„Wir lebten in einer Symbiose mit den Arabern, und das war damals kein utopischer Traum, wie heute.“ – Ein Interview mit dem israelischen Historiker Avi Shlaim

„Wir lebten in einer Symbiose mit den Arabern, und das war damals kein utopischer Traum, wie heute.“ – Ein Interview mit dem israelischen Historiker Avi Shlaim

„Wir lebten in einer Symbiose mit den Arabern, und das war damals kein utopischer Traum, wie heute.“ – Ein Interview mit dem israelischen Historiker Avi Shlaim

Ein Artikel von Ofer Aderet

Wie geht es weiter in Israel, Palästina, mit Gaza und dem Westjordanland? Diese Frage bewegt viele Menschen weltweit und natürlich in der Region – jetzt, wo der „Waffenstillstand“ vereinbart ist und der Austausch der Geiseln/Gefangenen begonnen hat. In diesem Interview mit dem anerkannten israelischen Historiker Avi Shlaim, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Oxford und Fellow des St Antony’s College, erläutert dieser seine Sicht auf die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023, aber auch – weit zurückreichend – auf die Vorgeschichte Israels und seiner Familie. Darauf aufbauend erklärt Shlaim seine gewandelte Haltung zum Zionismus und zum palästinensischen Widerstand.

Das Interview, geführt von Ofer Aderet, erschien ursprünglich am 25. September 2025 in der israelische Zeitung Haaretz, wir drucken es hier mit freundlicher Genehmigung ab. Deutsche Übersetzung von Abraham Melzer.

Ein halbes Jahr nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober konnte man im Netz einen Film sehen, der viele israelische Zuschauer ärgerte. Zu sehen war der jüdisch-israelische Historiker Prof. Avi Shlaim von der Oxford Universität in England. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein netter britischer Opa, der langsam und leise sprach. Aber die Worte, die aus seinem Mund kamen, waren alles andere als angenehm für israelische Ohren. „Die Hamas ist die einzige palästinensische Gruppe, die sich der israelischen Besatzung widersetzt“, sagte er. „Mit dem Angriff am 7. Oktober sandte die Hamas eine starke Botschaft, dass man die Palästinenser nicht zur Seite drängen kann; dass der palästinensische Widerstand nicht am Ende ist; dass, obwohl die palästinensische Autonomieverwaltung in der Westbank mit Israel zusammenarbeitet, Hamas den Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit weiterführt.

Im Oktober feiert Avi Shlaim seinen 80. Geburtstag in seinem Haus in Oxford. „Seitdem der Krieg begonnen hat, erkennen mich Menschen auf der Straße und drücken mir die Hand. Das ist eine neue Erfahrung für mich“, sagte er im Interview zur Haaretz-Beilage. „Araber und junge Muslime danken mir dafür, dass ich für sie spreche, ihnen meine Stimme leihe, ihnen Hoffnung gebe und ihnen das Vertrauen an Juden zurückgebe.

Israel ist selbst verantwortlich für den dramatischen Verfall seines Rufes.“

Ofer Aderet: Und was ist mit der anderen Seite?

Avi Shlaim: „Ich bekomme auch feindselige E-Mails und Todesdrohungen. Aber auf jede dieser Mails gibt es zehn positive. Ich bekomme mehr und mehr Unterstützung und weniger Kritik. Früher, als ich vor Publikum sprach, stand immer ein jüdischer Student auf, der mich kritisierte und Israel verteidigte. Seit dem Krieg in Gaza gibt es keine solchen Interventionen mehr. Israel hat sich sogar von seinen Unterstützern entfernt. Israel ist selbst verantwortlich für den dramatischen Verfall seines Rufes. Die westlichen Medien sind Israel immer noch zugeneigt und berichten nicht über das Narrativ der Hamas. Aber die Jüngeren hören nicht mehr der BBC zu und lesen keine Zeitungen mehr, sondern informieren sich in den sozialen Medien.“

Wie ist das Narrativ der Hamas in diesem Fall?

„Ich habe das Narrativ der Hamas kennengelernt in Bezug auf Krieg und Angriff. Die Hamas zu erklären, heißt nicht, sie zu rechtfertigen. Das Töten von Zivilisten ist absolut verboten. Punkt. Aber hier ist es wie immer. Der Zusammenhang ist besonders wichtig. Die Palästinenser leben unter Besatzung. Sie haben das Recht auf Widerstand, auch mit Waffen. Es gab konkrete Anweisungen für die Hamas-Kämpfer. Es gab spezifische militärische Ziele. Ursprünglich griff die Hamas militärische Anlagen an und tötete Soldaten, Polizisten und Sicherheitskräfte. Das ist kein Kriegsverbrechen. Der Angriffsgeist ist aber außer Kontrolle geraten.“

Das stimmt nicht. Die Terroristen der Hamas überfielen die Kibbuzim und besaßen Karten mit der Absicht, Zivilisten zu töten.

„Ich lehne diesen Angriff der Hamas ab, weil es ein terroristischer Angriff war, soweit er den Angriff auf Zivilisten betrifft. Aber dieser Angriff geschah nicht in einem Vakuum. Es geschah als Ergebnis von Jahrzehnten militärischer Besatzung, der brutalsten und längsten in unserer Zeit. Die israelische Antwort ist völlig wahnsinnig und jenseits aller Rationalität. Auch wenn Israel das Recht auf Selbstverteidigung hat – um den üblichen Terminus zu gebrauchen –, muss die Antwort im Rahmen des internationalen Rechts stattfinden. Ich lehne die israelische Antwort auf den Angriff ab.“

Man wird es kaum glauben wollen, aber als Kind verehrte Shlaim den Staat, den er jetzt bloßstellt.

„In der Schule lernte ich die zionistische Version zum Konflikt. Und ich habe sie ohne jede Frage als eigene übernommen. Ich war ein israelischer Patriot. Ich hatte keine Zweifel an unserer Rechtsposition. Wir dachten, dass Israel ein kleiner Staat sei, der friedliebend und von feindseligen Arabern umstellt ist, die uns ins Meer werfen wollen. Ich war sicher, dass wir keine andere Wahl haben, als zu kämpfen“, sagt er.

Die Schule versuchte vielleicht, Shlaim dem Zionismus näher zu bringen. Aber er wuchs auf in einer nichtzionistischen Familie, die dazu neigte, sich als Teil der arabischen Welt zu sehen. Er wurde 1945 in Bagdad in einer reichen jüdischen Familie geboren.

„Wir waren privilegiert. Wir lebten in einem großen Haus, fast wie ein Palast, und wir hatten Bedienstete.“

Ihr wart jüdische Iraker oder irakische Juden?

Zuerst Iraker und danach Juden. Wir sprachen zu Hause nur Arabisch. Das Essen, die Riten und unsere Freunde waren Araber. Wir hatten tiefe Wurzeln im Land. Das Judentum war für uns keine Religion, sondern eine kulturelle Zugehörigkeit. Die jüdische Gemeinde war sehr integriert in der lokalen Gesellschaft. Meine Familie hatte viele Freunde unter Christen und Muslimen. Meine Mutter liebte es, mit unserem wunderbaren muslimischen Freund zu reden. Als ich sie einmal fragte, ob wir auch zionistische Freunde hatten, antwortete sie ‚Nein, sie gehörten nicht zu uns.‘ Wir lebten in einer Symbiose mit den Arabern, und das war damals kein utopischer Traum, wie heute.“

Meine Familie war niemals zionistisch. Der Zionismus war eine Bewegung von Juden aus Europa.“

In einem Artikel, den Sie in der englischen Ausgabe von Haaretz veröffentlicht hatten, haben Sie über Ihre Kindheit geschrieben: „Wir hatten das Gefühl, dass wir für ein zionistisches Projekt mobilisiert wurden, gegen unseren Willen.“ Wart ihr Anti-Zionisten?

„Meine Familie war niemals zionistisch. Der Zionismus war eine Bewegung von Juden aus Europa. Er war für diese erdacht worden. Die zionistischen Führer haben sich nie für die arabischen Juden interessiert. Sie fanden die arabische Welt primitiv und kulturell rückständig. Erst nach der Shoah suchte die zionistische Bewegung Juden überall auf der Welt auf und erreichte auch die arabische Welt. Meine Familie interessierte sich nicht für Israel und wollte auch nicht dorthin.“

Sie wurden vier Jahre nach dem Farhud geboren, dem Pogrom an den Juden in Bagdad. Das war ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Juden des Irak. In Ihrem Artikel in Haaretz haben Sie es so beschrieben: „Der Farhud [Anm. d. Red.: ein Pogrom an jüdischen Bürgern in Bagdad, der sich vom 1. bis 2. Juni 1941 ereignete] war eine Ausnahme von der Regel und nicht die Norm.“ Machen Sie hier nicht den Arabern ein Zugeständnis?

„Der Zionismus sagt, dass der Antisemitismus eine Seuche war, die auch die arabische Welt ergriffen hat, und dass dies der Grund war, der die Juden veranlasst hatte, nach Israel überzusiedeln. Aber der Farhud war ein Phänomen, das mehr war als nur Hass und Gewalt gegen Juden. Es war Teil des nationalen Aufstands gegen die Briten, bei dem es zum Verlust von Recht und Ordnung gekommen ist. Judenhass war wohl auch ein elementarer Bestandteil, war aber ohne den Hass auf den britischen Kolonialismus und Imperialismus kein eigenständiges Element.“

Trotzdem übersiedelten Shlaim und seine Familie nach Israel. Dem ging eine Verschlechterung der Verhältnisse als Folge des Unabhängigkeitskrieges Israels voraus und die Politik einer Regierung, die den Juden erlaubte, das Land zu verlassen. „Aber mein Vater wollte den Irak nicht verlassen“, sagt Shlaim.

Warum hat Ihre Familie den Irak verlassen, und warum sind Sie nach Israel?

„Der Wendepunkt in der Geschichte der irakischen Juden war nicht 1941, sondern 1948, als der Staat Israel ausgerufen wurde. Die Niederlage der Araber war demütigend. Im März 1950 erließ die irakische Regierung ein Gesetz, das Juden ermöglichte, das Land zu verlassen. Das einzige Land, in das Juden auswandern konnten, war Israel. Erlaubt war die Mitnahme eines einzigen Koffers und 50 Dinar. Jüdische Organisationen haben eine Luftbrücke organisiert. Es stimmt, dass die Hauptursache für die Auswanderung die allgemeine Verfolgung der Juden durch die irakische Regierung war, aber trotzdem verzichteten nur wenige Juden auf ihre irakische Staatsbürgerschaft.“

Als er gefragt wurde, warum trotzdem so viele Juden nach Israel kamen, erinnert Shlaim an die Serie von Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen, die es in Bagdad zwischen 1950 und 1951 gab. „Auch aus der Distanz von 75 Jahren gibt es noch Menschen, die glauben, dass die Bomben von Juden abgeworfen wurden, die vom israelischen Mossad beauftragt wurden, um die Juden zu verängstigen und ihre Auswanderung nach Israel zu fördern. Israel hat diese Gerüchte zurückgewiesen. Aber im Rahmen meiner Forschung begegnete ich Hinweisen, die mir deutlich die Beteiligung Israels zeigten.“

In Ihrer Biografie „Drei Welten: Erinnerungen eines arabischen Juden“, die Sie 2023 veröffentlicht haben, beschreiben Sie die Einwanderung als eine harte Erfahrung.

„Wir haben den Irak als Juden verlassen und kamen in Israel als Iraker an. Es gab in der arabischen Welt viele großartige jüdische Gemeinden. Aber die jüdische Gemeinde in Bagdad war die älteste und erfolgreichste und integrierteste in der lokalen Gesellschaft. Unser innerer Reichtum und unsere Geschichte vermitteln uns ein Gefühl des Stolzes, irakische Juden zu sein. Für uns bedeutete die Einwanderung nach Israel keinen „Aufstieg“, sondern einen „Abstieg“ zu den Rändern der israelischen Gesellschaft.

In einem Artikel, den Shlaim in Haaretz veröffentlicht hat, schrieb er: „Nachdem wir in Israel angekommen waren, haben wir einen Prozess der De-Arabisierung erlebt. Wir wurden in ein fremdes Land implantiert, das von Aschkenasim [Anm. d. Red.: mittel-, nord- und osteuropäische Juden und ihre Nachfahren] regiert wurde.“ Zuerst kamen Avi Shlaim, seine Mutter, seine Großmutter und seine zwei Schwestern nach Israel. Später kam der Vater nach. „Er hat sich in Israel nicht integriert. Er lernte kein Hebräisch und blieb arbeitslos. Er war zu alt und ein gebrochener Mann. Ich war Zeuge seines Leidens, als Kind. Aber er sprach nicht und hat sich nicht beschwert“, sagt Shlaim und erzählt von seinem Vater, der in den Straßen herumstreunte mit einem Anzug aus dem Irak.

In seiner Autobiographie schreibt er: „Wenn ich einen Grund nennen müsste, der meine Beziehung zur israelischen Gesellschaft auszeichnete, dann ist es mein Minderwertigkeitskomplex. Ich habe, ohne zu murren, die gesellschaftliche Hierarchie akzeptiert, die die europäischen Juden an die Spitze stellte und die Juden aus den arabischen und afrikanischen Ländern an die unterste Stufe der Leiter.

„Ich war ein schlechter Schüler, verträumt, unbeteiligt und mit schlechten Noten.“ Als Shlaim ins Gymnasium überwechseln sollte, schickte ihn seine Mutter zu Verwandten in England. Dort lernte er in einer jüdischen Schule. Als er zurückkam, diente er zwei Jahre in der Armee. „Wir schworen der Heimat Treue und schrien gemeinsam ‚In Blut und Feuer ist Judäa gefallen, In Blut und Feuer wird Judäa wieder entstehen‘.

Ich war damals naiv genug, der Propaganda zu glauben, dass Gewalt die einzige Sprache ist, die die Araber verstehen.“

Daneben beschreibt er das Gefühl der nationalen Aufgabe, das die Auseinandersetzung mit den physischen Problemen erleichterte. „Ein Gefühl des Vertrauens in unsere gerechte Sache. Wir sahen uns als einen kleinen demokratischen Staat, der von Millionen fanatischer Araber umgeben ist, die uns vernichten wollen. Und in der Tat glaubten wir, dass wir keine Wahl haben als zu kämpfen“, schreibt er. „Dazu begleitete uns der Glaube, dass alle Kriege Israels ‚Verteidigungskriege‘ waren – Kriege ohne Alternative und keine Kriege, die wir angefangen haben. Wir fühlten, dass wir in einer Armee dienten, die im Grunde anständig ist. Ich war damals naiv genug, der Propaganda zu glauben, dass Gewalt die einzige Sprache ist, die die Araber verstehen.“

Nach dem Armeedienst kehrte Shlaim nach England zurück. Seit 1966 lebt er dort. Er ist verheiratet mit einer Psychotherapeutin und hat eine Tochter. Seine Frau ist die Urenkelin von Lloyd George, Englands Ministerpräsident während des Ersten Weltkrieges, der ein begeisterter Anhänger des Zionismus war und während dessen Amtszeit die Balfour-Deklaration veröffentlicht wurde.

Darin ist eine gewisse Ironie.

„Meine Frau ist eine begeisterte Unterstützerin der palästinensischen Rechte. Ihre Beziehung zum Urgroßvater ist differenziert. Sie ist überzeugt, dass er in der Außenpolitik und besonders als Kriegsführer mehr und mehr wie ein alter britischer Imperialist gehandelt hat. Sie kritisiert vehement seine Rolle, die er bei der Balfour-Deklaration eingenommen hatte. Wir beide sind uns einig, dass die Balfour-Deklaration ein klassisches koloniales Dokument ist, das sich über die Rechte und Wünsche von 90 Prozent der Bevölkerung hinweggesetzt hat, soweit diese palästinensisch war. Und auch vom Standpunkt der nationalen Interessen der Briten selbst, war es ein kolossaler strategischer Fehler. Lloyd George begradigte die Außenpolitik Großbritanniens mit einer kleinen Gruppe von Zionisten, im Gegensatz zum Wunsch der jüdischen Gemeinde in England und vielen indigenen Juden in Palästina.“

Die Ernüchterung des zionistischen Traums, wie Shlaim sagt, war „ein langer Prozess. Er vollzog sich stufenweise und langsam und war keine geschlossene Episode.“ Es begann nach dem Sechs-Tage-Krieg. „Ich pflegte meinen Meinungswechsel damit zu erklären, dass nicht ich mich verändert habe, sondern mein Land. Nach diesem Krieg pflegte ich zu behaupten, dass Israel eine koloniale Großmacht geworden ist, die die Palästinenser in den eroberten Gebieten unterdrückt. Ich liebte es, hinzuzufügen, dass zu meiner Dienstzeit die IDF [Anm. d. Red.: Israel Defense Forces – die Streitkräfte des Staates Israel] ihrem Ruf treu war. Es war eine Verteidigungsarmee. Aber nach dem Krieg verwandelte sie sich in eine grausame Polizeimacht eines grausamen kolonialen Regimes. Aber die einfache Wahrheit ist, dass Israel begonnen hat als ein Siedler-Kolonialismus. 1948 und 1967 waren die ersten Wegweiser in der systematischen und unaufhörlichen in der Eroberung ganz Palästinas. Jüdische Siedlungen auf eroberten palästinensischen Ländereien waren eine Erweiterung des zionistischen Projekts jenseits der Grünen Linie. Die Entstehung des Staates Israel war ein Riesenunrecht an den Palästinensern. Im Verlauf des Krieges von 1948 veranstaltete Israel ethnische Säuberungen unter den Palästinensern. Im Juni 1967 hat Israel mit Militärmacht die Eroberung ganz Palästinas vollendet. Die Eroberung hat schließlich Israel in einen Apartheidstaat verwandelt. Die Palästinenser waren die Opfer des zionistischen Projekts.“

Aber das, was Shlaims Meinung mehr als alles andere verändert hatte, war das Archiv. „Es war die zentrale Ursache für die Änderung meines Blickes und meiner Meinung“, sagt er. Shlaim studierte Geschichte an der Universität von Cambridge, arbeitete als Dozent an der Universität Reading und kam als Professor nach Oxford. Die Arbeit in Archiven war ihm nicht fremd. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass das, was er in den Archiven des Staates vorfand, ihn so erschüttern und seine Meinung von einem Ende zum anderen ändern wird. Er kam 1982 nach Israel, um dort eine Arbeit über den Einfluss der IDF auf Israels Außenpolitik zu schreiben. „Während eines ganzen Jahres las ich dort Dokumente, morgens von der Öffnung bis zur Schließung des Archivs. Ich erlebte dort eine Radikalisierung. Von einem israelischen und zionistischen Patrioten verwandelte ich mich mehr und mehr zu einem Kritiker Israels und der Besatzung, bis ich mich nicht mehr mit Israel identifizieren konnte“, sagt er.

Was haben Sie im Archiv entdeckt?

„Was ich im Archiv gelesen habe, deckte sich nicht mit dem, was ich in der Schule gelernt habe. Dort habe ich gelernt, dass die Juden immer die Opfer waren, dass Israel immer das Opfer war; dass es 1948 einen Genozid gegeben hätte, für den geplant war, die Juden ins Meer zu werfen; dass wir wenige waren gegenüber vielen und dass die gesamte arabische Welt gegen uns war; dass die Führer Israels Frieden erreichen wollten, aber es auf der arabischen Seite niemanden gab, mit dem man hätte reden können. Ich habe es geglaubt. Aber im Archiv entdeckte ich die Wahrheit. Das Bild, welches von dort aufgekommen ist, war vollkommen anders als das Bild der offiziellen Erzählung. Die Dokumente, die ich im Archiv entdeckte, haben mich schockiert. Sie waren überraschend und zwangen mich zum Nachdenken.“

Was konkret?

„Ich lernte in der Schule, dass alle Araber das zionistische Projekt abgelehnt haben und dass sieben arabische Armeen 1948 nach Palästina eingedrungen sind, um den jüdischen Staat bei seiner Geburt zu vernichten. Aber in den Archiven fand ich Dokumente über geheime Treffen zwischen König Abdallah und der Jewish Agency, die schon 1921 begonnen haben. Er war zu einer Zusammenarbeit bereit und führte einen langen Dialog und Zusammenarbeit. Abdallah hörte nicht auf, mit den Juden zu reden, bis er 1951 ermordet wurde. Aber es gab noch andere. Syriens Präsident Husseini al-Za‘im wollte Ben Gurion Angesicht zu Angesicht treffen, er war bereit, Botschafter zu tauschen und normale Beziehungen pflegen. Ja, er hatte auch Forderungen, aber Ben Gurion lehnte es schon ab, sich mit ihm zu treffen. Der Unterschied zwischen dem Zionismus und der Realität verwandelte mich zu einem neuen Historiker.“

„Die neuen Historiker“ war der Terminus, den der Historiker Benni Morris für eine Gruppe junger Historiker geprägt hat, die in den 80er-Jahren, nachdem die Archive geöffnet wurden, vorgeschlagen hatte, die Geschichte des Zionismus, den israelisch-arabischen Konflikt und die Geburt Israels neu und kritisch zu lesen. Sie waren bereit, die Geschichte objektiver zu prüfen als die Generation der alten Historiker, die in der Mehrzahl für die zionistische Sache gearbeitet haben. Die Gruppe betraf Benni Moris selbst, der über die Vertreibung der Palästinenser im Krieg 1948 und über Kriegsverbrechen der IDF schrieb; Avi Shlaim, der über die Beziehungen der Hagana mit dem jordanischen König Abdallah schrieb; Ilan Pappé, der über die ethnische Säuberung Palästinas schrieb; Tom Segev, der über die Benachteiligung der Einwanderer aus arabischen Staaten und die Bevorzugung der Einwanderer aus Polen schrieb; und Uri Milstein, der über den Unabhängigkeitskrieg schrieb.

Ende der 80er-Jahre nahmen sie teil an stürmischen Debatten in der Akademie und in der Presse. Ihre Kritiker sagten, dass sie „Post-Zionisten“ seien und Feinde Israels. Einer ihrer größten Gegner war der Historiker Shabtei Tevet, der sie fehlender intellektueller Integrität beschuldigte. „Seine Ohren sind offen für die arabische Bedrängnis, aber vollkommen taub für die jüdische Bedrängnis“, schrieb Tevet über Shlaim 1989 in Haaretz. „Diese neue Geschichtsschreibung begründet eine Reihe von Irrtümern, die ein falsches Bild abgeben“, fügte er hinzu.

An diesem Jahr fand in der Universität von Tel Aviv ein Kongress unter der Überschrift „Wie endete der Unabhängigkeitskrieg?“ statt. Shlaim, der damals 44 Jahre alt war, wurde als Ehrengast eingeladen, musste aber scharfe Kritik erfahren, die nicht selten jenseits der akademischen Norm verlief. „Die 60 Minuten, die nach seinem Vortrag für Fragen des Publikums vorgesehen waren, zählen zu den Stunden, die Shlaim bewegten. Obwohl Shlaim seinen Vortrag auf Hebräisch hielt, war das Verhältnis zu ihm wie zu einem Fremden, berichtete Arje Dajan in der Zeitung. Er fühlte sich in Israel nicht zu Hause. Die meisten Besucher verhielten sich ihm gegenüber, als sei er keiner von hier. Man machte ihm klar, dass er diesmal nicht im eigenen Land sei. Shlaim antworte mit Humor, dass er zuweilen den Eindruck hatte, dass der Kongress nichts anderes sei als ein Komplott gegen ihn. Ruhig und kaum besonders erschrocken über den Sturm, schien es sogar, dass er die Empörung genoss. Seine Antworten blieben sachlich.

Shlaim veröffentlichte anschließend einige Bücher zur Geschichte des Nahen Ostens und zum israelisch-arabischen Konflikt. Das erste war „The Iron Wall“. Den Titel entnahm er aus einem Artikel von Jabotinsky, in dem dieser verlangte, dass die Juden eine Wand aus Eisen errichten sollten – eine Militärmacht – gegenüber den Arabern, bis dass diese die Existenz Israels akzeptierten. Erst dann könne man mit ihnen eine Vereinbarung treffen. Shlaim behauptet in seinem Buch, dass Ben-Gurion diese Ideologie in die Praxis umsetzte und den jüdischen Militarismus besonders förderte. In diesem Zusammenhang behauptet Shlaim, Ben-Gurion habe mehr als 700.000 Palästinenser aus Palästina vertrieben. 1948 fand er militärische Wege für eine territoriale Expansion, nachdem er den UN-Vorschlag für die Teilung Palästinas nicht akzeptiert hat. Shlaim behauptet, dass fast alle Regierungen nach Ben-Gurion, ohne Unterschied zwischen rechts und links, diese Ideologie übernommen haben, außer Begin und Rabin.

„Israel wollte niemals zum Mittleren Osten gehören. Es will nicht Teil dieser Region sein. Es versteht sich selbst als ein westeuropäisches Land“, sagt Shlaim. „Die arabischen Juden könnten eine Brücke sein zwischen der arabischen Welt und Israel. Aber die zionistischen Führer wollten niemals eine Brücke zur arabischen Welt. Herzl betrachtete einen jüdischen Staat als Gegensatz zum östlichen Barbarismus. Jabotinsky sah in Israel einen Teil des Imperialismus im Nahen Osten. Das stimmt auch für Ben-Gurion und Netanjahu.“

Die These, die Shlaim vorstellt, hat viele Kritiker unter seinen Kollegen hervorgerufen. Zwei von ihnen, Joseph Heller und Jehoshua Porat, schrieben darüber vor 20 Jahren in Haaretz: „Shlaims Texte entstammen einer politischen Agenda, die Israel hasst … und den israelischen Standpunkt in keiner Weise berücksichtigt“, schrieben sie. „Zu unserem Bedauern führt Shlaim seine Leser mit seiner Behauptung in die Irre, dass Israel den Frieden verpasst habe, während die Araber ausgesprochene Friedensengel seien. Mit seinen Beispielen ignoriert Shlaim vollkommen die Grundvoraussetzung für den israelisch-arabischen Konflikt: die kompromisslose Forderung vom „Rückkehrrecht“ der Juden, ohne dass er sowohl theoretisch als auch praktisch Israel das Existenzrecht abspricht.

Benni Morris schwenkte nach der zweiten Intifada nach rechts. Sie dagegen wandelten sich von einem kritischen Historiker zum einem Hamas-Versteher.

„Früher war Benni der profilierteste Zionist, Ilan Pappé war der Radikalste unter uns; er behauptete, dass Israel keine Legitimität hat, und ich war in der Mitte. Meine Frau pflegte meine Position so zu beschreiben: ‚Vor 1967 – gut, nach 1967 – schlecht.‘ Ich dachte damals, dass Israel in seinen alten Grenzen legitim sei. Aber in den letzten Jahren wechselte ich zur Linie von Ilan. Und heute denke ich, dass man nicht mehr unterscheiden kann zwischen Israel und Israel in der Westbank. Es ist ein Regime, vom Fluss bis zum Meer. Das Regime ist eines der Apartheid und der jüdischen Überlegenheit. Ich bewegte mich vom Zentrum zu einer radikalen Position. Die neuen Historiker starteten mit vielen Gemeinsamkeiten und endeten mit großer Radikalität.“

Shlaim begnügt sich nicht mit Reden. Im April 2024 wandten sich Rechtsanwälte im Auftrag der Hamas an das britische Innenministerium mit der Bitte, ihre Organisation aus der Liste der Terrororganisationen zu streichen. Der Bitte wurde ein Exposé von Avi Shlaim beigelegt. Der militärische Arm der Hamas befindet sich seit 2001 auf dieser Liste. Im Jahre 2021 wurde auch der politische Arm hinzugefügt, mit der Begründung, dass die Trennung zwischen beiden „künstlich“ ist und die Hamas im Ganzen eine Terrororganisation sei. Hamas argumentierte, dass sie keine Terrororganisation seien, sondern eine Islamisch-Palästinensische Befreiungsorganisation, deren Ziel es ist, Palästina zu befreien und sich mit dem zionistischen Projekt auseinanderzusetzen. Die Anwälte der Organisation betonten, dass der Eintrag auf der Liste die Meinungsfreiheit verletze – „frei über die Hamas zu sprechen und dem palästinensischen Volk das Recht auf seinen Kampf um Selbstbestimmung zurückzugeben. Sie fügten hinzu, dass Hamas „die einzige militärische Macht sei“, die gegen die Besatzung antreten und gegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Israel verübt, vorgehen könne.

Shlaim wurde in dieser Bitte als externer Fachmann aufgeführt. Er lieferte ihr tatsächlich einige Argumente. Unter anderem schrieb er, dass „Hamas das nach dem Internationalen Völkerrecht bestehende Recht realisiert, sich der israelischen Besatzung zu widersetzen“. Dagegen erkannte er an, dass die Selbstmordattentate, die die Hamas in den 90er-Jahren verübt hatte, ausgesprochener Terror waren. Und er fügte hinzu, dass ein gewollter Angriff auf Zivilisten verabscheuungswürdig und abzulehnen ist, aber dass Selbstmordattentate schließlich ein Mittel seien, Bomben an ihr Ziel zu bringen. Wenn man sie nur nach dem vernichtenden Ergebnis beurteilt, sind sie nicht schrecklicher als eine Bombe von einer Tonne, die eine F-16 der israelischen Luftwaffe auf einen Wohnblock in Gaza abgeworfen hat. In der Fortsetzung des Artikels schrieb er, dass die Hamas 2004 „eine strategische Entscheidung gefasst habe, auf Selbstmordattentate zu verzichten“.

Shlaim behandelte in seinem Gutachten auch die Frage nach dem Existenzrecht Israels. „Es gibt ein solches Recht nach dem Internationalen Recht nicht. Und seit 1967 benutzt Israel diese Formel, um Friedensgespräche zu vereiteln und diejenigen des Antisemitismus zu bezichtigen, die dieses Recht ignorieren.“ Er fügte hinzu, dass das Existenzrecht nichts anderes sei als eine ideologische und sentimentale Aussage. Aber unter dem Strich ist diese Aussage völlig bedeutungslos, weil „Israel zweifelslos existiert“. Andererseits fügte Shlaim hinzu, dass das Land, das wahrhaftig das Existenzrecht der anderen Seite ablehnt, Israel ist mit seiner Weigerung, die Rechte des palästinensischen Volkes auf Unabhängigkeit und Freiheit anzuerkennen.

Warum unterstützen Sie die Hamas beim Wunsch, von der Liste der Terrororganisation gestrichen zu werden.

„Ich unterstütze nicht die Hamas und ich freue mich nicht, Israel anzuklagen. Ich bin Historiker und ich habe die Geschichte des Hamas studiert. Meine Empfehlung, die Hamas aus der Terrorliste zu streichen, basiert darauf. Die Wahlen in Gaza 2006 waren frei und demokratisch. Hamas hat eine Regierung gebildet, aber Israel hat alles getan, um diese Regierung zu Fall zu bringen. In dem Verbund gegen die Hamas beteiligten sich die PLO, Israel, der ägyptische Geheimdienst und die USA. Sie verunmöglichten es der Hamas, zu regieren. Jede Feuerpause seit 2010 wurde von Israel gebrochen.

Hamas ist eine Terrororganisation.

„Israel behauptet, dass die Hamas nichts anderes als eine Terrororganisation ist. Aber das kann man nicht so simplifizieren. Hamas ist ein integraler Teil der arabischen Bevölkerung. Man kann nicht über eine Lösung des israelisch-palästinensischen Problems ohne die Hamas denken. Außerdem behauptet Israel, dass das Ziel der Hamas sei, Israel zu zerstören. Es ist richtig, dass die erste Resolution der Hamas in diesem Sinn antisemitisch war. Aber revolutionäre Parteien entwickeln sich auch. Auch der Zionismus hatte terroristische Züge – Shamir und Begin wurden trotzdem Ministerpräsidenten –, und wie auch in Irland und Südafrika, so auch die Hamas. Sie hat einen militärischen Arm, der auch terroristische Aktionen durchführt, aber sie hat auch eine politische Führung, die ihre Politik gemäßigt hat. Heute sagt die Hamas, dass sie keine Probleme hat mit den Juden, sondern mit Israel und dem Zionismus. Die Hamas ist heute schon ziemlich gemäßigt. Sie befürwortet einen palästinensischen Staat in der Westbank und in Gaza mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Die Regierung von Benjamin Netanjahu ist aber diejenige, die die Führung der Hamas vernichtet und ihren militärischen Arm stärkt. Ich verteidige nicht die Hamas, aber es gibt einen Spruch auf English: Give the devil. Und ich als Historiker möchte ein ausgewogenes Bild des Konfliktes wiedergeben.

Am 7. Oktober brach der Krieg aus, der Israelis und Juden in Israel und in der ganzen Welt erschüttert hat. Wie hat Sie dieses Ereignis beeinflusst?

„Die Lage zwang mich, meinen Standpunkt gegenüber Israel zu überprüfen. Ich wusste, dass es ein Apartheid- und ein Kolonialstaat ist. Ich wusste, dass es die schlimmste rechte und rassistische Regierung in seiner Geschichte hat. Und ich wusste von der ethnischen Säuberung in Gaza und der Westbank und von der offiziellen Angliederung palästinensischer Gebiete. Aber was mich total schockiert hat, war die Tatsache, dass diese Regierung Völkermord begeht. Das war für mich etwas Neues.“

Sie haben darüber Ihr Buch „Genozid in Gaza“ veröffentlicht.

„Zuerst zögerte ich, den Terminus Genozid zu benutzen. Es ist ein großes Wort. Aber als Israel sich geweigert hat, humanitäre Hilfe für Zivilisten nach Gaza hereinzulassen und Hunger als Waffe benutzte, verwendete ich den Begriff. Wenn das nicht Genozid ist, was ist dann Genozid? Ich zögere nicht mehr, dieses Wort zu verwenden nach allem, was Israel systematisch tut. Es ist keine Frage von Zahlen, sondern von Absicht. In Israel ist Genozid verbunden mit der Shoah, wobei die Shoah etwas anderes war. Im Zweiten Weltkrieg waren die Juden schutzlos und Opfer der deutschen Nazis. Heute sind die Palästinenser schutzlos und Opfer.“

Beschuldigen Sie Israels Regierung oder auch die Israelis?

„Netanjahu ist kein Diktator. Er ist ein Führer, der zum Ministerpräsident Israels gewählt wurde. Deshalb ist die ganze israelische Gesellschaft verantwortlich für diese Kriegsverbrechen. Sie sind nicht alle beteiligt, aber sie haben die Verantwortung für das, was ihre Armee tut. Die Regierung ist demokratisch gewählt worden, aber sie ist faschistisch. Auch die NSDAP wurde in freien demokratischen Wahlen gewählt. Israel stützt sich allein auf seine militärische Macht und behauptet, dass jeder, der Israel kritisiert, ein Antisemit sei. Die Regierung ist ein Abbild der israelischen Gesellschaft von heute. Und deshalb ist die gesamte israelische Gesellschaft verantwortlich für ihre Taten. Die israelische Gesellschaft hat heute keine Kontrolle über den Rassismus. Es ist ein Phänomen, das einst unter der Oberfläche war. Heute werden aber rassistische Erklärungen sogar von der Regierung vernehmbar.

Wie wird es weitergehen?

„Israel wird seine Kriegsführung gegen die Hamas noch bedauern, weil die Erben der Hamas noch radikaler sein werden. Israel wird dafür die Verantwortung tragen, weil Israel die palästinensische Führung ermordet hat. Israel liebt keine gemäßigten Palästinenser. Man betrachtet sie als Bedrohung. Es vernichtet sie und ebnet den Weg für noch Radikalere. Die Gründung des Staates Israel war ein Riesenunrecht für die Palästinenser. Britische Beamte haben sich dazu geäußert. Am 2. Juni 1948 schrieb ein höherer Beamter im britischen Außenministerium an Außenminister Ernst Bewin, dass die Amerikaner verantwortlich sind für einen ‚Gangsterstaat‘ mit gewissenlosen Politikern an seiner Spitze. Einst dachte ich, dass diese Worte zu hart sind. Aber es sieht so aus, dass das, was als krumm anfängt, auch krumm bleiben wird.“

Avi Shlaim ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Oxford und Fellow des St Antony’s College. Er ist ein weltweit anerkannter Historiker für den modernen Nahen Osten. Von 1995 bis 1997 war er Mitglied des British Academy Research Fellowship und von 2003 bis 2006 Professor für British Academy Research. 2006 wurde er zum Fellow der British Academy gewählt und 2017 erhielt er die British Academy Medal für sein Lebenswerk. Zuletzt erschien sein Buch „Genozid in Gaza – Israels langer Krieg gegen Palästina“.