Mehr als ein „Abhörskandal“

Mehr als ein „Abhörskandal“

Mehr als ein „Abhörskandal“

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Verteidigungsminister Pistorius hat einen schrägen Humor. Gestern schaffte er es doch tatsächlich, gleichzeitig die Authentizität des abgehörten und geleakten Gesprächs von vier hochrangigen Luftwaffenoffizieren zu möglichen Taurus-Lieferungen zu bestätigen und den Russen, die das Gespräch veröffentlicht – und wohl auch gehackt und aufgezeichnet – haben, „Desinformation“ zu unterstellen. Den großen deutschen Medien fiel dieser Widerspruch jedoch noch nicht einmal auf. Wie denn auch, sind sie doch voll und ganz damit beschäftigt, getreu dem Motto „Haltet den Dieb“ aus dem Abhören des Gesprächs einen Skandal zu machen und damit von den Inhalten abzulenken. Das ist zumindest erstaunlich, haben es die Inhalte doch in sich und sind der eigentliche Skandal. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Mitte letzter Woche gab es noch Ärger zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien, da Bundeskanzler Scholz angeblich „geheime Informationen verraten“ hatte. Es ging um den Einsatz von Marschflugkörpern, den Scholz ablehnt. Der Kanzler will Deutschland nicht zu einer direkten Kriegspartei machen. „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden“, so Scholz wörtlich. Franzosen und Briten widersprachen Scholz, das britische Verteidigungsministerium warf ihm gar vor, Falschinformationen zu verbreiten. Wenn die Inhalte des abgehörten Gesprächs der vier deutschen Luftwaffenoffiziere korrekt sind, lügen jedoch die Briten.

Im Gespräch, in dem es um die möglicherweise später einmal nötige Vorbereitung und Durchführung der Taurus-Lieferungen in die Ukraine geht, sagt Lufwaffengeneral Ingo Gerhartz zu diesem Thema Folgendes:

„Also wenn’s zum Beispiel darum geht, die Missionsplanung zu machen, ich weiß wie es die Engländer machen, die machen es ja komplett im Reach-Back. Die haben auch paar Leute vor Ort, ähm, das machen sie, die Franzosen nicht. Also, sie „qc-en“ auch die Ukrainer beim Beladen des SCALP, ne, weil Storm Shadow und SCALPS sind rein vom technischen Aspekt relativ ähnlich. Da haben sie mir schon gesagt, ja, Herrgott, die würden auch den Ukrainern beim Taurus-Loading über die Schulter gucken. Ähm, die Frage wär‘ aber, wie lösen wir das dann? Mhm, lassen wir die die Missionsplanung machen und geben ihnen Reach-Back-mäßig die MBDA an die Hand und bringen dann halt einen unserer Leute zur MBDA?

Als Reach-Back-Verfahren wird in der militärischen Fachsprache die Einsatzoperation aus dem Heimatland bezeichnet. Bei Marschflugkörpern heißt das, dass die gesamte Programmierung der Einsatz- und Zieldaten nicht vor Ort in der Ukraine, sondern in diesem Falle von den Briten in Großbritannien vorgenommen wird. Zusätzlich unterstützen die Briten – so General Gerhartz – die Ukraine auch noch vor Ort. Das ist eine direkte Kriegsbeteiligung Großbritanniens. Wenn die Aussage Gerhartz korrekt ist, wurden die zahlreichen Einsätze der Storm Shadow Marschflugkörper – u.a. auf die russische Schwarzmeerflotte, Industrieanlagen in Luhansk, den Hafen von Sewastopol und eine Eisenbahnbrücke auf der Krim – von britischem Boden aus geplant.

Ingo Gerhartz ist nicht irgendwer. Der SPIEGEL nannte Gerhartz im letzten Jahr „den deutschen Top-Gun-General“. Gerhartz, der seit 2018 Inspekteur, also Chef, der Luftwaffe ist, gelte als Hoffnungsträger der deutschen Streitkräfte – ein moderner Krieger, der die immer wieder als rückständig bezeichnete Bundeswehr kriegstüchtig machen könne. Zumindest seine Kenntnisse in Sachen Kommunikationssicherheit scheinen jedoch dieses Image Lügen zu strafen. Doch darum soll es hier nicht gehen. Wenn Gerhartz in einem von deutscher Seite als authentisch bezeichneten Mitschnitt ausplaudert, dass die Briten aktiv im ukrainischen Krieg gegen Russland mitmischen, dann sollte das doch der eigentliche Skandal sein. Wer das Gespräch mitgeschnitten hat, erscheint da eher zweitrangig.

Doch es geht ja nicht nur um die Briten. Im Gespräch spekulieren die vier Luftwaffenoffiziere offen, wie denn die Luftwaffe im Falle eines politischen Entschlusses, der Ukraine Taurus-Flugkörper zur Verfügung zu stellen, dies praktisch begleiten und umsetzen könnte. Dazu muss man wissen, dass ein High-Tech-System wie Taurus vollkommen nutzlos ist, wenn man keine genaue Zieldaten hat. Folgt man den vier Luftwaffenoffizieren, gibt es verschiedene Optionen, dieses Problem zu lösen. Angedacht werden eine direkte Datenlieferung durch die Luftwaffe aus Büchel und eine indirekte Datenlieferung durch den Hersteller der Taurus-Raketen in Schrobenhausen durch dort eingeschleuste Luftwaffen-Experten. Dazu führt der am Gespräch beteiligte Oberstleutnant Udo Fenske vom Zentrum Luftoperationen Folgendes aus:

„Die Frage wird sein, wo kommen die Daten her. Jetzt gehe ich einen Schritt zurück. Wenn es um die Zieldaten geht, die idealerweise mit Satellitenbildern kommen, weil dadurch gibt es dann die höchste Präzision, dass wir also unterhalb von drei Metern Genauigkeit haben. Die müssen wir verarbeiten im ersten Set in Büchel. Unabhängig davon würde man aber in irgendeiner Art und Weise, denke ich, mit einem Datentransfer zwischen Büchel und Schrobenhausen was hinbekommen. Oder, was natürlich auch geht, dass man unter Umständen das Datenfile nach Polen schickt und man hat den Handover, Takeover in Polen irgendwo, und es fährt jemand mit dem Auto hin. Und ich denke, da muss man im Detail reingucken, und da wird es auch Lösungsmöglichkeiten geben.“

Diese Gedankenspiele werden jedoch im Lauf des Gesprächs von Brigadegeneral Frank Gräfe unter Verweis auf die roten Linien der Politik verworfen. Stattdessen sieht Gräfe es – neben einer Ausbildung der Ukrainer – als Option, die Briten mit ins Boot zu holen und ihnen die direkte Planung zu überlassen, mit der die rote Linie der Kriegsbeteiligung überschritten würde:

„Jetzt nochmal, was wir als rote Linie als Grundlage voraussetzen. Ich komme einfach nochmal darauf zurück, was ich ganz am Anfang meinte: Entweder wir müssen die Ausbildung aufteilen, dass wir sagen, wir machen einen Fast Track und einen Long Track. Und der Long Track – dann sind die da halt für vier Monate und lernen es komplett richtig, mit „Wie mach‘ ich’s mit ’ner Brücke“. Und in den Fast Track geht es erst mal um den schnellen Einsatz, nach zwei Wochen, wie weiß ich, was ich mit einem Munitions-Depot mache. Oder die andere Option: Wir fragen, ob in dieser Phase, bis die selber komplett ausgebildet sind, fragen wir die Briten, ob sie in dieser Phase übernehmen. Aber ich glaube, ein irgendwie gearteter Versuch einer Zwischenlösung – stell dir mal vor, das kommt an die Presse! Wir haben unsere Leute in Schrobenhausen oder wir fahren irgendwie mit dem Auto durch Polen – sind, glaube ich, beides keine akzeptablen Lösungen.

Luftwaffeninspekteur Gerhartz sieht dieses Problem auch. Ihm fällt dazu ein weiterer Helfer ein – die Amerikaner, „Leute mit amerikanischem Akzent in Zivilklamotten“:

„Und glauben Sie denn… Ja, man muss ja immer davon ausgehen, was die Ukrainer dann mittlerweile sonst alles machen. Wir wissen ja auch, dass da viele Leute mit amerikanischem Akzent in Zivilklamotten rumlaufen. Das darf man sagen, dazu sind sie dann noch relativ schnell selbst in der Lage, weil die Satellitenaufnahmen, die haben sie alle. Da muss man auch davon ausgehen.“

Deutschland solle demnach die Ukrainer in zwei Geschwindigkeiten („Short Track“, um russische Munitionsdepots auf russischem Boden, und „Long Track“, um komplexe Ziele wie die Krimbrücke bei Kertsch zu zerstören) ausbilden und die Amerikaner würden dann die Zieldaten zur Verfügung stellen. Auch das ist eine – wenn auch indirekte – Kriegsbeteiligung. Doch davon ist in unseren Medien nichts zu lesen.

Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.

Titelbild: Ingo Gerhartz – von Amit Agronov / IDF Spokesperson’s Unit, CC BY-SA 3.0

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