wie Deutschland im Ukraine-Konflikt von Anfang an medial aufrüstete und sich immer mehr zur Kriegspartei mauserte. „Es begann mit 5000 Helmen“ und nun werden Taurus-Lieferungen in Betracht gezogen. Vom 26. Januar 2022 bis zum 13. April 2025 reicht die Medienschau, die an die zehn Grundsätze der Kriegspropaganda von Lord Arthur Ponsonby nach dem Ersten Weltkrieg denken lässt. [2]
Denn Deutschland ist eben von Anfang an nicht neutral gewesen. Distanzierte Analyse der Situation lag nicht im politischen Interesse. Gut zu vermitteln war Mitgefühl: Ein kleines Land, von einem großen überfallen, braucht alle Unterstützung. Es galt das Schema der guten Ukrainer und der bösen Russen – bis hin zu geradezu rassistischen Äußerungen.
„Wir dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind, jetzt im kulturellen Sinne, einen anderen Bezug zur Gewalt haben, einen anderen Bezug zum Tod haben.“ Das sagte die stellvertretende Leiterin des EU-Instituts für Sicherheitsstudien 2022 in der ZDF-Sendung Markus Lanz. [3] Florence Gaub wollte diese extreme Äußerung später relativieren, aber deutlich wird die Dämonisierung Russlands, die sich in die wurzelnde Russophobie aus Zeiten des Kalten Krieges einpasst und an nur halbherzig überwundene Naziideologie denken lässt. Als ob man endlich Revanche üben dürfte für den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.
Schon im Ersten Weltkrieg hatte Berlin auf die Förderung national-ukrainischer Bestrebungen als Kampfmittel gegen Russland gesetzt. 1941 bis 1943/44 wurde der größere Teil des Territoriums der Ukraine nach seiner Besetzung durch die deutsche Wehrmacht „als Reichskommissariat Ukraine“ von Berlin aus verwaltet. Das nährte die Hoffnung ukrainischer Nationalisten, mit deutscher Hilfe einen unabhängigen ukrainischen Staat gründen zu können, denn seit 1922 war die Ukraine eine Sowjetrepublik.
Obwohl vielen nicht bewusst, schwelt die deutsche Geschichte im Hintergrund heutiger Propaganda. Unglaublich viele Medienzitate hat Marcus Klöckner zusammengetragen. Überdeutlich wird, wie die Auswahl und Formulierung von Nachrichten der Meinungsbildung dienen. Die eigene „Front“ soll durch Ermutigungen gestärkt, Empörung gegen Russland eingebrannt werden. Andere Stimmen sind in der Minderheit.
„In der öffentlichen Debatte in Deutschland bleiben die Hintergründe des Krieges und die historischen Zusammenhänge eindimensional. Alles wirkt so, als hätte dieser Krieg keine weitreichende Vorgeschichte.“ Diese sei, so Marcus Klöckner in der Einleitung, in der Zeit zwischen 2014 und 2022 zu verorten. Weitgehend ausgeblendet wurde tatsächlich die „Anti-Terror-Operation“ gegen die selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk, welche zunächst nur innerhalb der Ukraine mehr Rechte bekommen wollten, die zwischen 10.000 und 14.000 Zivilisten das Leben kostete. [4]
Der Konflikt hätte entschärft werden können, aber die beiden Minsker Abkommen, mitunterzeichnet von Angela Merkel und François Hollande, blieben Makulatur. Kein Waffenstillstand und keine Autonomieregelung für besagte Ostgebiete. Später gab Merkel sogar zu, dass es nur darum ging, der Ukraine Zeit zu verschaffen, „um stärker zu werden, wie man heute sieht“. [5] Vielleicht um sich vom Vorwurf der Russland-Nähe reinzuwaschen (immerhin hatte sie Nord Stream II verteidigt), bekannte sie diesen Vertrauensbruch, der den Kreml ein weiteres Mal bestärkte, keiner westlichen Zusicherung zu glauben.
Zerstörtes Vertrauen
Seine Illusionen musste diesbezüglich ja schon Gorbatschow verlieren. Er gefiel sich in seinem Entschluss, den Kalten Krieg und das Wettrüsten zu beenden, fühlte sich geschmeichelt, wenn westliche Regierungschefs ihn auf Augenhöhe empfingen. Dabei hatte er zunächst noch ein riesiges Imperium im Rücken, das allerdings mit erheblichen ökonomischen Problemen belastet war. Beides bestimmte seine Verhandlungsposition. Von 1921 bis 1991 existierte die Sowjetunion auf einer Fläche von 22.402.223 km² mit einer Einwohnerzahl von zuletzt 290.100.023. Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges vergrößerte sie ihren internationalen Einflussbereich. Dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gehörten zuletzt zehn Staaten an. Dem Verteidigungsbündnis Warschauer Pakt acht (ohne Kuba, Mongolei und Vietnam, aber mit Albanien).
Gorbatschows Abkehr von einer Politik der Konfrontation war mutig. Aber im Resultat zerfiel die UdSSR, und die einst befreundeten Länder reihten sich in die Phalanx ihrer Feinde ein. Wurde Gorbatschow über den Tisch gezogen? Überaus detailliert geht Marc Trachtenberg in seiner Untersuchung dieser Frage nach. Insbesondere bezieht er sich auf das Buch „Nicht einen Schritt weiter nach Osten“ von Mary Elise Sarotte [6]. Wann und in welcher Form wurden Zusicherungen gegeben? Welche Rolle spielten Bush und Baker, Kohl und Genscher? Auf spannende Weise werden die geopolitischen Umbrüche 1989/90 mit ihren Akteuren noch einmal lebendig. Heute sehen wir ihre Ergebnisse, aber damals war alles im Fluss.
Trachtenberg zitiert Gorbatschow, eine NATO-Erweiterung sei damals überhaupt nicht diskutiert worden, führt aber im gleichen Atemzug Zitate von Bush und Mitterand an, dass es durchaus ein Interesse bei den osteuropäischen Verbündeten gegeben habe. Sie hätten indes „nicht allzu lautstark auf dieses Thema“ gedrängt in der Sorge, „dass ein zu schnelles Vorgehen Gorbatschows Position innerhalb der sowjetischen Führung untergraben könnte“. [7]
Eine überaus wichtige Feststellung. Man musste Gorbatschow stützen und im Vertrauen wiegen, so lange es in seinem Rücken noch Kräfte gab, die eine Rückkehr zu früheren Verhältnissen wollten. „Manche meiner Kritiker halten mir bis heute vor, ich hätte damals nicht darauf bestanden, vertraglich festzuhalten, dass die NATO sich zukünftig nicht nach Osteuropa ausdehnen dürfe“, schrieb er 2019. „Eine solche Forderung wäre absurd, ja geradezu lächerlich gewesen, denn der Warschauer Pakt existierte ja noch. Man hätte uns sofort beschuldigt, ihn preisgegeben zu haben.“ [8]
Wer hätte „uns“ beschuldigt? Nicht die USA, sondern der eigene militärisch-industrielle Komplex. In seiner außenpolitischen Mission kämpfte Gorbatschow zugleich gegen die Gegner im eigenen Land und scheute sich nicht, vollendete Tatsachen zu schaffen. Solange der Warschauer Pakt als Pendant zur NATO existierte, hatte er international noch eine starke Verhandlungsposition. Und so lange er das Ja-Wort zur Deutschen Einheit nicht gegeben hatte. Denn dabei musste auch die deutsche NATO-Mitgliedschaft geklärt werden.
Deutschland außerhalb der NATO?
Trachtenberg zitiert den damaligen US-Außenminister Baker: „Angenommen, die Wiedervereinigung findet statt, was würden Sie bevorzugen: ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, absolut unabhängig und ohne amerikanische Truppen; oder ein vereinigtes Deutschland, das seine Verbindungen zur NATO beibehält, aber mit der Garantie, dass sich … die Truppen der NATO nicht östlich der gegenwärtigen Grenze ausbreiten werden?“ Gorbatschow antwortete, dass „eine Ausweitung der NATO-Zone nicht akzeptabel ist, aber dass die Anwesenheit amerikanischer Truppen eine eindämmende Rolle spielen kann“. Denn es sei möglich, „dass ein vereinigtes Deutschland nach Wegen suchen könnte, um wieder aufzurüsten und eine neue Weltmacht zu schaffen, wie es nach Versailles geschah. Wenn Deutschland außerhalb der europäischen Strukturen steht, könnte sich die Geschichte wiederholen.“ [9]
Auch in Großbritannien und in Frankreich hat es bekanntlich Vorbehalte gegen die deutsche Vereinigung gegeben. Interessant, wie sich die USA da als Garant anboten, Deutschland durch die Einbindung in EU und NATO an chauvinistischen Alleingängen zu hindern. Baker fand bei Gorbatschow Gehör, dass sich ein neutrales Deutschland sehr wohl dafür entscheiden könnte, „sein eigenes Nuklearpotenzial zu schaffen, anstatt sich auf die amerikanischen nuklearen Abschreckungskräfte zu verlassen“. [10] Zwei Staaten, die in der Antihitlerkoalition gewesen waren, sollte man da nicht eine gemeinsame Sprache finden? Zwei Großmächte im Dialog – wie schmeichelhaft, erhebend für Gorbatschow.
Trachtenberg verhehlt ein „Element der Arglist“ nicht und nimmt die Worte des Politikwissenschaftlers Joshua Shifrison als Beleg: „Unverblümt legten die Vereinigten Staaten 1990 in Gesprächen mit den Sowjets einen kooperativen Großentwurf für ein Nachkriegseuropa vor, während sie dabei waren, ein von den Vereinigten Staaten dominiertes System zu schaffen.“ Sie seien darauf aus gewesen, „sowjetische Schwächen auszunutzen“, während sie „eine kooperative Fassade präsentierten“. [11]
Mitte 1990 aber hätten die US-Führer gewusst, „dass sie alle Trümpfe in der Hand hielten und mehr oder weniger alles bekommen konnten, was sie wollten“. Wobei Trachtenberg letztlich doch der US-amerikanischen Argumentation folgt, dass die Deutschen „ohne den Schutz der Vereinigten Staaten“ ihre „eigene Macht entwickeln“ und gar eine Atomstreitmacht aufbauen würden, was „unweigerlich eine Bedrohung für Russland“ wäre. Das NATO-System sei daher auch für Russland eine „Quelle der Beruhigung“. [12] Dabei beruft er sich auch auf die Worte von Joe Biden bei den Anhörungen zur NATO-Erweiterung im Jahr 1997, als dieser noch Senator war: „Es ging nicht nur darum, Russland einzudämmen … Sie sollte Deutschland einbinden; sie sollte Stabilität in Europa bringen.“ [13]
Stabilität hätte die Charta von Paris bringen können, die am 21. November 1990 als Schlussdokument der KSZE-Sondergipfels von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada unterschrieben wurde. Die Chance wurde vertan, eine „gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung in Angriff zu nehmen“, schreibt Horst Teltschik, der damals unter Helmut Kohl stellvertretender Leiter des Kanzleramts und Chef der Abteilung für auswärtige Beziehungen war. „Ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen“, war ja auch Gorbatschows Traum gewesen. [14] Doch eine Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok konnte nicht im US-Interesse sein.
Russlands „rote Linien“
Inzwischen macht Trump auch Biden und Selenskyj für den Krieg in der Ukraine verantwortlich. Offen sprach er von einem Stellvertreterkrieg, was die deutsche Propaganda nicht müde wurde zu leugnen.
Am 24. März 2021 – also elf Monate vor dem russischen Überfall – hatte Selenskyj das Dekret Nr. 117 unterzeichnet, das die „Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ in Kraft setzte. Am 10. November 2021 folgte ein Vertrag über „Strategische Partnerschaft“ mit den USA, die schon seit Mitte der 90er-Jahre gemeinsame Manöver mit der ukrainischen Armee durchführten. Zitat: „Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung der bewaffneten Aggression Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen und die Anwendung anderer relevanter Maßnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.“ [15]
Hätte Russland 2022 besser nicht präventiv reagieren, sondern einen Angriff auf die Krim abwarten sollen? Am 17. Dezember 2021 ließ Putin der NATO und den USA jeweils einen Vertragsentwurf zukommen, der Sicherheitsgarantien für beide Seiten rechtsverbindlich festlegen sollte. Dieses Angebot gleichsam in letzter Minute wurde brüsk zurückgewiesen, von oben herab, wie es nach dem Ende der Sowjetunion üblich war.
Wie soll das noch enden?
Am 24. Februar 2022 begann die von Russland „Spezielle Militäroperation“ genannte Invasion zur Unterstützung der Ostgebiete. Schon im Frühjahr 2022 lag nach Verhandlungen in Istanbul ein unterschriftsreifes Waffenstillstandsabkommen auf dem Tisch. Am 9. April fuhr der britische Premier Boris Johnson unangekündigt nach Kiew. „Nach Angaben der britischen Zeitung Guardian vom 28. April hatte Johnson Selenskyj dazu gedrängt, keine Zugeständnisse an Putin zu machen. Die Ukrajinska Prawda berichtete am 5. Mai 2022, dass Johnson zwei klare Botschaften überbracht habe: Putin sei ein Kriegsverbrecher und es solle Druck auf ihn ausgeübt, nicht aber mit ihm verhandelt werden.“ [16]
Ein Weltordnungskrieg. NATO und EU setzen auf einen militärischen Sieg der Ukraine gegen Russland. Dass Trump Verständnis für Putins Sicht äußerte und beide Seiten zu Verhandlungen aufforderte, war für Hardliner eine kalte Dusche. Und „Friedenstauben“ wie ich fassten Hoffnung.
Seither hat es schon mehrere Gesprächsrunden in Istanbul gegeben. Aber ein Waffenstillstand liegt noch in der Ferne. Abgesehen davon, dass er schwer kontrollierbar wäre, fürchtet Russland, dass die ukrainische Armee danach mit erneuerter Kraft die Kämpfe umso erbitterter fortsetzen würde. Man wolle diese Gespräche in Istanbul, um „die Ursachen des Konflikts zu beseitigen” und „die Wiederherstellung eines langfristigen, dauerhaften Friedens zu erreichen”, wird Putin zitiert. [17] Die Ukraine indes besteht weiter auf territorialer Integrität und fordert die von Russland eroberten Gebiete zurück, was wirklich nur mit militärischen Mitteln ginge.
So sind beide Seiten in einer Kriegslogik gefangen. Die Sprache der Konfrontation beherrscht die russischen wie die ukrainischen Nachrichten und steckt auch uns wie ein Bazillus an. Bis ins Privaten hinein: Noch sind es nur Meinungen, die aufeinanderprallen, angefeuert von Ohnmacht und Angst. Dass die Bundesrepublik jetzt so viel Geld ins Militär steckt, muss schließlich einen Grund haben. Der dritte Weltkrieg, der uns droht, hat er nicht längst begonnen?
Zu der dritten Verhandlungsrunde am 23. Juli in Istanbul kam die ukrainische Delegation nicht zu spät und fast alle waren zivil gekleidet. Wie die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti bekundet, fand das Gespräch auf Russisch statt. Man vereinbarte wieder einen Gefangenenaustausch und war sich einig, dass die Vorstellungen von einer Nachkriegsordnung weit auseinanderliegen. Nur vierzig Minuten sollen die Gespräche gedauert haben. Aber interessant immerhin die Andeutung, dass es ständige Online-Kontakte gibt.
Damit ist eigentlich ein Erlass außer Kraft gesetzt, der Verhandlungen mit Russland verbot. Selenskyj unterschrieb ihn im September 2022 und schickt ihm jetzt seine Anweisung hinterher: „Gemäß der Verfassung der Ukraine kann niemand außer mir Verhandlungen über die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine führen.“ [18] Ja, er verlangt geradezu ein Gespräch mit Putin, das aber gründlicher Vorbereitung bedürfe, meint die russische Seite. Denn tatsächlich ist es international üblich, dass Verträge unterschriftsreif vorliegen, ehe sich die Regierungschefs treffen. Aber Selenskyj ist natürlich an einem publikumswirksamen Auftritt interessiert, wie er ihn im Weißen Haus hinlegte, was Trump ja überhaupt nicht gefiel.
Hierzulande hört man oft, dass doch kein Land bestimmen könne, was vor seinen Grenzen geschieht. Emotional muss man zustimmen. Aber nüchtern betrachtet, verhält sich Russland wie eine Großmacht, die nicht nur auf ihrer Sicherheit (der Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO 2023 bereitet dort kaum Schmerz), sondern auch auf ihren traditionellen Einflusssphären besteht. Zum verletzten Sicherheitsbedürfnis kommt die Erfahrung von Verlust.
Staaten befinden sich mit ihrem Selbstbestimmungsrecht in einem internationalen Machtgefüge. Russland will mit den USA gleichziehen und erhebt Ansprüche, wie es Europa beziehungsweise Deutschland auch gern tun möchten. Nun wird darum gerungen, wer am längeren Hebel sitzt.
Aber wir leben mit Russland auf einem Kontinent. Und wie schon der alte Bismarck wusste, können gute Beziehungen zu diesem riesigen Land Deutschland nur gut tun. Entsprechend müsste unsere Europa-Politik sein. Wenn selbstgefällige Leute am Ruder sind, die aus dem Korsett ihrer anerzogenen Dogmen nicht heraus können, wird es indes gefährlich. Denn das würde umgekehrt auch jene nationalistischen Kräfte in Russland bestärken, die ihren Einfluss vom Krieg herleiten. Es ist ein Jammer, dass unsere Regierung so wenig von Russland weiß und so parteiische Berater hat. Denn auch Russland würde von guten Beziehungen zu Deutschland profitieren. Die deutsche Zarin Katharina II. wird dort immer noch verehrt.
Titelbild: LukeOnTheRoad / Shutterstock
[«1] Marc Trachtenberg, Marcus Klöckner: Chronik eines angekündigten Krieges. Die Ukraine und das Versagen der Diplomatie. Westend 2025, 205 S., br., 20 €, S. 9
[«2] Arthur Ponsonby: Lügen in Kriegszeiten: Kritische Betrachtungen. Westend 2022, 176 S., br., 24 €.
[«3] Trachtenberg/Klöckner, S. 96
[«4] Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit. Warum Russland dämoniert wird und warum das so gefährlich ist. Westend 2023, 357 S., br., S. 12
[«5] zeit.de/2022/53/angela-merkel-russland-krieg-wladimir-putin
[«6] Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung. Aus dem Englischen von Martin Richter. C.H. Beck, 2024, 391 S., geb., 28 €.
[«7] Klöckner / Trachtenberg, S. 23f
[«8] Michail Gorbatschow: Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Sicherheit. Siedler 2019, 185 S., geb., 18 €, S. 14
[«9]Klöckner/ Trachtenberg, S. 33 f
[«10] ebenda, S. 59
[«11] ebenda, S. 53
[«12] ebenda, S. 58
[«13] ebenda, S. 73
[«14] Horst Teltschik: Russisches Roulette. C.H.Beck 2019, 234 S., br., 16,95 €., S.62
[«15] infosperber.ch/medien/ueber-die-netzwelt/das-ignorierte-angebot-russlands-briefe-vom-17-dezember-2021
[«16] telepolis.de/features/Geheimer-Friedensvertrag-haette-Ukraine-Krieg-nach-wenigen-Wochen-beenden-koennen-9700618.html
[«17] tagesschau.de/ausland/europa/putin-direkte-verhandlungen-ukraine-100.html
[«18] swissinfo.ch/ger/selenskyj:-kein-verbot-für-verhandlungen-mit-putin-für-mich/89313668