Die NATO-Umzingelungsstrategie und die Rolle Polens – ein Beitrag von Peter Becker

Peter Becker
Ein Artikel von Peter Becker

Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Co-Präsident der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). Es skizziert die Rolle Polens und insbesondere die Rolle von Rechtskonservativen in Polen. Becker bietet eine gute Übersicht über die Umzingelungsstrategie. Die Rolle deutscher Politiker, namentlich Außenminister Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel, sieht er vergleichsweise positiv. In dieser Bewertung kann ich ihm – von einzelnen Schachzügen abgesehen – nicht folgen. Aber das kann man im konkreten Fall leicht ertragen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die inszenierte Bedrohung
Die NATO-Umzingelungsstrategie und die Rolle Polens
von Dr. Peter Becker

Am 8. und 9. Juli fand in Warschau der NATO-Gipfel statt, Nachfolger des Gipfels in Wales 2014. Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, erwähnt in der Agenda, mit der die NATO „auf Russlands Landnahme in der Ukraine reagiert“, u.a. den Ausbau der Abschreckungspolitik, auch mit höheren Verteidigungsausgaben, und die Zukunft der nuklearen Abschreckung. Nicht erwähnt wird, dass die NATO die fertige US-Raketenbasis in Rumänien übernehmen soll und dass in Polen der Bau einer weiteren Station nahe der russischen Grenze beginnt.

Russland erscheint als der Aggressor, auf den die NATO vielfältig reagieren müsse. Nur: Stimmt das? Wenn man sich die Mühe macht, die historischen Ereignisse nachzufahren, was wegen der NATO-Apologeten in den Printmedien nicht einfach ist, ergibt sich ein völlig anderes Bild.

Gorbatschow schenkte Deutschland im Jahre 1990 die Einheit. Er stimmte sogar zu, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein könne. Die Bedingung war, dass sich die NATO nicht nach Osten ausdehne, was beispielsweise von dem damaligen deutschen NATO-Generalsekretär Wörner auch versprochen wurde. Ein Teil dieser Abmachung war, dass „ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger“ im Beitrittsgebiet „weder stationiert noch dorthin verlegt“ werden dürften, wie es in Artikel 5 Abs. 3 des 2+4-Vertrages 1990 heißt.

Aber: Die NATO hielt sich nicht daran. Sie löste sich nicht nur nicht auf wie der Warschauer Pakt, sondern dehnte sich nach Osten aus. Bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurde auf Betreiben der USA den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn die Mitgliedschaft angeboten, die am 12. März 1999 der NATO beitraten, wenige Tage vor Beginn der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO, unter deutscher Beteiligung. Der Krieg war völkerrechtswidrig, da ein Mandat des Sicherheitsrats fehlte. Dabei sollte nach dem 2+4-Vertrag „von deutschem Boden nur noch Frieden ausgehen“.

Trotzdem warb Präsident Putin am 25.9.2001 im Deutschen Bundestag für die Verwirklichung von Gorbatschows Version vom „Europäischen Haus“. Das Protokoll vermerkte: „Die Abgeordneten erheben sich.“

Im November 2002 erhielten auf dem NATO-Gipfel in Prag Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien die Einladung zu Verhandlungen über einen NATO-Beitritt, und am 29. März 2004 traten diese neuen Länder der NATO bei. Beim NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 wurde der Beitritt Albaniens und Kroatiens beschlossen und am 1. April 2009 vollzogen. Der Ukraine und Georgien wurde der Beitritt in Aussicht gestellt, nachdem der ukrainische Außenminister Jazenjuk im Januar 2008 in Bukarest um die Aufnahme in die NATO ersucht hatte. Angela Merkel verhinderte das im letzten Moment. Aber die Umzingelung Russlands war damit weitgehend gelungen.

Eine besondere Rolle in dieser Strategie spielt Polen und dabei wieder Radosław Sikorski. 1992 wurde Sikorski stellvertretender Verteidigungsminister. Von 1998 bis 2001 war er stellvertretender Außenminister. Nachdem die USA nach 9/11 um Beteiligung an der Operation Enduring Freedom (OEF) baten, befürwortete Sikorski die Beteiligung, die im März 2002 auch begann. Ab 2002 arbeitete Sikorski als Direktor der New Atlantic Initiative im konservativen American Enterprise Institute (AEI) in Washington. Das AEI finanziert sich durch Spenden. Unter seinen 50 sogenannten Fellows befinden sich auch zahlreiche Vordenker des amerikanischen Neokonservatismus, wie etwa Richard Perle, Lynne Cheney und Irving Kristol.

Im Haus des AEI arbeitete auch das Project for the New American Century (PNAC), das von der Bradley-Foundation finanziert wird. Die Brüder Bradley betreiben u.a. auch Rüstungsfirmen und unterstützen das PNAC, weil es eine Politik der amerikanischen Hegemonie durch militärische Macht fordert. Zu den Gründern des PNAC gehörten Dick Cheney, Donald Rumsfeld und Robert Kagan, Ehemann der US-Botschafterin bei der EU Victoria Nuland („Fuck the EU“). Das PNAC forderte schon 1998 in einem Brief an Bill Clinton einen Krieg gegen den Irak, der, nachdem Cheney und Rumsfeld unter George W. Bush an die Macht gekommen waren, auch stattfand. Jochen Bölsche, SPIEGEL-Journalist, schilderte dieses Vorhaben im SPIEGEL vom 4. März 2003 unter der Überschrift „Der Krieg, der aus dem Think Tank kam“. Zur ‚Koalition der Willigen‘ gehörte auch Polen.

Nachdem Sikorski im November 2007 Außenminister im Kabinett Tusk wurde, unterstützte er die Stationierung von NATO-Truppen in Polen und anderen Staaten Mittel-Ost-Europas sowie die Positionierung von US-Raketenabwehrsystemen in seinem Land. Am 20.8.2008 unterzeichneten die US-Außenministerin Rice und Sikorski das Abkommen über die Stationierung von US-Luftabwehrraketen in Polen. Im Februar 2010 wurde bekanntgegeben, dass die amerikanischen Patriot-Raketen nur etwa 100 Kilometer von der Grenze zur russischen Enklave Kaliningrad entfernt aufgebaut werden sollten. Ferner wurde bekanntgegeben, dass das Raketenabwehrsystem „zum Schutz Europas“ auf Rumänien ausgedehnt werde.

Sikorski engagierte sich auch für den Umsturz in der Ukraine. Nach einem Artikel in der polnischen linken Wochenzeitung Nie (Neun) vom 18. April 2014 hatte Sikorski im September 2013 86 Mitglieder des Rechten Sektors nach Warschau eingeladen, angeblich als Teil eines Programms zur Zusammenarbeit zwischen Universitäten. Tatsächlich erhielt der Rechte Sektor vier Wochen intensives Training in der Technik des Putsches, einschließlich des Einsatzes von Scharfschützengewehren.

Nachdem das ukrainische Parlament am 16. Januar Gesetze zur Eindämmung der Proteste auf dem Maidan erlassen hatte, kam es schon in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar zu Gewalt, an ihrer Spitze der Rechte Sektor. Am Morgen des 20. Februar schossen Scharfschützen wohl aus dem Hotel Ukraine und aus dem Konservatorium, beide in der Hand des Rechten Sektors (Der Freitag, 19.02.2015), sowohl auf Oppositionelle als auch auf Demonstranten. Rund 80 Menschen starben. Auch der estnische Außenminister Paet äußerte in einem abgehörten Telefongespräch mit der EU-Außenbeauftragten Ashton den Verdacht, das Maidan-Lager habe selbst Scharfschützen engagiert (t-online vom 07.03.2014). Die Journalistin Ann-Dorit Boy schilderte diese Abläufe in der FAZ vom 24.2.2014 unter der Überschrift „Die Extremisten vom Maidan“, die nach Aussage ihres Anführers Jarosch schon Ende Januar „die Verantwortung für den ‚revolutionären Prozess‘ übernommen“ hatten.

Am 21. Februar schlug eine Vermittlungsmission der EU unter der Führung des deutschen, französischen und polnischen Außenministers unter Teilnahme eines Abgesandten der russischen Regierung ein Abkommen vor, nach dem die alte Verfassung von 2004 wiederhergestellt, eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, die Polizei und die bewaffneten Demonstranten zurückgezogen und vorgezogene Neuwahlen durchgeführt werden sollten.

Aber einen Tag nach der Unterzeichnung dieses Kompromissabkommens kam alles anders. Am 22. Februar wurde in Kiew ein Putsch durchgeführt. Der Rechte Sektor besetzte das Parlament und übernahm die Kontrolle in Kiew. Bei der Abstimmung wurde Präsident Janukowytsch abgesetzt. Der Abgeordnete Turtschinow wurde zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Das Parlament wählte den Vorsitzenden der ‚Vaterlandspartei‘, Jazenjuk, zum Ministerpräsidenten. Diese Machtübernahme war illegal, weil die für die Neuwahl eines Staatspräsidenten in der Verfassung vorgeschriebene Dreiviertelmehrheit nicht erreicht wurde. Ludger Volmer, ehemaliger Staatssekretär im AA, bezeichnete diesen Regierungswechsel als „klaren Putsch” (Deutschlandfunk, 25.06.2015).

Dass die Urheberschaft der tödlichen Schüsse auf dem Maidan seither nicht aufgeklärt wurde, hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ein Mitglied der rechten Partei Swoboda neuer Generalstaatsanwalt wurde. Dieser Kurs wird von den USA unterstützt. Vor allem die Republikaner fordern Waffenlieferungen an die ukrainische Armee, die von der EU und vor allem der deutschen Regierung immer wieder nur mit Mühe verhindert werden können. Natürlich hält Ministerpräsident Jazenjuk an seinem Kernanliegen fest, dem Beitritt zur NATO; ein Szenario, das der Journalist Nikolas Busse in der FAZ vom 26.2.2014 für realistisch hielt. Er erinnerte an den Grundsatzbeschluss der Allianz aus dem Jahr 2008, nach dem die Ukraine eines Tages in das Bündnis aufgenommen werden könne: „Eine westlich orientierte Führung in Kiew könnte […] ihn wiederbeleben.“

Der Putsch bewirkte nicht nur den Machtwechsel in Kiew. Er bewirkte auch, dass das Abkommen vom 21. Februar Makulatur wurde. Das kommentiert der Journalist Uwe Klußmann in SPIEGEL-online vom 3.3.2014 wie folgt: „Die Folge: Die russische Bevölkerung der Krim erhob sich gegen die Zentralregierung, noch bevor Putin Truppen in Marsch setzte. Die drei westlichen Unterzeichner Steinmeier, Sikorski und Fabius hätten, wenn sie wollten, für ihre Beschwerden wegen Vertragsverletzung einen Adressaten in Kiew: Das Abkommen trägt auch die Unterschrift des jetzigen Premierministers Arsenij Jazenjuk.“

Vor diesem Hintergrund erscheint die Annexion der Krim im März 2014 in einem neuen Licht. Russland musste damit rechnen, dass rund um seine in Sewastopol stationierte Flotte NATO-Stützpunkte errichtet würden – machtpolitisch gesehen intolerabel und eine handgreifliche Zuspitzung der Einkreisungspolitik durch die NATO.

Am 3. März 2014 beantragte Polen bei der NATO in Brüssel ein Treffen wegen der gespannten Lage im Nachbarland Ukraine und berief sich dabei auf Artikel 4 des NATO-Vertrags. Dort heißt es: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ Am Tag nach dem Treffen der NATO-Botschafter traf sich der NATO-Russlandrat. Putin erklärte (FAZ vom 5.3.2014), ein Militäreinsatz sei derzeit nicht notwendig. In den folgenden Tagen kam es zu einem Machtwechsel in der Regierung der autonomen Republik Krim. Zusammen mit Russland bestritt die neue, selbst nicht demokratisch legitimierte Regierung der Krim die Legitimität der Übergangsregierung der Ukraine. Das Parlament sprach sich am 6. März für einen Anschluss an Russland aus. Am 16. März wurde ein Referendum über den Status der Krim abgehalten, das sich mit großer Mehrheit für den Anschluss an Russland aussprach. Freilich: Ein solches Referendum ist in der Verfassung der Ukraine nicht vorgesehen, es war daher illegal.

Wir konstatieren: In Kiew hat sich unter dem militärischen Druck des Rechten Sektors ein illegaler Machtwechsel ereignet, der einen illegalen Machtwechsel auf der Krim auslöste. Aber der Westen beanstandete nicht etwa den illegalen Machtwechsel in Kiew. Er nahm vielmehr den illegalen Machtwechsel auf der Krim zum Anlass für – nicht nur – Sanktionen, sondern für einen sehr viel weiterreichenden Politikwechsel – zweierlei Maß! Die Vorgänge auf der Krim wurden von den USA und der NATO von den Vorgängen in Kiew abgekoppelt und umgedeutet in einen russischen Strategiewechsel hin zu einer aggressiven Außenpolitik an allen Fronten, auf die auf Basis des Artikel 4 NATO-Vertrag reagiert werden müsse.

Die Beschlüsse hatten fatale Folgen, nach dem Motto ‚NATO – übernehmen Sie‘. Der Übernehmer war Anders Fogh Rasmussen, Generalsekretär der NATO von 2009-2014.

Rasmussen war 1998 zum Vorsitzenden der rechtsliberalen Venstre-Partei gewählt worden, mit der er 2001 die Wahl gewann. Im Wahlkampf hatte er eine Änderung des Ausländerrechts gefordert, „um mehr Platz zum Atmen“ zu bekommen. Im Golf-Krieg 2003 unterstützte Dänemark die USA und behauptete – wohl wider besseres Wissen –, der Irak habe Massenvernichtungswaffen. 2009 trat Rasmussen als Ministerpräsident zugunsten der Übernahme des NATO-Amtes zurück. Auf dem NATO-Gipfel 2010 in Lissabon setzte er ein neues strategisches Konzept durch, das Nikolas Busse von der FAZ sein „Gesellenstück“ nennt (19.11.2010). Zentraler Beschlusspunkt: die Übernahme des bilateral zwischen den USA, Polen und Tschechien verhandelten Raketenabwehrschildes durch die NATO. Begründung: Es werde ein Schutz vor dem Iran gebraucht, was nach Ansicht von Kritikern die Atmosphäre zu Russland ‚vergiftete‘. 2011 versuchte er, die NATO geeint in den Libyen-Einsatz zu führen. Deutschland machte aber nicht mit, was Rasmussen im Nordatlantik-Rat so scharf kritisierte, dass der deutsche und der französische Botschafter den Saal verließen. Im März 2014 sprach sich Rasmussen für eine weitere Erweiterung der NATO aus.

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 4.5.2014 (geführt von Thomas Gutschker) teilte Rasmussen mit, wie die NATO auf die angebliche Bedrohung durch Russland reagierte: „Wir haben die Luftraumpatrouillen über dem Baltikum erweitert, wir nehmen AWACS-Aufklärungsflüge über Polen und Rumänien vor, wir haben die Präsenz unserer Marine im Schwarzen Meer und in der Ostsee erhöht. Das sind ja auch militärische Antworten. Sie dienen der Abschreckung.“ Die Forderung des polnischen Außenministers, der zwei gepanzerte NATO-Brigaden in seinem Land forderte, lehnte er nicht ab. Auf die Feststellung des Interviewers, Deutschland habe den Bestand an Leopard-Kampfpanzern radikal gekürzt, während Russland noch über Tausende Panzer verfüge, antwortete Rasmussen wie folgt: „Absolut, das ist ein Grund zur Sorge. Russland hat seine Verteidigungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einige europäische Verbündete ihre Ausgaben um 40 Prozent gekürzt haben“, weswegen mehr Geld in die Verteidigung investiert werden müsse.

Rasmussen verschwieg, dass Russland zwar nach SIPRI 2014 84,5 Milliarden USD an Militärausgaben hatte, die westlichen NATO-Staaten Frankreich, Großbritannien und Deutschland aber 169,3 Milliarden USD aufwandten, mehr als das Doppelte wie Russland, von den USA ganz abgesehen, die 2014 610 Milliarden USD ausgaben. Allein daraus ist ablesbar, dass ein Angriff Russlands auf NATO-Staaten, was den Beistandsfall nach Artikel 5 NATO-Vertrag auslösen würde, völliger Irrsinn wäre. Aber Rasmussen verfolgte seine Strategie weiter, wie auch sein Nachfolger Stoltenberg auf dem NATO-Gipfel in Wales im September 2014.

Während Rasmussen zum Auftakt des Gipfels in Wales den Ton gegenüber Moskau verschärfte – „Rasmussen wirft Russland Angriff auf Ukraine vor“ (SPIEGEL-online vom 4.9.2014) – reagierte Russland diplomatisch. Putin teilte in einer Pressekonferenz am 3. September mit, er habe mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko darüber gesprochen, wie man das „Blutvergießen im Südosten“ der Ukraine „schnellstmöglich“ beenden könne. Er legte einen Handlungsplan mit sieben Punkten vor. Daraus entstand das Protokoll von Minsk (Minsk I), das von dem früheren ukrainischen Präsidenten Kutschma, von Sachartschenko und Plotnizki als Vertreter des Donbass und als Vertreter Russlands vom russischen Botschafter in der Ukraine Surabow unterzeichnet wurde. Die wichtigste Unterschrift kam von Botschafterin Heidi Tagliavini, die für die OSZE die Special Monitoring Mission (SMM) repräsentierte. Die Eckpunkte: Waffenstillstand, Verifikation durch die OSZE, Dezentralisierung der Macht mit lokaler Selbstverwaltung, Sicherstellung eines Monitorings, Freilassung aller Geiseln, Amnestie für Betroffene in Donezk und Lugansk, Fortsetzung des gesamtnationalen Dialogs, Verbesserung der humanitären Situation im Donbass, Durchführung vorgezogener Lokalwahlen nach gesetzlicher Maßgabe, Abzug von illegalen bewaffneten Einheiten (allen), Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Donbass, Sicherheitsgarantien für die Teilnehmer der Konsultationen. Poroschenko teilte in Wales mit, der russische Präsident Putin habe die Separatisten aufgerufen, das Feuer einzustellen. Auch er habe eine Feuerpause angeordnet.

Aber was wurde in Wales noch beschlossen? Rasmussen stellte eine neue „Speerspitze der Einsatztruppe“ vor, die das „auf dem Recht gründende Sicherheitssystem“ in Europa verteidigen solle. Damit sende die NATO ein „sehr deutliches Signal an Moskau“. Die FAZ titelte (am 6.9.2014): „Die NATO kommt wieder in Mode“.

Zwar wurden Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt, insbesondere von Deutschland. Andererseits könnten von Ungarn 80 T-72-Panzer über Prag an die Ukraine geliefert worden sein (FAZ 6.9.2014). Und am 15.9.2014 starteten mehrere NATO-Staaten unter Führung der USA das Manöver „Rapid Trident“ in der Ukraine, gegen russische Proteste. Auch Deutschland tat mit. Im November 2014 forderte der NATO-Oberbefehlshaber in Europa, Philip Breedlove, beim Pentagon mehr Truppen und Ausrüstung an, um die im Baltikum, in Polen und in Rumänien getroffenen Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken. Im Februar 2015 nahmen NATO-Truppen an einer Parade in der estnischen Grenzstadt Narva teil. Die FAZ berichtete unter der Überschrift „Russland startet Manöver an Estlands Grenze“ (25.2.2015). Aber die NATO-Paradenverstärkung hatte schon einen Tag zuvor stattgefunden!

Ein Merkmal der zunehmenden militärischen Übungen des Westens ist, dass sie von der US-Army Europe ausgerichtet werden, an denen NATO-Einheiten teilnehmen, etwa das Manöver „Saber Strike“, ein groß angelegtes Manöver von Landstreitkräften mit Luftunterstützung, das die Zusammenarbeit innerhalb der NATO an ihrer Nordost-Flanke trainieren soll. Diese Übungen finden seit Jahren statt, angeblich um den Befürchtungen in Polen und im Baltikum vor einer russischen Invasion entgegenzuwirken. Zudem beschloss die NATO am 24.6.2015, die Schnelle Eingreiftruppe auf 40.000 Mann zu verstärken. Zuvor waren es 13.000. Der frühere Staatssekretär der Grünen im AA, Ludger Volmer, der jetzt Politische Wissenschaften an der FU Berlin lehrt, sagte im Deutschlandfunk vom 25.6.2015 dazu, dass man „durch die eigene Aufrüstung […] erst auf anderer Seite militärische Maßnahmen provoziere, die dann eine Gefahr hervorriefen“: „Wir sehen den Beginn eines Kalten Krieges und der wird sich so weit entwickeln, bis die Frage der atomaren Waffen wieder auf der Tagesordnung steht, und man kann nur hoffen, dass der Prozess dann gestoppt wird wie schon 1989/90, als der Kalte Krieg wieder beendet wurde durch eine Beendigung der Blockkonfrontation. Was wir im Moment sehen, ist jedenfalls eine höchst gefährliche und ungesunde Entwicklung.“ Volmer bemerkte dazu, dass Russland in strategischer Hinsicht eher in der Defensive sei: „Im Übergang von der Clinton- zur Bush-Regierung haben sich Kräfte durchgesetzt, die gesagt haben: Nachdem die Sowjetunion nun einmal gestürzt ist, werden wir Russland so stark schädigen, dass es sich nie mehr erholen kann. Und diese Kräfte sind leider auch heute immer noch wirksam in den USA.“

Und sie haben Erfolg. Es finden immer mehr Manöver statt, häufig unter Anführung der USA, manchmal als NATO-Manöver. Russland reagiert mit den sogenannten ‚Snap Drills‘. An ihnen nehmen häufig viel mehr Soldaten teil als auf der westlichen Seite. Der Unterschied ist, dass die Russen in ihrem eigenen Land bleiben, häufig fernab von der Westgrenze. Anders die USA und die NATO: Sie üben mit multinationalen Kräften und vor allem in den baltischen Staaten, Polen und Rumänien, deren historisch begründete Ängste durch den polnischen Artikel-4-Antrag am 3. März 2014 wachgekitzelt wurden. Und die von Rasmussen losgetretene Diskussion über die Steigerung der Rüstungsausgaben läuft. Der deutsche Finanzminister Schäuble nahm sie soeben auf.

Außenminister Steinmeier distanzierte sich allerdings davon. Er bemängelte das Anakonda-Manöver mit 24 teilnehmenden NATO-Staaten und anderer Verbündeter Polens als „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ (20.6.2016). Und Steinmeier ist es auch, der unermüdlich die diplomatischen Bemühungen zur Beilegung der Krise vorantreibt, etwa durch Unterstützung des Minsk-Prozesses.

Im Februar 2015 war das Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsker Vereinbarung (Minsk II) beschlossen worden. Es bekräftigte den Waffenstillstand und –abzug unter Aufsicht der OSZE. Weiterer zentraler Punkt waren die Lokalwahlen und das Gesetz der Ukraine über das Interimsverfahren für die lokale Selbstverwaltung. Die ukrainische Seite verfocht die „Wiederherstellung der vollen Kontrolle über die Staatsgrenze durch die ukrainische Regierung im gesamten Konfliktgebiet“, die separatistische Seite die „Durchführung einer Verfassungsreform in der Ukraine“, mit Dezentralisierung als Schlüsselelement und der Verabschiedung dauerhafter Rechtsvorschriften über den Sonderstatus bestimmter Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk bis Ende 2015.

Dieser Prozess ist schwierig. Aber er wird keineswegs nur von Putin behindert, so aber die Mainstream-Medien. Der deutsche OSZE-Beauftragte Gernot Erler – Deutschland hat 2016 den OSZE-Vorsitz – sagte am 8. Juni 2016 im Reichstag, die politische Umsetzung von M II hänge derzeit im Wesentlichen in Kiew: die Verfassungsreform, das Lokalwahlgesetz, Polizeireform und Beobachter. Es gebe eine „Bringschuld von beiden Seiten“. Die deutsche Position sei: Alles hänge von der Umsetzung von Minsk II ab.

Also: Der NATO-Gipfel in Warschau hätte eigentlich deeskalieren sollen, die Manöver zurückschrauben, auf Verständigung mit Russland hinwirken, vor allem durch Konsultationen im NATO-Russland-Rat. Sonst verschärfen sich die Spannungen weiter. Man denkt unwillkürlich an den Beginn des Ersten Weltkriegs, in den die Staaten ‚hineinschlitterten‘. Das ist aber historisch falsch: Deutschland und vor allem Österreich wollten den Krieg, schürten den Hass gegen die Serben und die Russen. Das Ergebnis ist bekannt. Dieser Irrsinn darf sich nicht wiederholen.

Dr. Peter Becker, Rechtsanwalt, Co-Präsident der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA)