Eine neue EU-Worthülse zum Ukraine-Krieg: „So lange wie nötig und so intensiv wie nötig”

Eine neue EU-Worthülse zum Ukraine-Krieg: „So lange wie nötig und so intensiv wie nötig”

Eine neue EU-Worthülse zum Ukraine-Krieg: „So lange wie nötig und so intensiv wie nötig”

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Im Entwurf der Abschlusserklärung des EU-Gipfeltreffens wird das bisherige Prinzip der Ukraine-Unterstützung „As long as it takes“ um die fünf Wörter „and as intensely as needed“ erweitert. Dabei wird es, wie bisher auch schon, sorgfältig vermieden zu definieren, was diese Formulierung eigentlich bedeutet und wer entscheidet, ob das darin nicht formulierte Ziel erreicht ist. Zu einer bislang nicht konkretisierten zeitlichen Dimension kommt jetzt offensichtlich eine – allerdings ebenfalls nicht präzisierte – qualitative hinzu. So bleibt es unterm Strich allen Beteiligten überlassen, was darunter zu verstehen ist. Nachfolgend werden beispielhaft einige Möglichkeiten aufgezeigt, was mit dieser neuen Worthülse gemeint sein könnte. Von Jürgen Hübschen.

Verschiedene Optionen, was die neue Worthülse bedeuten könnte

Über die Bedeutung der neuen Worthülse kann man nur spekulieren, wobei noch hinzukommt, dass die 27 EU-Staaten sicherlich nicht dasselbe darunter verstehen.

Option 1: Bis die Ukraine den Krieg gewonnen hat

Diese Möglichkeit kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, weil die Ukraine dafür nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und auch zunehmend immer weniger Soldaten hat. Die aktuellen Defizite an Artillerie und gepanzerten Kräften werden sich auf absehbare Zeit nicht beheben lassen. Hinzu kommt ein eklatanter Mangel an Munition, vor allem für Panzer, Artillerie, Flugabwehrwaffen und bodengestützte Flugabwehrraketensysteme. Diesen materiellen Mangel kann „der Westen“ nicht ausgleichen, selbst dann nicht, wenn er die Unterstützung noch mehr auf Kosten der eigenen Verteidigungsfähigkeit intensivieren sollte. Die Ukraine selbst könnte die Defizite theoretisch verringern, wenn das Land auf Kriegswirtschaft umstellen würde, was bislang – im Gegensatz zu Russland – noch immer nicht geschehen ist.

Ein noch kritischeres Manko ist der zunehmende Mangel an Soldaten, vor allen Dingen solchen, die kampferprobt sind. Aktuell werden immer mehr Soldaten an die Front geschickt, die eine dafür nicht annähernd ausreichende Ausbildung erhalten haben und zum Teil auch wegen ihres Alters den Anforderungen eines Krieges nicht gewachsen sind. Kiew hat bislang auf eine Generalmobilmachung verzichtet und diskutiert aktuell lediglich darüber, das Mindestalter für eine Einberufung von 28 auf 25 Jahre zu senken. Außerdem werden Modelle diskutiert, die eine Einberufung von der finanziellen Situation der Betroffenen abhängig zu machen, wobei Männer mit geringerem Einkommen eher eingezogen werden sollen als ihre finanzstärkeren Jahrgangskameraden. Kiew will nach eigener Aussage nicht versuchen, die ins Ausland geflohenen Männer im wehrfähigen Alter zur Rückkehr zu zwingen. Allein in Deutschland wären das ca. 200.000 Männer.

Da die NATO – bis auf einige Mitgliedsländer – den Einsatz eigener Truppen (bislang?) ausschließt, erscheint eine Behebung des personellen Defizits in den ukrainischen Streitkräften ausgeschlossen.

Option 2: Bis die Ukraine eine militärische Lage geschaffen hat, die eine Verhandlung mit Russland auf Augenhöhe ermöglicht

Auch diese Möglichkeit muss als „wishful thinking“ (Wunschdenken) bezeichnet werden, weil aktuell das genaue Gegenteil der Fall ist. Das Gesetz des militärischen Handelns liegt eindeutig auf der russischen Seite, und eine Änderung zu Gunsten der Ukraine ist überhaupt nicht in Sicht. Neben den bereits dargestellten Ursachen kommt hinzu, dass Russland nicht nur über eine Luftüberlegenheit verfügt, sondern die Luftherrschaft innehat. Das schließt erfolgreiche ukrainische Offensiven, abgesehen von lokal sehr begrenzten Vorstößen, völlig aus. In dem an vielen Fronabschnitten herrschenden Stellungskrieg reiben sich die ukrainischen Streitkräfte personell auf, weil die Verluste im Kampf gegen einen Gegner, der sich professionell in mehreren Verteidigungslinien eingegraben hat, enorm hoch sind. Dieses Desaster verschlimmert die personelle Lage der ukrainischen Streitkräfte von Tag zu Tag. Weil Präsident Selenskyj nicht einsehen will, dass massiv zusätzliche Männer eingezogen werden müssten, um die Situation an der Front zu verbessern, hat er General Saluschnyj, den ehemaligen militärischen Befehlshaber der Streitkräfte, entlassen. Damit dieser nicht im Hintergrund weiter aktiv bleiben kann, wird er der neue ukrainische Botschafter in London.

Option 3: Bis Russland den Krieg verloren hat

Diese geradezu absurde Option ist ausgeschlossen, weil – wie bereits dargestellt – die Ukraine den Krieg militärisch nicht gewinnen kann, um nicht zu sagen militärisch bereits verloren hat.

Option 4: Bis Russland seine Truppen aus der Ukraine abgezogen hat

Diese Option vertritt Präsident Selenskyj und bezeichnet sie als nicht zu diskutierende Voraussetzung für Friedensverhandlungen. Außer ihm hält allerdings niemand diese Möglichkeit für realistisch, weil Moskau dazu gegenwärtig überhaupt keine Veranlassung hat.

Option 5: Bis Moskau Verhandlungen ohne Vorabkonditionen anbietet

Wer an diese Möglichkeit glaubt, gibt sich immer noch der Illusion hin, dass sich Russland durch die militärische Lage an der Front und die umfangreichen wirtschaftlichen Sanktionen „des Westens“ veranlasst sehen oder sogar gezwungen werden könnte, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Das wird nicht passieren, weil Russland militärisch am längeren Hebel sitzt und durchaus die Chance hat, den Frontverlauf in seinem Sinne noch weiter zu verbessern. Außerdem muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Sanktionen offensichtlich nicht die erhoffte Wirkung gezeigt haben und auf absehbare Zeit wohl auch nicht haben werden. Politisch orientiert sich Russland zunehmend in Richtung China und hat neben dem Iran auch immer mehr Verbündete in Afrika und Asien gefunden.

Die Wiederwahl von Präsident Putin könnte lediglich dazu führen, dass Moskau Verhandlungen zu seinen Konditionen anbietet.

Option 6: Bis Präsident Selenskyj Verhandlungen auf der Basis der in Istanbul im März/April 2022 paraphierten Verhandlungsergebnisse anbietet

Grundsätzlich hat Präsident Selenskyj im Oktober 2022 in einem Dekret Verhandlungen mit Russland expressis verbis verboten. Wenn er aber zu der Einsicht kommen sollte, dass eine Fortführung des Krieges die Ukraine letztlich zerstören würde, wäre das eine Möglichkeit, zumal Teile der ukrainischen Bevölkerung eine Fortsetzung des Krieges nicht mehr rückhaltlos unterstützen.

Zu viele Männer sind mittlerweile gefallen oder durch schwere Verwundungen lebenslang gezeichnet. Soldaten an der Front sind zum Teil seit Beginn des Krieges ohne Unterbrechungen im Einsatz. Die Zerstörung von Teilen des Landes wird immer deutlicher. Viele Menschen sind innerhalb der Ukraine aus dem Kampfgebiet geflohen, Millionen Frauen und Kinder haben das Land verlassen. Die Wirtschaft liegt am Boden, und die öffentliche Verwaltung wird weitgehend vom „Westen“ finanziert. Präsident Selenskyj war kürzlich zu Gesprächen mit Präsident Erdogan in der Türkei. Vielleicht war die Wiederaufnahme von Verhandlungen dabei ein Thema. Es wäre zu wünschen.

Option 7: Bis die USA aus innenpolitischen Gründen die Unterstützung der Ukraine einstellen

Diese Möglichkeit besteht durchaus, wenn man sich die Entwicklung der letzten Monate anschaut. Auch die Aussagen von US-Verteidigungsminister Austin III auf der 20. Ukraine-Unterstützungskonferenz in Ramstein waren mehr geprägt von Durchhalteparolen als von umfassenden weiteren militärischen Unterstützungsleistungen der USA für die Ukraine. Aktuell ist es mehr als zweifelhaft, dass das von Präsident Biden geforderte zusätzliche Unterstützungspaket für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden Dollar genehmigt wird, weil sich der Sprecher des Repräsentantenhauses, der Republikaner Mike Johnson, bislang sogar weigert, diese Maßnahme überhaupt zur Abstimmung freizugeben.

Hinzu kommt, dass der Nahostkrieg und die Unterstützung Israels zunehmend die innenpolitische Agenda bestimmen.

Ein Ausstieg der USA aus dem Ukraine-Krieg würde vermutlich eine europäische Kettenreaktion zur Folge haben.

Option 8: Bis innerhalb der EU der eine oder andere Staat für die weitere Unterstützung der Ukraine keine Mehrheiten mehr hat

Die aktuelle Geschlossenheit der 27 EU-Staaten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es innerhalb der Union durchaus erhebliche Meinungsverschiedenheiten gibt. Diese werden vermutlich deutlicher werden, wenn es nationale Wahlen gibt, in denen die Frage einer weiteren Ukraine-Unterstützung entscheidend werden könnte.

Nicht alle Mitgliedsstaaten sind der Meinung, dass in der Ukraine auch ihre eigene Freiheit verteidigt wird.

Zusammenfassende Bewertung

Es ist seitens der EU unseriös, eine neue „Worthülse“ zu erfinden, ohne konkret zu sagen, was man darunter versteht. Präsident Putin hat mit seiner Entscheidung, die Ukraine anzugreifen einen politischen Fehler gemacht, weil er geglaubt hat, die russischen Truppen wären in der Ukraine willkommen und der Krieg eine Angelegenheit von maximal wenigen Wochen, bis in Kiew eine neue, russlandfreundliche Regierung eingesetzt worden wäre. Diese falsche Lagebeurteilung hat er erkannt und im Herbst 2022 seine Truppen von Offensive erfolgreich auf Defensive und die Verteidigung der eroberten Gebiete umschalten lassen. Die Lagebeurteilung „des Westens“ war ebenfalls falsch. Man hatte geglaubt, dass die über Jahre vom „Westen“ ausgebildete ukrainische Armee aufgrund ihres Kampfwillens und ihrer Opferbereitschaft in der Lage gewesen wäre, Russland mit Hilfe einer massiven militärischen Unterstützung „des Westens“ auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Mittlerweile hat man zwar erkannt, dass man sich fundamental geirrt hat, aber im Gegensatz zum russischen Präsidenten will man sich das nicht eingestehen und lässt es jetzt zu, dass sich die Ukraine in diesem Krieg immer mehr selbst zerstört und neben dem Leiden der Zivilbevölkerung eine ganze Generation junger Männer geopfert wird.

Das ist unredlich, und vor allem ist die immer wieder gehörte Behauptung, dass die Ukraine auch die Freiheit „des Westens“ verteidigt, verwerflich. Wenn das nämlich so wäre – ich persönlich bestreite das –, müsste zum Beispiel Deutschland die ukrainische Armee mit unseren eigenen Soldaten im Kampf unterstützen, weil nach unserem Grundgesetz die Bundeswehr für die Verteidigung der Bundesrepublik zuständig ist.

Fazit:

Statt eine neue Worthülse ohne Inhalt zu erfinden, wäre es an der Zeit gewesen, endlich einen gemeinsamen Vorschlag zu machen, wie ein Waffenstillstand erreicht werden kann und Verhandlungen initiiert werden könnten, mit dem Ziel, einen stabilen Frieden zu erreichen. Basis dafür könnten die auf Veranlassung des ehemaligen britischen Premierministers Boris Johnson in Abstimmung mit den USA abgebrochenen Istanbuler Verhandlungen sein.

Ob mit Russland verhandelt wird, darf nicht allein in der Entscheidung von Präsident Selenskyj liegen, weil dieser ja ohne die Unterstützung „des Westens“ hätte militärisch längst kapitulieren und finanziell den Offenbarungseid leisten müssen.

Titelbild: Shutterstock / Alexandros Michailidis