Seit nunmehr gut elf Monaten herrscht in Gaza ein Inferno, welches mit dem Wort Krieg zu harmlos beschrieben wird. Hier wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Völkermord verübt, den wir nach 1945 nicht mehr für möglich gehalten haben. Sie alle kennen die grauenerregenden Details, die uns täglich über Radio und Fernsehen geliefert werden, obwohl sie bei Weitem nicht die Realität abbilden, Teile verharmlosen oder verschweigen und nicht einmal das kritische Niveau der israelischen Presse erreichen. Von Norman Paech.
Die Anzahl der Opfer steigt täglich, selbst ausgewiesene Flucht- und Sicherheitszonen sind nicht vor gezielten Angriffen sicher. Wer nicht bei der immer wiederkehrenden und deprimierenden Aufzählung der Opfer stehen bleiben will, sollte nach den Gründen für die vollkommen aus den Normen geratene Kriegswut fragen. Der Hintergrund der Kriegsziele und ihrer Motive mag da einigen Aufschluss geben, der aber leider nur die Befürchtung nährt, dass auch dieses furchtbare Massaker noch länger dauern wird.
Betrachten wir also die Intention und Strategie der Hauptbeteiligten Israel, USA und Hamas.
1. Netanjahu spricht offen aus, was er will, und man sollte ihn wörtlich nehmen: die Vernichtung der Hamas, was immer es kostet.
Das ist die Vollstreckung des expansiven und aggressiven Zionismus, wie er bei Ben Gurion schon angelegt und von Wladimir Zeev Jabotinsky weiter in die jüdische Gesellschaft gepflanzt wurde. Ob Schamir, Scharon, Olmert oder Netanjahu, sie alle sind Exponenten dieses scharfen, auf Expansion, Landraub und Vertreibung zielenden Zionismus nach dem alten Schlachtruf von Ben Gurion. „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Was 1948/49 mit der Staatsgründung Israels für die palästinensische Bevölkerung zur Nakba – Katastrophe wurde, war nur der Auftakt einer Vision, die der Zionismus nie aus den Augen verloren hat. Wer drohte, sie zu vergessen oder zu verleugnen, wie Rabin, wurde ermordet. Die Radikalität dieser Ideologie scheute nie vor Krieg und militärischer Gewalt zurück, da ihr mit ihrer militärischen Überlegenheit der Sieg immer sicher war. Allerdings werden das Ausmaß und die Unbedingtheit dieser Radikalität erst jetzt in Gaza deutlich, wo die politische und militärische Führung die Schwelle zum Völkermord überschreitet. Auch der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson macht sich keine Illusionen über die historische Tiefe dieser Politik. In seinen Worten:
„Der Völkermord, den Sie heute erleben, ist also eine ausdrückliche Politik, und das war die Politik der Vorväter, der Gründer Israels. Die Idee eines Landes ohne Menschen war ein Land ohne Araber, ein Land ohne nicht-jüdische Menschen. Das war es, was es wirklich bedeutete. Sie sollten noch vor der offiziellen Gründung Israels, der ersten Nakba, dem arabischen Holocaust, vertrieben werden. Und die beiden israelischen Premierminister waren Mitglieder der Stern-Bande von Terroristen. Die Terroristen wurden zu den Herrschern Israels …“
In einem Weißbuch, das mehr als eine Woche nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde, präsentiert das „Institut für nationale Sicherheit und zionistische Strategie“ „einen Plan für die Umsiedlung und endgültige Eingliederung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens in Ägypten“, der auf der „einzigartigen und seltenen Gelegenheit zur Evakuierung des gesamten Gazastreifens“ basiert. Verfasser ist Amir Weitman, ein Investmentmanager und Gastforscher. Das Dokument beginnt mit der Feststellung, dass im benachbarten Ägypten zehn Millionen Wohnungen leer stehen, die „sofort“ mit Palästinensern besetzt werden könnten. „Der nachhaltige Plan stimmt gut mit den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Staates Israel, Ägyptens, der USA und Saudi-Arabiens überein.“ Weitmann schlägt zudem vor, dass Israel diese Grundstücke für fünf bis acht Milliarden Dollar kauft, die gerade einmal 1 bis 1,5 Prozent des israelischen BIP entsprechen.
Im Jahr 2004 legte der israelische Demograph Arnon Sofer von der Universität Haifa der Regierung von Ariel Scharon detaillierte Pläne für die Isolierung des Gazastreifens vor. Die Pläne umfassten den vollständigen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gebiet und den Aufbau eines strengen Überwachungs- und Sicherheitssystems, das gewährleistet, dass niemand und nichts ohne israelische Genehmigung ein- oder ausreisen kann. So geschah es dann auch, Scharon ließ 2005 die Armee abziehen und evakuierte die Siedler. 2006, nach dem Wahlsieg der Hamas, verhängte er eine totale Blockade über den Gazastreifen. Sofer prophezeite ein ständiges Blutbad:
„Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgeriegelten Gazastreifen leben, wird das eine menschliche Katastrophe sein. Diese Menschen werden zu noch größeren Tieren werden, als sie es heute sind … Der Druck an der Grenze wird furchtbar sein. Es wird ein schrecklicher Krieg werden. Wenn wir also am Leben bleiben wollen, werden wir töten, töten und töten müssen. Den ganzen Tag, jeden Tag … Das Einzige, was mich beunruhigt, ist die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass die Jungen und Männer, die das Töten übernehmen müssen, nach Hause zu ihren Familien zurückkehren und normale Menschen sein können.“
Prophetische Worte, die Israel keine 20 Jahre später in die Realität umsetzen sollte. Weitman, der diese Pläne natürlich kannte, vermutet, dass Westeuropa „den Transfer der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens nach Ägypten“ – eine vergleichbar humane Lösung – begrüßen wird, da dies „das Risiko der illegalen Wanderung erheblich verringern wird … ein enormer Vorteil“. Auch Riad werde die Umsiedlung begrüßen, da die Evakuierung des Gazastreifens die Beseitigung eines wichtigen Verbündeten des Iran bedeutet.
Unabhängig von den ideologischen Triebkräften spielt natürlich die Überlebenstrategie Netanjahus in diesem Krieg eine besondere Rolle. Sein Rückhalt in der israelischen Bevölkerung ist stark geschrumpft: die zahlreichen Korruptionsvorwürfe, sein Angriff auf die Justiz mit einem offen rassistischen Kabinett und die wachsenden Zweifel an seiner Kriegsführung ohne erkennbare Rücksicht auf die Geiseln in Gaza. Eine Verständigung mit der Hamas über ein schnelles Ende des Krieges würde auch für ihn das Ende seiner politischen Immunität und den Anfang eines peinlichen Prozesses bedeuten. Es gibt Stimmen, die vermuten, dass Netanjahu den Krieg bis zu den US-Wahlen hinziehen wird und in dem möglichen neuen Präsidenten Trump seinen Rettungsanker sieht – eine trügerische Hoffnung.
2. Schauen wir auf die USA. Sie sind für Netanjahu und Israel seit Jahrzehnten der stärkste Verbündete und Schutzschild, so wie Israel für die USA der wichtigste Pfeiler im Mittleren Osten ist.
Das liegt nicht nur an der jüdischen und evangelikalen Lobby in Washington, sondern vor allem an den nach wie vor in der Region liegenden reichen Ölvorkommen. Die strategische Position eines unbedingt loyalen und abhängigen Partners im arabischen Umfeld ist zudem besonders wichtig in der sich stetig aufbauenden Konfrontation zur Volksrepublik China. Die Dominanz im Nahen Osten ist einer der Fixpunkte US-amerikanischer Außenpolitik seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Noch einmal Michael Hudson in einem kürzlichen Interview zum Gaza-Krieg:
„Was Sie heute sehen, ist es also nicht nur das Werk eines einzelnen Mannes, von Benjamin Netanjahu. Es ist das Werk des Teams, das Präsident Biden zusammengestellt hat. Es ist das Team von Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater Blinken und dem ganzen tiefen Staat, der ganzen Neokongruppe hinter ihnen, Victoria Nuland und allen anderen. Sie alle sind selbst ernannte Zionisten. Und sie haben diesen Plan für die Beherrschung des Nahen Ostens durch Amerika Jahrzehnt für Jahrzehnt durchgespielt.“
Hudson meint sogar, dass die israelische Strategie der Besatzung und Kriegsführung auf den US-amerikanischen Praktiken und Erfahrungen im Vietnam-Krieg aufbaut. Ich will darauf hier nicht weiter eingehen. Ich stimme aber der Quintessenz seiner Analyse zu, dass die israelische Besatzungspolitik auf der gemeinsamen Strategie mit den USA beruht, den palästinensischen Faktor in der Region auszuschalten. Über die Methoden und Praktiken mag es, wie jetzt der Dissens über die Rafah-Offensive zwischen den Präsidenten Biden und Netanjahu zeigt, Meinungsverschiedenheiten geben – im gemeinsamen Ziel ihrer Politik sind sie sich aber einig. Auch dies sieht Michael Hudson nicht anders:
„Ich möchte klarstellen, dass dies nicht einfach ein israelischer Krieg gegen die Hamas ist. Es ist ein von den USA unterstützter israelischer Krieg. Jeder von ihnen hat seine eigenen Ziele. Israels Ziel ist es, ein Land ohne nicht-jüdische Bevölkerung zu haben. Und Amerikas Ziel ist es, dass Israel als lokaler Koordinator agiert, so wie es die Arbeit mit ISIS und den ISIS-Kommandeuren koordiniert hat, um sie gegen von den Vereinigten Staaten bereitgestellte Ziele zu wenden.“
Trotz aller öffentlichen Kritik an der gnadenlosen Kriegsführung der israelischen Armee – wenn es zur Abstimmung in der UNO kommt, kann Israel auf den Schutz der USA bauen. Die Stimmenthaltung der USA bei der Forderung nach einem Waffenstillstand im Sicherheitsrat sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA derzeit nicht gewillt sind, dieses Votum auch gegenüber der israelischen Regierung durchzusetzen. Sie wäre die einzige Regierung, die das könnte. Selbst schwere Kriegsverbrechen der israelischen Armee, die Biden jetzt rügt, veranlassen ihn nicht zu wirksamen Maßnahmen, diese zu unterbinden, zum Beispiel Stopp der Waffenlieferung oder Stopp der Finanzierung der Besatzung, so wie sie es unmittelbar nach den unbewiesenen Vorwürfen Israels gegen das UNRWA verfügt haben. Im Gegenteil, erst jüngst Mitte Mai hat Biden dem Kongress wieder einen Plan für Waffenlieferungen in Höhe von einer Milliarde Dollar vorgelegt. Das Verhandlungsangebot, das Biden vor ein paar Tagen vorgestellt hat, wird von Netanjahu boykottiert. Er ist von seinem alten Ziel, die Hamas zu vernichten, bisher nicht abgerückt.
3. Wer nach dem Hintergrund des Massakers vom 7. Oktober 2023 fragt, muss weit in die Geschichte des Palästinakonfliktes zurückschauen, noch vor die Gründung Israels und der Nakba 1948.
Dieser Konflikt war von Anfang an ein Siedlerkonflikt um Land und Ressourcen. Er war nie friedlich, die Siedler nie willkommen, die Beziehungen zwischen ihnen und der arabischen Bevölkerung immer von Gewalt geprägt. Zahlreiche anglo-amerikanische Kommissionen, die das Land vor 1948 bereisten, haben die Ablehnung der fremden Kolonisatoren immer wieder bezeugt. Das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn die jüdischen Siedler wollten nur das Land ohne das dort wohnende Volk. Betrachten wir die Geschichte Palästinas aus der Vogelperspektive, so ist es eine Geschichte permanenter Gewalt durch Landraub, Besatzung, Vertreibung und Diskriminierung. Alle Friedenskonferenzen mussten scheitern, weil sie das Grundübel dieses Siedlerkolonialismus nicht beseitigt haben, die Herrschaft der Besatzung. So musste es immer wieder zu Kriegen zwischen Besatzern und Besetzten, Herrschern und Beherrschten kommen – mit zunehmender Gewalt, Brutalität und Terror auf beiden Seiten. Der 7. Oktober 2023 war in der Perspektive der Geschichte ein voraussehbarer Ausbruch aus der Gewalt, aus dem „Freiluftgefängnis“ Gaza.
Die Hamas hat auch in ihrer neuen Charta von 2017 das Ziel, das palästinensische Territorium „from the River to the Sea“ von dem „zionistischen Projekt“ zu befreien. Der Ton ist nicht mehr so martialisch wie in der Charta von 1988, das Ziel ist jedoch nach wie vor die Errichtung eines souveränen palästinensischen Staates Palästina mit Jerusalem als Hauptstadt. Die Charta erwähnt zwar ausdrücklich, dass der Konflikt kein religiöser Konflikt sei und sich nicht gegen die Juden richtet, auch ist nicht von Vertreibung die Rede, aber über den Status der Juden in einem palästinensischen Staat macht die Charta keine Angaben. Die Ziele der Hamas hat der ermordete Führer des politischen Flügels Hanieh seinerzeit sehr kurz und klar definiert: die Befreiung des Gazastreifens von der israelischen Besatzung und dem Militär.
Wiederholt betont die Charta das Recht auf Widerstand mit allen Mitteln, zu denen auch der bewaffnete Kampf gehört. Dieses ist ein Recht, welches das Völkerrecht, insbesondere das Erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen von 1977 in Art. 1 Absatz 4 allen Befreiungsbewegungen einräumt. Erst kürzlich hat der chinesische Vertreter bei der Anhörung des Internationalen Strafgerichtshofs zur Klage Nicaraguas gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Unterstützung des Völkermordes in Gaza den Palästinensern das Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung zugesprochen. In der NATO-Welt, zu der wir gehören, wird der Hamas die Qualität als Befreiungsbewegung – mit der kuriosen Ausnahme Erdogans – streitig gemacht. Sie wird als Terrororganisation außerhalb der internationalen Rechtsordnung gestellt. Wer sich an die antikolonialen Freiheitskämpfe in den Sechziger- und Siebzigerjahren vor allem in Afrika erinnert, weiß, dass alle damaligen Befreiungsbewegungen als Terrororganisationen in den ehemaligen Kolonialstaaten bekämpft wurden. Erst mit dem Wechsel der Kämpfer von Camouflage zu Nadelstreifen in der Regierung wurden sie entkriminalisiert.
Nun mag das von Hamas propagierte Gesellschaftsmodell uns nicht gefallen. Das ist völkerrechtlich jedoch unerheblich. Wesentlich ist, dass die Hamas für die Beseitigung eines völkerrechtlichen Missstandes, der Besatzung, kämpft, wozu sie mit dem Recht auf Selbstbestimmung berechtigt ist. Dass dieser Befreiungskrieg immer Phasen des Terrors – und zwar auf beiden Seiten – mit sich brachte, sollte nicht vergessen werden. In den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gab es jedoch noch keine internationale Strafgerichtsbarkeit, die die Terrorgewalt hätte verfolgen können.
Um es kurz zu machen. So sehr es auch allen Parteien und Fraktionen in Regierung und Parlament widerstrebt, die Hamas ist eine Befreiungsbewegung mit dem Recht auf bewaffneten Widerstand. Das verpflichtet sie jedoch gleichzeitig, die Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten, vor allem den Schutz der Zivilbevölkerung. Jeder Angriff auf zivile Einrichtungen und Personen beim 7. Oktober 2023 ist ein Kriegsverbrechen und muss strafrechtlich untersucht und verfolgt werden. Der Internationale Strafgerichtshof führt derzeit Untersuchungen durch, der Antrag des Chefanklägers Karim Kahn auf Erlass eines Haftbefehls gegen die israelische Spitze Netanjahu und Gallant sowie den bereits ermordeten Hanieh und die militärischen Führer Sinwar und Deif sind ein Zeichen dafür, dass die internationale Justiz nun endlich ihre Verantwortung wahrnimmt und sich gegen die notorischen Bremser USA und Deutschland durchsetzen will.
4. Blicken wir deswegen noch auf das Völkerrecht, welche Rolle es bisher in diesem Konflikt gespielt hat und welche Bedeutung es für die Beendigung des Völkermordes bekommen kann.
Israel hat seit dem Krieg 1967 eine tiefe Verachtung des geltenden Völkerrechts durch seine Besatzung gezeigt. Es war mit Südafrika das am meisten durch die Institutionen der UNO verurteilte Land – und hat sich nie darum gekümmert. Das hat immer gut gepasst zu dem notorischen Völkerrechtsnihilismus der US-Administration, die das Völkerrecht der UNO-Charta durch eine „regelbasierte Ordnung“ ersetzen möchte – wir kennen das. Es bedürfte dieser neuen Ordnung nicht, wenn man sich an das Völkerrecht hielte. Eine „regelbasierte Ordnung“ hat jedoch den Vorteil, nach den eigenen Interessen gebastelt zu sein, nach der Devise: Die Regeln bestimmen wir. Keine Regierung Israels hat je eine Resolution akzeptiert und höchstens mit dem Vorwurf des Antisemitismus reagiert. Die internationale Gerichtsbarkeit konnte dabei niemals eingreifen, es fehlte schlicht an Klägern. Erst seit wenigen Jahren hat sich das grundsätzlich geändert. Es sind jetzt insgesamt vier Gerichtsverfahren vor den beiden Internationalen Gerichten in Den Haag gegen Israel anhängig.
Es geht um zwei Forderungen vor dem Internationalen Gerichtshof: eine unmittelbar nach sofortigem Waffenstillstand, die andere nach Feststellung, dass der Krieg in Gaza ein Völkermord sei. Der Internationale Gerichtshof konnte sich erst nach dem dritten Antrag Ende Mai entschließen, den sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Das ist eine alle Beteiligten verpflichtende Resolution – wir haben gesehen, wie Israel reagiert hat. Das Gericht hat auch gesagt, dass der Vorwurf des Völkermords plausibel sei, eine endgültige Entscheidung darüber kann aber noch Jahre dauern.
Der Internationale Strafgerichtshof war schon nach dem schweren Angriff der israelischen Armee zum Jahreswechsel 2008/2009 mit über 2.000 Toten von den Palästinensern angerufen worden. Die Untersuchungen wurden verzögert und haben sich lange hingezogen, bis der Chefankläger, der Brite Karim Khan, jetzt erst – 15 Jahre später – einen Haftbefehl gegen Netanjahu, Verteidigungsminister Gallant und drei Führungspersönlichkeiten der Hamas beim Gericht beantragt hat. Auf diese Entscheidung warten wir noch. Würde der Haftbefehl ausgesprochen, hätte das für Netanjahu und Gallant gravierende Folgen. Jeder der etwa 124 Staaten, die sich der Rechtsprechung des Gerichtes unterworfen haben, wäre verpflichtet, die beiden Politiker nach Den Haag auszuliefern, würden sie in einem der Staaten auftauchen.
Blicken wir etwas detaillierter auf dieses Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Zum Jahreswechsel 2008/2009 gab es erhebliche israelische Angriffe auf Gaza. In der kurzen Spanne von zehn Tagen waren über 2.000 Tote Opfer der israelischen Armee. Palästina hat sofort beim Internationalen Strafgerichtshof, kurz genannt IStGH, einen Antrag auf Ermittlung dieses Überfalls auf Palästina beantragt. Die rechtliche Grundlage dafür ist das internationale Strafrecht, das sogenannte Römische Statut, welches es seit 1998 gibt. Der dafür zuständige Gerichtshof, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), wurde im Jahre 2000 in Den Haag etabliert, wo er dann 2002 seine Arbeit aufnahm.
Es geschah zunächst nichts nach diesem Antrag, die Angriffe von 2008/2009 zu untersuchen. Als dann allerdings 2014 eine zweite Militäroffensive gegen Gaza von der israelischen Armee gestartet wurde, die sogenannte Protective Edge, die 50 Tage dauerte mit weit über 2.000 Toten und über 10.000 Verletzten, wurde der Internationale Strafgerichtshof, d.h. seine Chefanklägerin Fatou Bensouda aktiv. Es begannen nun Untersuchungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und vor allen Dingen auch wegen der Siedlungstätigkeit seit dem Jahre 2014.
2019 berichtete Fatou Bensouda über ihre Vorermittlungen und erklärte, sie seien abgeschlossen. Dann erklärte sich auch der Internationale Gerichtshof 2021, also zwei Jahre später, für zuständig. Palästina war seit 2015 Vertragsstaat und hatte das Römische Statut anerkannt. Die Frage war jedoch: Genügt dieser Status für die Gerichtshoheit des IStGH über die besetzten Gebiete? Es hat dann zwei Jahre gedauert, bis der Strafgerichtshof seine Zuständigkeit entschied, obwohl Palästina in der UNO immer noch nicht als Staat anerkannt ist. Der Beobachterstatus reichte dem Gerichtshof für seine Zuständigkeit, weswegen das Verfahren jetzt in offizielle Untersuchungen übergeleitet werden konnte. Da spielte nun auch Artikel 7 des Römischen Statuts mit den Tatbeständen Apartheid und Segregation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine Rolle.
Lange Zeit geschah allerdings wiederum nichts. Das hing auch damit zusammen, dass Fatou Bensouda 2021 durch einen neuen Chefankläger, den Engländer Karim Khan, abgelöst wurde. Er tat vorerst nichts, bis sich dann im März 2023 32 UNO-Sonderberichterstatter in der UNO und beim Internationalen Strafgerichtshof beschwerten, warum offiziell bisher immer noch nicht untersucht worden sei. Man muss im Hintergrund wissen, dass ein solcher Chefankläger eine politische Position ist, genauso wie auch in den nationalen Rechtsordnungen der europäischen Staaten. Jeder Staatsanwalt ist abhängig von seiner Regierung. So ist auch der Chefankläger des IStGH abhängig von den dominanten Staaten. Khan war der bevorzugte Kandidat von Großbritannien und den USA, die in der Tat kein Interesse an der Untersuchung gegen Israel haben. Deswegen dauerte es so lange.
Wir erinnern uns daran, dass Khan im September 2021 die bereits laufenden Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen in Afghanistan gegen die US-Soldaten wegen Foltervorwürfen im Gefängnis Bagram einstellte, offiziell wegen fehlender Kapazitäten und mangelnder Erfolgsaussichten. Er beschränkte deshalb die Untersuchungen auf die Verfolgung möglicher Kriegsverbrechen der Taliban. Präsident Trump hatte schon seiner Vorgängerin Fatou Bensouda mit Sanktionen gedroht, sollte weiter gegen US-Soldaten ermittelt werden. Auch der Mossad mit Yossi Cohen an der Spitze hat Bensouda massiv unter Druck gesetzt, die Untersuchungen fallenzulassen, wie der Guardian jüngst am 28. Mai aufdeckte. Der Druck auf Khan wird nicht viel geringer gewesen sein, wie man jetzt aus den Reaktionen in Israel und den USA schließen kann. Trotzdem wurde er am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas auf Israel plötzlich aktiv. Er begab sich nach Rafah, um die Untersuchung nun zu eröffnen – natürlich nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die Hamas.
Und nun der politisch überraschende, aber juristisch folgerichtige und gebotene Antrag eines Haftbefehls gegen Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Galant und gegen die drei Führungspersönlichkeiten der Hamas Ismail Hanyieh, Yahya Sinwar und Mohammed Deif. Noch hat die zuständige Kammer des Gerichtshofs dem Antrag nicht stattgegeben, aber die politische Wirkung ist bereits erheblich. Zum ersten Mal wagt es der Strafgerichtshof, einen Staatschef aus dem westlichen Lager zur Haft auszuschreiben. Er wird dem Antrag Khans folgen müssen, wenn er seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren will.
Die Frage bleibt zum Schluss: haben sich die Chancen für einen Frieden durch die Einschaltung der Internationalen Gerichtsbarkeit erhöht? Es ist eine Illusion zu glauben, die Justiz könnte das erreichen, was die Politik nicht kann. Sie hat keine Durchsetzungsgewalt und ist für die Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf die Politik, genauer den UN-Sicherheitsrat, angewiesen. Dennoch, in der Geschichte der Staaten ist die seit 2000 in Den Haag errichtete Strafgerichtsbarkeit ein historischer Fortschritt. Es begann 1945 – 1949 mit dem Nürnberger Tribunal der Alliierten. Es dauerte dann gut 50 Jahre der Verhandlungen, bis die Staaten 1998 ein internationales Strafgesetzbuch, das Römische Statut, verabschiedeten, dem bisher 124 Staaten beigetreten sind. Im Jahr 2000 wurde der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet und am 26. Mai 2024 zum ersten Mal ein Haftbefehl gegen einen Staatschef des Westens beantragt. Es gab bis dahin nur Haftbefehle gegen Al Bashir im Sudan, Gaddafi in Libyen und Putin in Russland.
Der sehr viel ältere Internationale Gerichtshof in den Haag, der die Klagen der Staaten gegeneinander zu entscheiden hat, war schon einmal gegen einen Staat des Westens tätig gewesen: 1986, als Nicaragua gegen die USA klagte und in elf Punkten siegte. Ein historischer Erfolg, der allerdings die USA nicht zur geforderten Entschädigung bewegen konnte, aber Nicaragua zweifelsohne jetzt zu seiner Klage gegen die Bundesrepublik mitbewog. Und nun, am 26. Februar 2024, wurde zum zweiten Mal ein Staat des Westens – Israel – verurteilt. Wenn auch hier Israel ebenso das Urteil nicht beachtete: Der Schaden für den Staat ist größer, und die Bedeutung der internationalen Justiz ist gewachsen.
Lassen sie mich noch kurz auf ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof eingehen, das zwar unspektakulär, aber politisch äußerst wichtig ist. Es wurde vor Kurzem mit einem Spruch abgeschlossen. Überraschenderweise stellte am 9. Januar 2023 die UNO-Generalversammlung an den Internationalen Gerichtshof (IGH) die Aufforderung, über die Legalität der israelischen Besatzung zu ermitteln (Artikel 36 IGH-Statut). Es geht um drei Fragen, die dem Gerichtshof gestellt wurden: Welche Rechtsfolgen sind aus der permanenten Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser durch die Besatzung festzustellen? Und zweitens, welchen rechtlichen Status hat die Besatzung? Schließlich, welche rechtlichen Konsequenzen folgen daraus für dritte Staaten, zum Beispiel für die Bundesrepublik oder für Frankreich? Ende Februar 2024 gab es vor dem Gerichtshof Anhörungen von 52 Staaten, die ihr Interesse an dem Verfahren angemeldet hatten, um ihre juristische Einschätzung dem Gericht zu übermitteln. Die Interessanteste war wohl die chinesische, die das Recht des palästinensischen Volkes hervorhob, sich auch mit Waffengewalt gegen die Besatzung zur Wehr zu setzen.
Am 19. Juli hat nun der Gerichtshof sein 80-seitiges Gutachten abgeben, in dem er die andauernde Besatzung Israels für rechtswidrig erklärt und Israel auffordert, die Siedlungstätigkeit sofort einzustellen, alle Siedler aus den besetzten Gebieten zu evakuieren und alle seine Truppen so schnell wie möglich aus den besetzten Gebieten abzuziehen sowie Schadensersatz für die angerichteten Schäden zu leisten. Dabei beließ es der Gerichtshof aber nicht. Er fordert zugleich alle Staaten und Internationale Organisationen einschließlich der UNO auf, die Situation in den besetzten Gebieten nicht als legal anzusehen. Er ist „der Auffassung, dass alle Staaten verpflichtet sind, die durch die unrechtmäßige Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten entstandene Situation nicht als rechtmäßig anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der durch die fortgesetzte Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen Situation zu leisten“. Das sollte statt der Fotos von ihren schönen Reisen auf den Schreibtischen von Kanzler und Außenministerin stehen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch kurz an ein Gutachten erinnern, welches der Internationale Gerichtshof schon 2004, ebenfalls auf Anfrage der UN-Generalversammlung, erstellt hatte: das sogenannte Mauer-Gutachten. Der Gerichtshof sollte prüfen, ob die Mauer bzw. der Sperrzaun, den Israel rund um die besetzten Gebiete gezogen hat und immer noch zieht, rechtmäßig ist. Die Richter haben 2004 ihr Gutachten veröffentlicht, was allerdings nicht verbindlich ist. Aber die Sprache ist sehr klar. Die Mauer ist so weit rechtswidrig, als sie palästinensisches Gebiet abzweigt. Denn die Israelis hatten die Mauer nicht nur auf ihrem Gebiet errichtet, sondern zu 80 Prozent auf palästinensischem Territorium. Jeder Staat kann sich einmauern, aber er darf sich natürlich damit nicht gleichzeitig fremdes Gebiet aneignen. Der Gerichtshof hat Israel verpflichtet, die Mauer zurückzubauen und Entschädigung für die enteigneten Besitzer zu zahlen. Israel hat sich um nichts gekümmert. Da der Internationale Gerichtshof aber keine Durchsetzungsmöglichkeiten hat, hängt dieses Gutachten nun in der Luft. Der Gerichtshof hat zwar festgestellt, dass der überwiegende Teil der Mauer rechtswidrig ist, kann aber nichts unternehmen, um seine Meinung auch durchzusetzen.
Blättern wir zurück. So brutal dieser Krieg seit dem 7. Oktober geführt wird und so sehr die Selektion der Ziele und Gnadenlosigkeit der Bombardierungen den genozidalen Charakter dieses Krieges unterstreicht, so hat er doch paradoxerweise die Bedeutung seiner derzeit einzigen Gegenkraft, der internationalen Justiz, gestärkt. Vor allem hat sie den engen Zirkel der zur Unterstützung um Israel gescharten Staaten, die die UNO immer aus dem Konflikt heraushalten wollten, durchbrochen. Die aktive Einmischung zahlreicher unbeteiligter Staaten wie Südafrika oder Nicaragua hat den Druck auf Israel, aber auch die USA und die BRD stark erhöht. Netanjahus Vernichtungswahn wird nur von außen zu stoppen sein, da die faschistischen Kräfte, die er um sich gesammelt hat, ihn immer bestärken werden. Auch gerichtliche Verfügungen und Urteile werden ihn nicht stoppen, aber sie können das menschenrechtliche Gewissen der engen Freunde Israels, die dieses Gewissen so gerne vor sich hertragen, schärfen und mobilisieren. Dazu bleibt es in der Suche nach Frieden notwendig, auch ihre Wirkung und Durchsetzungskraft zu stärken.
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