Brüssel im totalen Wirtschaftskrieg: Das 11. EU-Sanktionspaket

Brüssel im totalen Wirtschaftskrieg: Das 11. EU-Sanktionspaket

Brüssel im totalen Wirtschaftskrieg: Das 11. EU-Sanktionspaket

Hannes Hofbauer
Ein Artikel von Hannes Hofbauer

Am 23. Juni 2023 stimmte der EU-Rat dem Vorschlag der Brüsseler Kommission zu und beschloss ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland und gegen alle, die sich der EU nicht unterordnen wollen. Es ist das elfte, wenn man mit Februar 2022 zu zählen beginnt. Tatsächlich waren schwarze Listen und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen missliebige Personen und Unternehmen bereits im März bzw. April 2014 aufgelegt worden. Damit hatten die Granden der Europäischen Union auf die Anti-Majdan-Proteste im Donbass und die Vorbereitung für ein Referendum auf der Krim reagiert, das dann zwei Wochen nach der Verhängung der EU- (und US-)Sanktionen die Abspaltung der Halbinsel von der Ukraine mit 95-prozentiger Zustimmung bestätigte. Von Hannes Hofbauer.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der große transatlantische Wirtschaftskrieg gegen Moskau begann nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine im Frühjahr 2022. Mit der Beschlagnahme von 200 Milliarden US-Dollar russischer Zentralbankgelder alleine durch die Staaten der Europäischen Union war eine bis dato nie denkbar gewesene Eskalationsstufe erreicht. Das EU-Sanktionsregime ist im Übrigen genauso völkerrechtswidrig wie der Einmarsch russischer Truppen ins Nachbarland. Internationale Legitimität könnten Wirtschaftssanktionen nur erhalten, wenn sie der UN-Sicherheitsrat billigte, was wegen des vorhersehbaren russischen (und vermutlich auch chinesischen) Vetos nicht realisierbar ist. Auch die Welthandelsorganisation WTO kennt grundsätzlich das Instrument der Wirtschaftssanktion und gesteht es einem Mitgliedsstaat zu, wenn diesem zur „Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen“ keine andere Wahl bleibt.[1] Die Ukraine darf nach WTO-Regeln also wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Russland setzen, weil sie tatsächlich durch den Einmarsch gefährdet ist. Die EU bzw. die ganze transatlantische Staatengemeinschaft ist dieser Gefährdungslage freilich nicht ausgesetzt; insofern sind deren Sanktionspakete aggressive, völkerrechtswidrige Akte.

Das nun 11. Sanktionspaket ist das Produkt zäher Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und einzelnen Staatsoberhäuptern. Nationale Parlamente, die ja die eigentliche Legislative darstellen, werden schon lange nicht mehr mit den wichtigsten geo- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen befasst. Weil es in Russland bzw. im Handel zwischen EU-Ländern und Russland nach zehn Paketen kaum mehr etwas zu sanktionieren gibt, nimmt Brüssel jetzt jene Länder und dort stationierte Unternehmen ins Visier, die sich nicht am Wirtschaftskrieg gegen Russland beteiligen. Das 11. Paket ist ein Sammelsurium von Drohungen und Erpressungen. Bislang wurde auf „diplomatischem“ Weg gedroht und erpresst, also undiplomatisch. Dafür tourten unter anderem die zwei bellizistischen deutschen Frauen, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Außenministerin Annalena Baerbock, durch Afrika und Lateinamerika, um dort Mittäter im Wirtschaftskrieg gegen Russland anzuwerben; ohne großen Erfolg. Jetzt ist man dazu übergegangen, die juristische Keule zu schwingen, und hat dafür einen eigenen Beauftragten installiert: den eingefleischten Transatlantiker und ehemaligen EU-Botschafter in den USA, David O’Sullivan.

Der Quantensprung im 11. Sanktionspaket besteht darin, dass die EU jetzt nicht mehr in erster Linie gegen Russland vorgeht, sondern gegen Länder, die mit Russland Handel treiben. Extraterritoriale Sanktionen oder auch Sekundärsanktionen nennt man diese Eskalationsstufe. Überall dort, wo sich in den vergangenen zwei Jahren der Außenhandel mit Russland signifikant erhöht hat, will Brüssel mit ökonomischen Repressalien intervenieren. Auf der am 23. Juni beschlossenen Sanktionsliste stehen explizit Länder wie Kasachstan, die Vereinigten Arabischen Emirate, Armenien, Syrien und China. Unternehmen, die von dort aus EU-Waren nach Russland liefern bzw. als Umschlagplatz dafür verdächtigt werden, soll es nun an den Kragen gehen.

Warum die Türkei nicht genannt ist, hat offensichtlich mit ihrer NATO-Mitgliedschaft zu tun, da fehlte den Brüsseler Behörden der Mut. Denn laut einer Studie des US-Unternehmens „Silverado Policy Accelerator“ waren es vor allem türkische Firmen, die vom Rückzug der EU-Konkurrenten aus Russland profitierten. Der türkische Außenhandel mit Russland legte zwischen 2020 und 2022 um 54 Prozent zu; demgegenüber konnte Kasachstan seine Russland-Exporte um „nur“ 24 Prozent steigern und China um 12 Prozent.[2] Darüber hinaus wird allen Schiffen der Zugang zu EU-Häfen untersagt, die von Brüssel nicht kontrollierte Transfers durchführen, indem sie z.B. keine lückenlose Navigationsüberwachung vorweisen können. Dies zielt insbesondere auf internationale Reedereien, die sich nicht an die EU-Preisobergrenze für russisches Öl halten.[3]

Mit dem 11. Sanktionspaket wird auch endgültig die Möglichkeit kassiert, russisches Öl über Pipelines nach Deutschland zu pumpen. Skurril wird es an diesem Punkt, weil für kasachisches Öl eine Ausnahme gemacht wird. Es darf über dieselben Pipelines via Russland Öl nach Europa transportieren. Gleichzeitig droht die EU Astana mit Sekundärsanktionen, sollten kasachische Firmen in Russland die von EU-Unternehmen verlassenen Positionen einnehmen. Der Sanktionsreigen ist – so lernen wir – ein fast undurchschaubarer Wust an Paragraphen und Ausnahmen, der immer wieder Möglichkeiten für Umgehungen bietet.

71 weiteren Personen und 33 Unternehmen, die dem EU-Wirtschaftskrieg in die Quere gekommen sind, finden sich seit 23. Juni 2023 neu auf der Liste. Damit erhöht sich die Zahl derer, denen Konten und Vermögenswerte eingefroren wurden, auf knapp 2.000. Und Brüssel ist gerade dabei, dem kanadischen Beispiel zu folgen, nach dem dort eine neue Gesetzeslage erlaubt, die beschlagnahmten Werte zu stehlen und an die Ukraine – im Klartext: an westliche Rüstungsfirmen, bei denen die Ukraine in der Kreide steht – weiterzuleiten. Seit dem 7. EU-Sanktionspaket findet sich übrigens der erste EU-Bürger auf der anti-russischen Sanktionsliste. Es handelt sich um den slowakischen Unternehmer Jozef Hambalek, Führer der europäischen Sektion des russischen Motorrad-Klubs „Nachtwölfe“, der seine Sympathie für Wladimir Putin nie verheimlich hat. Seine Enteignung beschreibt der Motorrad-Recke in einem Interview beim slowakischen Portal „ereport“ mit den Worten: „Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn man morgens aufwacht und feststellt, dass man nichts mehr hat (…) und man nicht weiß, warum? Sie haben alles mitgenommen, sie haben meine Konten gesperrt, sie haben meine Autos und Motorräder mitgenommen, sie haben mein Haus eingefroren, sie haben mir den Strom abgestellt. Niemand hat mir etwas gesagt, ich werde nicht beschuldigt, es gibt kein Verfahren gegen mich (…). Sie haben einfach alles weggenommen.“[4] Was für reiche Russen, die auf der EU-Sanktionsliste landen, unangenehm ist, ist für einen EU-Europäer, der hier lebt, existenzgefährdend.

Ganz ohne offizielle Sanktionen ist übrigens die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl in eine ähnliche Lage gekommen. Nachdem ihr in Österreich wegen Aufsichtsratsposten in russischen Staatsbetrieben die Konten gesperrt worden waren und sie auch aus dem französischen Exil, wohin sie sich begab, vertrieben wurde, floh sie in den Libanon. Von dort pflegt sie weiter intensive wissenschaftliche Kontakte zu Russland, durch die sich der Chef der Diplomatischen Akademie in Wien, Emil Brix, zur Aussage hinreißen ließ, man müsse Kneissl die österreichische Staatsbürgerschaft entziehen. Den Hass, der einer solchen Aussage zugrunde liegt, muss man sich mal zu Gemüte führen. Der Oberlehrer für die Ausbildung von Diplomaten des offiziell neutralen Österreich, das sich mit keinem Land im Krieg befindet, schlägt ernsthaft vor, die ehemalige Außenministerin, ebenfalls früher Absolventin der Diplomatischen Akademie, in die Staatenlosigkeit zu treiben. Dass dies dem Gesetz nach nicht möglich ist, musste dem Herrn Brix erst von Regierungsseite in Erinnerung gerufen werden.

Extraterritoriale Sanktionen zeugen von einem imperialistischen Anspruch, andere Staaten dem eigenen Regime zu unterwerfen. Dabei soll die (EU-)Jurisdiktion einem fremden Land übergestülpt werden; ganz nach dem Motto: was in Brüssel beschlossen wird, muss auch in Astana, Dubai, Abu Dhabi, Jerewan, Damaskus oder Peking gelten, ganz egal, welche politischen oder gesetzlichen Regeln dort in Kraft sind. Bis vor kurzem noch haben sich Politiker aus der EU, insbesondere solche aus Deutschland, vehement gegen das Instrument der extraterritorialen Sanktion gewehrt und die USA, die dieses Mittel schon länger einsetzt, dafür gescholten. Anfang September 2020 antwortete der Sprecher des deutschen Auswärtigen Amtes, Christofer Burger, im Rahmen der Bundespressekonferenz auf die Frage, was das Außenministerium von den US-Sanktionen gegen Kuba halte:

„Ich kann Ihnen dazu sagen, dass wir grundsätzlich und unabhängig von der Ländersituation extraterritorial wirkende Sanktionen ablehnen.[5]“

Dieser Grundsatz wurde mit dem 11. Sanktionspaket über Bord geworfen.

Zwei Monate lang haben die Brüsseler Wirtschaftskrieger gebraucht, um alle EU-Staaten auf den neuen Kurs Richtung Sanktionierung von Drittstaaten zu bringen. Deutschland wehrte sich dagegen, die ursprünglich acht chinesischen Firmen ins Visier zu nehmen, jetzt werden nur drei in Hongkong beheimatete Unternehmen mit Strafen eingedeckt. Als besonders widerständig gegen das fortgesetzte und vertiefte Russland-Bashing erwiesen sich Ungarn und Griechenland. Die Regierungen in Budapest und Athen sahen es nicht ein, dass wichtige Unternehmen aus ihren Ländern von Kiew auf einer schwarzen Liste sogenannter „Kriegssponsoren“ geführt werden und sie nichtsdestotrotz extraterritorialen Sanktionen zur Schwächung Russlands zustimmen sollten. Sie forderten die Ukraine auf, die „Kriegssponsorenliste“ zu überarbeiten und die entsprechenden Unternehmen von ihr zu streichen. Griechenland gelang es immerhin, fünf große Schiffsreedereien, die Kiew wegen (angeblicher) Geschäfte mit Russland auf die schwarze Liste gesetzt hat, reinzuwaschen.

Für Ungarn ging es um seine größte Bank OTP, ein in Mittel- und Osteuropa tätiges Institut mit über 40.000 Mitarbeitern in elf Ländern. Ihre Präsenz in Russland gefällt Kiew nicht, weswegen OTP als „Kriegssponsor“ geführt wird. Wenn Kiew OTP nicht von der schwarzen Liste streicht, wird Budapest dem 11. Sanktionspaket nicht zustimmen, tönte es aus dem ungarischen Außenministerium. Sein Leiter, Außenminister Péter Szijjártó, nannte die Kiewer Liste noch Anfang Juni „inakzeptabel und unverschämt“.[6] Trotz aller Bemühungen, die Wogen zwischen Kiew und Budapest zu glätten, blieb Selenskij auf anti-ungarischem Kurs. Das mag auch mit einer Episode zusammenhängen, die in unseren Breiten kaum Beachtung gefunden hat, nämlich der Überstellung von in Russland gefangen genommenen Soldaten der ukrainischen Armee direkt nach Ungarn. Und das kam so: Die ungarische Minderheit im äußersten Westen der (Karpaten-)Ukraine leidet besonders unter dem harten Einberufungsregime der ukrainischen Armee. Sie hat viele Opfer an der Front im äußersten Osten des Landes zu beklagen, wohin sie keinerlei familiäre oder kulturelle Beziehungen hat. In Russland gefangene ungarisch-stämmige Soldaten der Selenskij-Armee haben Repressionen daheim zu befürchten. Also beschlossen die russisch-orthodoxe Kirche und der ungarische Malteserorden Anfang Juni 2023, elf gefangene Soldaten der ungarischen Minderheit in der Ukraine unter Umgehung ukrainischer Behörden direkt nach Budapest zu überstellen.[7] Kiew schäumte … und beließ die größte ungarische Bank auf der „Kriegssponsorenliste“.

Zeitgleich nahm Brüssels Druck auf die ungarische Regierung zu und Budapest stimmte am 23. Juni für das 11. Paket im Wirtschaftskrieg. Dafür erhielt Budapest die Ausnahmegenehmigung, die U-Bahn-Linie M-3, die in den 1970er-Jahren erbaut worden war, nun vom russischen Unternehmen „Metrowagonmash“, das technisch einzig dazu in der Lage ist, reparieren zu lassen.[8] Die Benutzer der Budapester Metro werden es zu schätzen wissen. Im großen geopolitischen Ringen musste die ungarische Seite nachgeben.

Von Hannes Hofbauer erschien zuletzt (als Co-Herausgeber zusammen mit Stefan Kraft) der Band „Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“.

Titelbild: shutterstock / Alexandros Michailidis


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