Rede in Shanghai zu deutsch-chinesischen Beziehungen: Für Freiheit, Frieden, und Gerechtigkeit in der Welt

Rede in Shanghai zu deutsch-chinesischen Beziehungen: Für Freiheit, Frieden, und Gerechtigkeit in der Welt

Rede in Shanghai zu deutsch-chinesischen Beziehungen: Für Freiheit, Frieden, und Gerechtigkeit in der Welt

Sevim Dagdelen
Ein Artikel von Sevim Dagdelen

Die Obfrau der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages und Sprecherin für Internationale Politik, Sevim Dagdelen, hat am 5. Juni an der Shanghai International Studies University (SISU) einen Gastvortrag zu deutsch-chinesischen Beziehungen in Zeiten des „Stellvertreterkriegs der NATO in der Ukraine“ und des immer weiter eskalierenden westlichen Sanktionsgebarens gehalten. Die NachDenkSeiten dokumentieren die Rede an einer der renommiertesten Universitäten Chinas im Wortlaut. Von Redaktion.

Es ist mir eine außerordentliche Ehre, heute hier an der Shanghai International Studies University (SISU) und damit an einer der führenden akademischen Einrichtungen der Volksrepublik China zu Gast sein und zu Ihnen über die deutsch-chinesischen Beziehungen sprechen zu dürfen. Seit der Gründung als Russische Schule Shanghai und erste Fremdsprachenhochschule Chinas im Jahr 1949 steht Ihre Institution beispielhaft für interkulturelle Kommunikation, internationalen Austausch und Völkerverständigung.

Insbesondere in Zeiten zunehmender geopolitischer Spannungen und konfrontativer Politikentwürfe, in denen Intoleranz und das Denken in Freund-Feind-Schemata das Primat der Diplomatie zu erodieren drohen, sind internationaler Austausch, gegenseitiges Verständnis und friedliche Kooperation von herausragender globaler Bedeutung. Durch Ihre wissenschaftliche Innovation und die globale Ausrichtung Ihrer Universität, wie sie sich etwa in Form zahlreicher Bildungskooperationen und des umfangreichen akademischen Austauschs zeigt, leisten Sie hierzu einen wichtigen Beitrag, der nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Wenn wir über die deutsch-chinesischen Beziehungen 2023 im Licht der Zeitenwende der Emanzipation des globalen Südens sprechen, müssen wir zuallererst über ein wichtiges Buch zum Verständnis der Gegenwart sprechen. Es heißt „The Economic Weapon. The rise of sanctions as a tool of modern warfare“ und ist 2022 in den USA erschienen. Der Autor ist Nicolas Mulder, ein „Assistant professor of European Modern History at Cornell University.“ Nicolas zeichnet präzise nach, wie historisch Wirtschafts- und Finanzsanktionen als Waffe im modernen Krieg entwickelt wurden, angefangen im Ersten Weltkrieg und 1919 vom damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson beschrieben in ihrer Wirkung als „something more tremendous than war“.

Es gilt zu konstatieren, dass die USA, die NATO und ihre Verbündeten in Asien, Australien und Europa nicht nur durch die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen an die Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen, sondern auch einen Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, so drückte sich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock aus, „Russland zu ruinieren“. Wirtschaftssanktionen sind ein Mittel der modernen Kriegsführung oder, um in Anlehnung an den preußischen Militärtheoretiker Clausewitz zu sprechen: Sie sind die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.

Was aber haben diese Wirtschaftssanktionen gegen Russland mit den deutsch-chinesischen Beziehungen zu tun und inwiefern fördern sie nach einem mephistophelischen Prinzip eine Zeitenwende und eine Emanzipation des globalen Südens? Zur Erläuterung: Mephistopeles ist eine Figur aus dem Roman „Faust“ des deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe: „Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, so lässt Goethe ihn seine Wirkung im „Faust“ selbst beschreiben.

Dazu muss man wissen, dass die Sanktionen gegen Russland bisher ihre beabsichtigte Wirkung verfehlten. Auch wenn der wirtschaftliche Schaden für Russland sicherlich beträchtlich ist, leiden vor allem die Europäer unter dem Wirtschaftskrieg, allen voran Großbritannien und Deutschland, deren Ökonomien in eine Rezession gerutscht sind. In Deutschland wird es wohl nach 2022 mit 4 Prozent auch in diesem Jahr Reallohnverluste für die Beschäftigten geben. Über zwei Millionen Menschen sind mittlerweile auf Lebensmittelspenden angewiesen, eine Steigerung von 50 Prozent im vergangenen Jahr. Aber die Inflation trifft nicht nur die Menschen über die hohen Preise für Energie und Lebensmittel, sondern auch immer mehr Unternehmen in Deutschland. Eine Deindustrialisierung von gigantischem Ausmaß droht, der Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen steht im Raum. Im Mai 2023 wurden bereits fast 300.000 mehr Arbeitslose als im Vorjahr in Deutschland gemeldet, insgesamt 2,54 Millionen.

Wenn in Deutschland über diesen wirtschaftlichen Einbruch diskutiert wird, dann zeichnen sich oft zwei Linien ab. Die eine Seite argumentiert, der Einbruch habe mit den Wirtschaftssanktionen nichts zu tun und wenn, dann liege die Schuld allein bei Moskau. Und die andere Seite argumentiert, dass der wirtschaftliche Preis für einen möglichen Sieg der Ukraine gegen Russland in Deutschland nicht zu hoch sei.

Die Wohlstandsverluste wären moralisch als Leistung angemessen angesichts der Kriegstoten in der Ukraine.

Weil der durchschlagende Erfolg im Wirtschaftskrieg bisher ausblieb, hat man sich jetzt auf eine weitere Ausweitung der Sanktionen versteift. Und hier kommt China ins Spiel. Denn weil man analysiert, dass auch mögliche Umgehungen der Russland-Sanktionen künftig getroffen werden sollen, hat die EU ein 11. Sanktionspaket aufgelegt, bei dem auch chinesische Firmen getroffen werden sollen. Zwar wurde einschränkend betont – offenbar um die Reziprozität durch China abzumildern –, es handele sich nur um Sanktionen gegen chinesische Firmen, die nach Russland von der EU aus liefern. Aber überzeugend ist dieses Argument in einer Zeit der globalisierten Produktion nicht wirklich.

Zwar wurde das 11. Sanktionspaket von Ungarn und Griechenland erst einmal gestoppt, um ungarische und griechische Firmen von der eigenen ukrainischen Sanktionsliste löschen zu können, aber vieles spricht dafür, dass dieser Weg von der EU und auch leider von der Bundesregierung unerbittlich weiter verfolgt werden wird, da es die USA sind, die hier insbesondere auf eine Ausweitung der Sanktionen gegen chinesische Unternehmen drängen, aber selbst im Hintergrund bleiben wollen, damit die Reziprozität dann vor allem Europa treffen wird.

Es sei angemerkt, dass vieles dafür spricht, dass ein Wirtschaftskrieg der Bundesregierung gegen China für die deutsche Bevölkerung noch weit verheerender wäre als die Sanktionen gegen Russland. China ist der größte Handelspartner Deutschlands. Die deutsche Autoindustrie mit ihren 850.000 Arbeitsplätzen würde wohl einen solchen Wirtschaftskrieg, nicht nur was den Verlust des Absatzmarkts, sondern der Produktionsstätten angeht, nicht überleben. Dies erklärt vielleicht auch, warum die Bundesregierung noch zögert, sich zur Vorhut dieser europäischen Kamikaze-Aktion zu machen.

Man muss betonen, welches Potential zum gegenseitigen Nutzen ein Ausbau der deutsch-chinesischen Beziehungen haben könnte. Im kulturellen, wissenschaftlichen und im Bildungsbereich, aber auch in der Verstärkung der Handelsbeziehungen und der Förderung vernetzter Produktionsketten und der dafür erforderlichen Infrastruktur.

Gerade im Bereich der Lese- und Rechtschreibkompetenz für Grundschüler, wo Deutschland immer schlechter abschneidet und weit hinter China zurückgefallen ist, gäbe es, um nur ein Beispiel zu nennen, Möglichkeiten des gegenseitigen Lernens.

Das Haupthindernis aber auf dem Weg zur Förderung der deutsch-chinesischen Beziehungen sehe ich in der mangelnden Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Gerade im Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine zeigt sich, dass Berlin nur in Sekundenbruchteilen außenpolitische Entscheidungen Washingtons nachvollzieht und sogar, wie an der Frage der Lieferung deutscher Panzer ablesbar, sich in die erste Reihe des Krieges schieben lässt, während Washington seine Panzerlieferungen verzögerte.

Die Situation in Deutschland erinnert an die Situation in Lateinamerika der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, bei der eine Kompradoren-Bourgoisie die Interessen von US-Konzernen durchsetzt. Oft wird dabei auf die massive Präsenz von US-Truppen in Deutschland verwiesen, die seit 78 Jahren stationiert sind, oder auf die engmaschigen transatlantischen Netzwerke in Politik, Medien und Wirtschaft. Aber als alleinige Erklärung für die extreme Willfährigkeit, mit der die deutsche Politik gegenüber den USA oft agiert, reicht dies nicht aus.

Aufgrund der Kürze der Zeit will ich hier nur einen Hinweis geben: Seit 1990 hat der US-Investmentfond BlackRock, mit über 10 Billionen Dollar weltweit die größte Gesellschaft verwalteten Vermögens, enorm in Deutschland investiert. BlackRock ist an allen 30 Dax-Unternehmen, die den deutschen Aktienindex ausmachen, entscheidend beteiligt und größter Anteilseigner bei acht von ihnen. Sicher, BlackRock investiert auch in China, aber in keinem Fall kann von einer derart starken Stellung wie in Deutschland gesprochen werden.

Diese Zusammenballung wirtschaftlicher Macht wirkt sich auf politische Entscheidungen in Deutschland aus. Das scheint mir unbestritten. Hier ist wie im Bereich der NATO ein weites Feld für wissenschaftliche Untersuchungen, inwieweit dieses Investment politisch dazu beiträgt, in ein Vasallenverhältnis Deutschlands gegenüber den USA und vor allem den USA-Konzernen übersetzt zu werden. Leider gibt es nur wenig Hoffnung, dass diese wissenschaftliche Arbeit an deutschen Hochschulen geleistet werden könnte – wir haben dort nicht einen NATO-kritischen Wissenschaftler. Aber hier gilt es anzusetzen, wenn man um die Zukunft der deutsch-chinesischen Beziehungen besorgt ist, dass man auslotet, wie der Einfluss eines Dritten, der kein Interesse an einem Blühen dieser Beziehungen hat, zurückgedrängt werden kann.

Im Schach gibt es für die Endspiele eine Regel, die man das „Prinzip der zwei Schwächen nennt“. Diese Regel wird vom Westen in der internationalen Politik weithin nicht beachtet. Das „Prinzip der zwei Schwächen“ besagt folgendes: Manchmal reicht es trotz vorteilhafter Stellung nicht zum Gewinn. Ersteht dem Gegner jedoch mehr als eine Schwäche, dann rückt der Sieg in greifbare Nähe. Denn ein Schachfeldzug an zwei Fronten führt zur Überlastung und am Ende zum Verlust. Wenn man sich die Debatte um die Ausweitung der Wirtschaftssanktionen anschaut, dann wird offenbar, wie wenig dieses wichtige Prinzip der zwei Schwächen in der politischen Praxis Anwendung im Westen findet.

Aber wie im Stellvertreterkrieg scheint am Ende das All-In, ein Alles-oder-nichts-Prinzip zu herrschen, bei dem sowohl das Risiko eines Dritten Weltkriegs und zumindest eines Weltwirtschaftskriegs wächst mit möglicherweise verheerenden Folgen für die Bevölkerung auf dem gesamten Globus. Eine Politik am Roulettetisch aber führt noch sicherer in den absoluten Verlust. Alles, was seit Ende des Zweiten Weltkriegs auch an internationalen Institutionen aufgebaut wurde, um an die Stelle des Krieges die Diplomatie und die Kooperation zu setzen, drohte eingerissen zu werden. Und auf diese Vernunft, die sich einer Apokalyptik der Spieler verweigert, müssen die deutsch-chinesischen Beziehungen in Gegenwart und Zukunft gründen.

Mit Bezug auf das erzeugte Gegenteil muss man die Emanzipation des globalen Südens als Resultat des Wirtschaftskriegs des Westens ins Kalkül ziehen. 80 Prozent der Welt beteiligen sich nicht an den westlichen Sanktionen. Immer lauter werden hingegen die Rufe nach eigenen Handelswährungen, da nur diese vor den Drittwirkungen westlicher Sanktionen wie vor der modernen Kriegsführung des Westens auf lange Sicht zu schützen scheinen.

Und auch hier müssen wir immer wieder auf die doppelten Standards verweisen, vor denen der globale Süden, um es einmal umgangssprachlich auszudrücken, die Nase gestrichen voll hat. Wer wäre auf die Idee gekommen, wegen der US-Intervention im Irak eine weltpolitische Isolierung der USA auf die Agenda setzen zu wollen? Nur Narren vielleicht. Bei Russland aber ist das alles anders. Die Sanktionen zielen ja nicht nur darauf, dem Land wirtschaftlich zu schaden, um ihm seinen Willen aufzwingen zu können, sondern um es international, aber vor allem in Europa zu isolieren. Russland hat hier aus der Not eine Tugend gemacht und was Handeln und Beziehungen angeht, so etwas wie eine asiatische Wende eingeleitet, flankiert durch den Ausbau der Beziehungen in Lateinamerika und Afrika. Der Traum einer deutsch-russischen Partnerschaft zu beiderseitigem Nutzen ist ausgeträumt.

In Castres im Süden Frankreichs habe ich im Museum einmal ein bezeichnendes Bild dazu gesehen: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ von Francisco de Goya. Und für Europa heißt dieser Versuch des Herausdrängens oder gar der Unterwerfung Russlands größte Gefahr und dräuendes Elend für seine Bevölkerung.

Die mentale Wirkung deutscher Panzerlieferungen an die Ukraine wie auch die Unterstützung von russischen Neonazis, die jetzt Überfälle auf Russland ausüben, wird im Westen und insbesondere leider auch in Deutschland unterschätzt.

Auch die Angriffe mit Kampfdrohnen aus der Ukraine jetzt auf Moskau mit ausdrücklichem Plazet der Regierung in London – die Biden-Administration und die Bundesregierung halten sich hier etwas bedeckter – zielen auf den Beginn eines totalen Krieges, als dessen Teil die Isolation Russlands im totalen Wirtschaftskrieg fungieren soll. Und genau so argumentieren diejenigen, die fatalerweise auf eine Ausweitung gen China setzen. Fakt ist, dass das „Kap Asiens“, wie Europa einmal vom französischen Dichter Paul Valery genannt worden ist, sich selbst isoliert mit einer Politik, die die Profitinteressen der großen US-Konzerne vor die Interessen der eigenen Bevölkerung stellt.

Lenin war auch ein Schachspieler. Bekannt sind die Fotos im Exil auf Capri, die ihn im Spiel gegen Maxim Gorki 1908 zeigen. Im Schach gibt es immer die Empfehlung, der Theorie zu folgen. Aber zugleich gilt der höher gestellte Grundsatz „Tue, was du tun musst“, um eine Praxis und aus ihr eine Theorie zu entwickeln, die auf Gewinn abzielt. Bei der Verteidigung der russischen Revolution ist dieser höher gestellte Grundsatz voll zum Tragen gekommen und hier meine ich jetzt nicht nur Lenins neue ökonomische Politik, sondern den Kongress der Völker des Ostens von 1920. Mit ihm wurde nichts weniger als ein Bündnis der unterdrückten kolonisierten Völker mit der Arbeiterklasse vorgeschlagen. Ein Bündnis, das auf Emanzipation zielte, um die Sowjetunion zu schützen gegen die Invasion Großbritanniens und Frankreichs und eine Restauration des Kapitalismus.

Manchmal sind hundert Jahre wie ein Tag. Gegen den Versuch, der Welt ein neokoloniales Korsett mit Stellvertreterkriegen und Wirtschaftskriegen aufzuzwingen, zeigt sich Widerstand im globalen Süden. Von einem Bündnis der Arbeiterklasse im Westen mit den Völkern des Südens würde die gesamte Welt profitieren, um statt auf Rüstungswahn, wirtschaftlichen Abstieg und Putsche auf Diplomatie, Kooperation und gegenseitigen Interessenausgleich zu setzen: Für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt.

Ich danke Ihnen.

Titelbild: smapse.com

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