Salman Abu Sitta – „Ein böser Terrorist“?

Salman Abu Sitta – „Ein böser Terrorist“?

Salman Abu Sitta – „Ein böser Terrorist“?

Ein Artikel von Helga Baumgarten

Die Berliner Polizei und die Berliner Presse haben Dr. Salman Abu Sitta zum absoluten Bösewicht abgestempelt. Seit dem abgebrochenen Palästina-Kongress vom 12. April kann man seinen Namen kaum mehr nennen. Damit ist er zum Terroristen No. 1 geworden, mehr noch als sein Neffe, Dr. Ghassan Abu Sitta, dem am Berliner Flughafen die Einreise verweigert wurde (dazu auf den Nachdenkseiten Karin Leukefeld und Annette Groth) und mehr noch als Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanz-Minister. Alle drei haben seitdem ein „Betätigungsverbot“ in Deutschland. Sie dürfen nicht nach Deutschland einreisen, z.B. um dort an Konferenzen teilzunehmen, nicht mal live über Zoom oder über ein zugeschicktes Video. Von Helga Baumgarten.

Das von Dr. Salman Abu Sitta an die Veranstalter geschickte Video spielte gerade wenige Minuten, als die Polizei einschritt, das Video stoppte, den Strom abstellte und schließlich den ganzen Kongress verbot.

Wer ist dieser „berühmt-berüchtigte“ Salman Abu Sitta?

Im Januar 2022 hat er an der American University of Beirut (AUB) ein neues Zentrum eröffnen können, das „Palestine Land Studies Center“ (PLSC). In diesem Zentrum sind alle dokumentarischen Materialien – regelrechte Schätze für jeden Historiker! – zu finden und zu benutzen, die Salman seit Anfang der Sechzigerjahre zusammengetragen hat. Dazu gehören unter anderem

  • Atlanten von Palästina, einmal 1917-1966 (2004), dann von 1871-1877 (2020)

    Beide basieren auf Kartenmaterial, das Abu Sitta weltweit aufgestöbert und akribisch gesammelt hat.

  • 2.000 Karten von Palästina in den letzten 200 Jahren mit 55.000 Ortsnamen des Volkes, das angeblich gar nicht in Palästina lebt bzw. gelebt hat.
  • 5.000 Luftaufnahmen, von der kolonialen „Mandatsmacht“ Großbritannien kurz vor ihrem Abzug aus Palästina 1948 angefertigt
  • 300 Luftaufnahmen der deutschen Luftwaffe aus dem ersten Weltkrieg
  • 500.000 UN-Dokumente zum palästinensischen Landbesitz in Palästina – im Jahr 1948, als Israel gegründet wurde: 94 Prozent des gesamten Landes.
  • Dokumente des Internationalen Roten Kreuzes zu Palästina/Israel 1948 – 1950.
  • Archive der Quäker zu Palästina zu den Jahren 1948-1950. Die Quäker waren übrigens die Ersten, die in Gaza Flüchtlingslager gebaut haben.
  • Karten und Details aller israelischen Massaker von 1948 mit relevanten zeitgenössischen israelischen Berichten und Erinnerungen (mit der Hilfe israelischer Linker, z.B. Uri Davis, Tikva Parnass und andere mehr zusammengetragen und übersetzt).

Es würde den Rahmen dieses kleinen Beitrags sprengen, wenn ich jedes einzelne Detail dieser unschätzbar wertvollen Dokumente, die jetzt an der AUB, der American University of Beirut, zu finden sind, aufzählen würde.[1]

Warum hat Salman Abu Sitta all dies über Jahrzehnte hin gesammelt?

Der Grund liegt im Jahr 1948, dem Jahr der Nakba (der historischen Katastrophe für die Palästinenser), als die zionistischen bewaffneten Verbände und ab Mai die israelische Armee fast eine dreiviertel Million Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben. Abu Sitta erlebte als zehnjähriger Junge diese Katastrophe von 1948 am eigenen Leib. Er schreibt darüber in seinem Buch „Mapping My Return. A Palestinian Memoir“ [2].

Die Familie wurde auf ihrem Land, „Ma’in Abu Sitta“, süd-östlich vom Gazastreifen von der Haganah angegriffen, die mit 24 Jeeps und Panzern angerückt war. Alles wurde ausnahmslos zerstört und verbrannt, angefangen von der Schule, die der Vater 1920 hatte bauen lassen, bis hin zum Wohnhaus. Alles Verwertbare, von Motoren über Ausrüstung der Mühle bis hin zu Wasserpumpen aus dem Brunnen, wurde gestohlen. Wer der Haganah in den Weg kam, wurde, wie Salman schreibt, erschossen.

„Am Tag, als Ben Gurion den Staat (Israel) ausrief, wurde ich zum Flüchtling. Wir wurden in das Gefängnis mit dem Namen Gazastreifen vertrieben, 4 km entfernt von unserem Zuhause.“

Salman Abu Sittas Familie stammt also aus dem beduinischen Süden. Sein Vater, Scheich Hussein Abu Sitta, hatten dort eine wichtige Führungsposition. Er war offen für Entwicklung und Modernisierung und baute, wie schon erwähnt, 1920 in Eigeninitiative die erste Schule in der Region. Selbst die Lehrer bezahlte er anfangs aus der eigenen Tasche.

Einen Eindruck vom sozioökonomischen Standard der Abu Sitta Familie vermittelt die Beschreibung eines israelischen Offiziers 1948, die Uri Davis 2008 in einem Artikel wiedergegeben hat:

„Wir betraten das Haus der Abu Sittas und waren bass erstaunt: in der Mitte der Wüste[3] unglaublicher Reichtum: luxuriöse Möbel, orientalische und europäische Kleidung, ein Radio, ein Lastwagen, ein wunderschönes Beduinenschwert aus Silber, ein großes und wichtiges Archiv von Photographien und Dokumenten, Briefe zum Beispiel von Emir Abdallah aus Transjordanien und Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbrüder in Ägypten, ein Rechtsanwalt-Zertifikat, das einem Familienangehörigen gehörte, Shakespeares Othello in Englisch direkt neben einem Qur’an.“

Salman Abu Sitta und seine Familie wurden aus diesem „Paradies“ vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht wie fast alle Palästinenser im Süden des heutigen Israel.

An ihre Stelle traten israelische Siedler, die das Land der Vertriebenen in kolonialistischer Manier unter Kontrolle nahmen, nicht anders als die weißen Siedler in den USA oder in Australien. Die improvisierten vorgefertigten Hütten von 1948 entwickelten sich zu Kibbutzim, deren Namen seit dem 7. Oktober weltweit bekannt wurden.

Nirim entstand auf dem Land der Abu Sitta Familie. Das Elternhaus Salman Abu Sittas, in dem er geboren wurde, ist wenige Meter entfernt. Der etwas weiter nördlich liegende Kibbutz Ein Hashlosha wurde ebenfalls auf Abu Sitta Land gebaut. Dort befanden sich 1948 riesige Getreidefelder, auf denen Weizen und Hafer angebaut wurde.

Dazu Abu Sitta: „Heute, wenn Sie die Namen dieser Kibbutzim hören, sollten Sie sich erinnern, auf wessen Land sie gebaut wurden. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass die Eigentümer dieses Landes Ihr Recht auf Rückkehr nie aufgegeben haben.“[4]

Salmans Familie schickte ihn aus der Vertreibung in Gaza nach Kairo, damit er dort eine gute Schulausbildung bekommen konnte. Ein Ingenieursstudium schloss sich an. Nach ersten Berufserfahrungen in Kuwait nahm er sein Promotionsstudium zum Doktor der Ingenieurswissenschaften in London auf.

Seitdem, also seit Anfang der Sechzigerjahre, begann Salman, alles zusammenzutragen, was er über Palästina 1948 finden konnte. Er legte den Schwerpunkt auf Kartenmaterial, auf Luftbilder, auf Fotografien. Sein Ziel war es, für die Zukunft festzuhalten, wie Palästina 1948 und davor ausgesehen hatte: wo es Dörfer und Städte gegeben hatte, was wo angebaut wurde, wer wo wohnte etc.

Des Weiteren wollte und konnte er damit den zionistischen Mythos vom „Land ohne Volk“ und von der Wüste, die die Zionisten zum Blühen brachten[5], empirisch-wissenschaftlich und mit überzeugendem Bildmaterial widerlegen.

Schließlich, und das sollte seine Arbeit in den letzten Jahren bestimmen, widmete er sich der Planung für die Rückkehr der Palästinenser in die Heimat, aus der sie 1948 vertrieben worden waren.

Abu Sitta in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler, als Ingenieur und als Planer betrachtet diese Aufgabe als sein Lebenswerk.

An dieser Stelle muss ich zurück zum Anfang meines Beitrages kommen und zu dem Zitat, das ihn in den Augen der Berliner Polizei und Politik zum Terroristen und Antisemiten macht.

„Ja, ich hätte einer derjenigen sein können, die durch den Zaun brachen, wenn ich noch jünger wäre und immer noch im Konzentrationslager Gazastreifen leben müsste”.

Und er erläutert, was er meint mit „Konzentrationslager Gazastreifen“:

„Es blieb nicht dabei, dass sie 1948 vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht wurden. Sie wurden immer wieder in ihren Lagern im Exil angegriffen: 1953, 1956, 1967, 1971 und 1987, seit 2006 schließlich und bis heute mit grausamer Regelmäßigkeit.“

In meinem letzten Buch (2021) nenne ich dies den „langen Krieg gegen Gaza“.

Eben damit aber schlägt Salman Abu Sitta eine Brücke zwischen 1948 und 2023 bis heute, eine zeitliche Verbindung, die den Mächtigen in Berlin offensichtlich völlig entgangen ist.

Er macht deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Vertriebenen von 1948 genau aus der Gegend und aus den Ortschaften kommen, die seit dem 7. Oktober bekannt wurden wegen der Angriffe aus Gaza durch Hamas, den Islamischen Jihad und durch eine unbekannte Zahl von einfachen Menschen aus dem Gazastreifen.

Nach dem Verweis auf 1948 und die seitdem kontinuierlichen Angriffe gegen Gaza konzentriert sich Abu Sitta auf die Periode seit dem 7. Oktober 2023.

Wie er argumentiert, „… wurde – bis dato in der Kolonialgeschichte unbekannt – aus der … ethnischen Säuberung 2023 ein unfassbarer Völkermord. Das Ausmaß an Brutalität, die unzähligen Frauen und Kinder, die getötet wurden, die riesigen Flächen der Zerstörung, die Anzahl der Bomben, die auf den vergleichsweise winzigen Gazastreifen abgeworfen wurde in weniger als drei Monaten übertrifft alles, was wir aus den zwei Weltkriegen kennen.“

Abu Sitta betont, dass alle schmutzigen Diffamierungen[6] sich als falsch erwiesen … Und er meint, dass in Gaza bekannt ist, dass die jungen Leute, die die Absperrungen um Gaza durchbrachen, einem „klaren moralischen Code folgen“.

Er schließt seinen Beitrag mit dem Satz: „Die Geschichte wird uns zeigen, wer sein Heimatland heroisch verteidigt und wer so viele grausam-schändliche Verbrechen begangen hat. Die Erinnerung wird die Geschichte beider Völker bestimmen.“

In der Berliner Lesart von Salman Abu Sitta und seinem eben ausführlich zitierten Artikel ist er ein Terrorist, der Gewalt und Verbrechen unterstützt und glorifiziert. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein.

In seiner Rede zur Einweihung des „Palestine Land Studies Center“ (PLSC) an der American University of Beirut (AUB 2022) kommt er zu diesem Schluss:

„Abschließend möchte ich mich an die jungen Menschen wenden, die zukünftigen Studenten am PLSC. Ihr braucht keine Uniform anzuziehen oder ein Gewehr zu tragen, um Eure Identität zu behaupten und Eure verlorene Heimat wiederzugewinnen. Alles, was Ihr braucht, sind Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit und Entschlossenheit.“

Die Rückkehr der Vertriebenen, so Salman, ist möglich ohne Gewalt und ohne weitere Vertreibungen. Er zeigt dies deutlich in seinem Buch „Mapping My Return“.

In der Überzeugung, dass der Wille von Millionen noch so hilfloser Menschen immer die Oberhand gewinnt über eine politisch-militärische Macht, egal wie groß ihre Macht ist, hat Salman mit seinen Partnern weltweit damit begonnen, den Wiederaufbau der zerstörten palästinensischen Dörfer zu planen. Sie machen das mithilfe einer „massiven Datenbasis“. Diese ermöglicht es, das Haus eines jeden einzelnen Flüchtlings in seinem jeweiligen Heimatdorf aufzunehmen, das Land, das dazu gehörte, sein Eigentum und das der Großfamilie (hamula) …

Die meist jungen Planer stellen für jedes Dorf einen File zusammen mit den Plänen der Häuser, wie sie vor 1948 aussahen … Junge Architekten arbeiten an der Rekonstruktion dieser zerstörten Dörfer mit dem Ziel, dass sie ebendort wiederaufgebaut werden, mit der Schönheit der alten Fassaden, aber in moderner Ausgestaltung.

Diese Arbeit entspricht übrigens und ist vergleichbar mit der Arbeit von „Zochrot“ in Israel heute sowie der Arbeit des ehemaligen Leiters und Gründers von Zochrot, Eitan Bronstein, jetzt von „De-Colonizer“. Auch ein faszinierender Artikel zum 1948 zerstörten Dorf Miska, als Kooperation zwischen einem Team aus New York, jungen Palästinensern und jüdischen Israelis und Zochrot ist hier zu erwähnen.[7]

Salmans Geburtsort al-Ma’in ist ebenso ein Zentrum der Planer. Seine Nichte und eine Enkelin seines Bruders, beide Architektinnen und Planer, arbeiten daran … Im Zentrum soll die Schule liegen, die sein Vater 1920 gebaut hat.

Optimismus, Hoffnung, Liebe zum Leben bestimmen auch in der Hölle von Gaza das Leben vor allem junger Menschen. Der Teenager Abu Baker aus Gaza feiert in einem Interview auf Electronic Intifada vom 24. April die gelbe Rose, die er hochziehen durfte – und schlägt damit einen direkten Bogen zum Gedicht[8] von Mahmud Darwish „Wir aber lieben das Leben“:

„Wir aber lieben das Leben, wann immer wir es finden
Wir tanzen zwischen zwei Märtyrern,
errichten zwischen beiden ein Veilchenminarett
oder pflanzen Dattelpalmen.“

Titelbild: Salman Abu Sitta – als Sechsjähriger in der Mitte seiner Familie


[«1] Sie sind einsehbar auf der Webseite des Palestine Land Studies Center: www.plands.org

[«2] AUC Press, Kairo: 2016

[«3] Salman Abu Sitta zeigt in seinem Buch, dass dort keineswegs Wüste war, sondern eine bebaute und reiche landwirtschaftliche Region.

[«4] übrigens ein verbrieftes Recht laut der relevanten UN Beschlüsse: an wichtigster Stelle UN Resolution 194, Dezember 1949,

[«5] Auch Frau von der Leyen glaubt offensichtlich immer noch an diesen Unsinn. Der leider viel zu früh verstorbene Historiker Alexander Schölch verwies immer wieder auf eine schlichte Tatsache: die Orangen, die immer nach Europa exportiert werden heißen Jaffa-Orangen, nicht Tel Aviv-Orangen. Siehe Salmans offener Brief an Ursula von der Leyen.

[«6] Babys, deren Köpfe abgeschlagen wurden, regelrechte Vergewaltigungskampagnen etc.

[«7] Torre, Maria Elena et alii (and others). 2018. “Critical Participatory Action Research on State Violence: Bearing Witness Across Fault Lines of Power, Privilege and Dispossession”, in The SAGE Handbook of Qualitative Research, ed. By Norman K. Denzin and Yvonna S. Lincoln, 492-515. Los Angeles: Sage Publ.

[«8] Vertont in einem Lied des palästinensischen Liedermachers Mustafa al-Kurd

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