Der Korea-Kompromiss

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

Einige Ereignisse der Zeitgeschichte überdauern oft ihr Datum, selbst wenn sie nicht in den Stand einer „Zeitenwende“ gehoben wurden. Ihre Bedeutung erschöpft sich dann nicht in dem bloßen Erinnern als Rückbesinnung auf vergangene Zeiten, sondern kann zu neuen Erkenntnissen und auch Lehren für die Gegenwart führen. So könnte es auch mit dem Waffenstillstand im Koreakrieg vor genau 70 Jahren am 27. Juli 1953 geschehen. Ein Gedenktag, der allerdings weitgehend unbemerkt und unbefragt vorübergegangen ist, obwohl er in der Gegenwart des Ukrainekrieges Anlass zu einigen nützlichen Überlegungen sein könnte. Von Norman Paech.

So unbeliebt der Gedenktag in den USA offensichtlich ist, so haben sich doch in den Foreign Affairs einige Autoren zu Wort gemeldet, die die Bedeutung des Waffenstillstandes auch für die heutige Diskussion erkannten. Denn beide Kriege haben mehr Gemeinsamkeiten miteinander, als es die zeitliche Distanz vermuten lässt. Sie basieren auf der gleichen Konfrontation zwischen den USA und Russland – seinerzeit die Sowjetunion –, obwohl unter ganz anderen ideologischen Vorzeichen. Und auch die Volksrepublik China ist wieder mit dabei, damals militärisch, heute eher politisch, aber auf derselben Seite. Doch ein gravierender Unterschied bleibt. Im Koreakrieg standen sich die Parteien direkt mit ihren Truppen gegenüber, in der Ukraine bisher noch nicht. Allerdings könnten die USA sehr wohl die falschen Lehren aus dem Koreakrieg ziehen.

In den USA spielt in der Diskussion über den Beginn des Krieges in Korea eine Rede des damaligen US-Außenministers Dean Acheson über die US-Politik in Asien, die er im Januar 1950 vor dem Nationalen Presseclub fünf Monate vor dem Ausbruch des Krieges gehalten hat, eine gewisse Rolle. Er habe damals die Verantwortung für Südkorea, wo bis Mitte 1949 noch US-Truppen stationiert waren, für beendet erklärt. Sollte das Land angegriffen werden, so sei es wie jeder souveräne Staat auf sich selbst verwiesen und auf „die Verpflichtungen der gesamten zivilisierten Welt im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen.“[1] Der Kreml habe die Rede genau analysiert, und schon zwei Wochen danach Kim Il Sung zum Einmarsch ermächtigt.

Gleichgültig, ob diese Version zutrifft, eine kommunistische Invasion aus dem Norden – kurz zuvor hatte schon die Kommunistische Partei in China die Macht übernommen – war für die Medien in den USA eine ungeheure Bedrohung, die eine umgehende Intervention erforderte. Verbürgt ist der doppelte Schachzug von US-Außenminister Dean Acheson, der den Boykott des UN-Sicherheitsrats durch die Sowjetunion nutzte. Er profitierte von der Abwesenheit der Sowjetunion und ließ den Sicherheitsrat die Invasion offiziell verurteilen. Sodann erwirkte er die berühmte Resolution 377 Uniting for Peace, mit der die Aufgabe der Friedenssicherung auf die Generalversammlung übertragen werden konnte, wenn der Sicherheitsrat durch ein Mitglied blockiert wird. Der Kreml schäumte. Er hatte aus Protest gegen die Weigerung, die VR China statt Taiwan in die UNO aufzunehmen, das Gremium verlassen, korrigierte aber seinen Fehler sogleich und wandte die Resolution später selbst in der Suezkrise 1956 gegen Frankreich und Großbritannien an. Schließlich gelang es Acheson, die als „Polizeiaktion“ bezeichnete US-Intervention unter das Dach der UNO zu stellen und unter ihrem Namen laufen zu lassen.

Die USA waren schlecht vorbereitet. Die Militärausgaben, die 1945 noch 40 Prozent des BIP umfassten, waren 1950 auf 5 Prozent gefallen. Sie erlitten hohe Verluste gegen die nordkoreanischen Truppen, die Ende November 1950 durch 300.000 chinesische Soldaten verstärkt wurden. Erst allmählich konnten sie mit einem gewaltigen Einsatz von Luft- und Seestreitkräften die eingedrungenen Truppen aus Nordkorea über den 38. Breitengrad zurückdrängen. Doch trotz des militärischen Umschwungs war die Truman-Regierung schon im Dezember 1950 zu einem Waffenstillstand bereit. Offenbar hatte sie die verlustreichen Schlachten so kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einer Siegstrategie abgehalten. Gemeinsam mit dem britischen Premierminister Clement Attlee veröffentlichte Truman ein Kommuniqué, in dem sie zu Waffenstillstandsverhandlungen aufforderten und auf den Einsatz von Atomwaffen verzichteten. Der sowjetische Vertreter bei der UNO, Jakob Malik, forderte schließlich nach Gesprächen mit dem US-Diplomaten George F. Kennan am 23. Juni 1951 einen Waffenstillstand.

Dennoch sollte es noch zwei Jahre dauern, bis ein Waffenstillstand im Juli 1953 unterzeichnet wurde. Die Opferzahlen waren gewaltig. Nach gegenwärtigen Berechnungen haben die Amerikaner damals 26.574 Soldaten verloren, 102.284 wurden verletzt. China soll demgegenüber eine Million Menschen geopfert haben, die Koreaner gar vier Millionen – etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Gespräche begannen am 10. Juli 1951 und drehten sich vor allem um die Festlegung der Waffenstillstandslinie, die Überwachung der Maßnahmen zu ihrer Einhaltung und den Gefangenenaustausch.[2] Im Hintergrund dieser komplizierten und mit vielen Schachzügen geführten Verhandlungen stand jedoch die grundsätzliche Entscheidung über die Fortführung der Kampfhandlungen, die Frage der Eskalation oder Zurückhaltung.

Für den Oberkommandierenden der US-Truppen in UNO-Uniform, General Douglas MacArthur, war die Entscheidung klar, als die Chinesen, was er nicht vorausgesehen hatte, in die Schlacht eingriffen. Er plädierte für einen direkten Angriff auf die Volksrepublik, notfalls auch mit Atomwaffen. Das hätte den 3. Weltkrieg bedeutet, aber Präsident Truman ersetzte ihn im April 1951 durch General Mathew Ridgeway. Dieser stand hinter der Entscheidung Trumans, auf den Einsatz von Kernwaffen zu verzichten und den Krieg auf Korea zu begrenzen. Doch schon ein Jahr später änderte sich die Strategie wieder. General Dwight D. Eisenhower hatte die Präsidentschaftswahlen 1952 gegen Adlay Stevenson gewonnen und war für einen harten Kurs gegen die kommunistischen Gegner. Er erwog Möglichkeiten der Eskalation sogar unter Einsatz von Atomwaffen. Darüber informierte Außenminister John Foster Dulles im Mai 1953 den indischen Premierminister Jawaharlal Nehru.

Es ist unter Historikern in den USA nach wie vor strittig, ob diese Eskalationsstrategie für die Beendigung des Krieges und den Waffenstillstand entscheidend war und ob Nehru diese Drohung überhaupt an die Sowjets weitergegeben hat. Ebenso entscheidend könnte der Tod Stalins im März 1953 gewesen sein. Auch die erfolgreiche Vermittlung Indiens in der UNO, in der Krishna Menon eine Resolution einbrachte, um durch eine Rückführungskommission aus neutralen Staaten die Rückkehr von Gefangenen nach einem Waffenstillstandsabkommen zu erleichtern, hat zweifelsfrei zu der Entspannung beigetragen. Auf jeden Fall wurde der Waffenstillstand am 27. Juli 1953 von allen beteiligten Seiten unterschrieben.

Welche Lehren aus diesem langen Krieg und seiner Beendigung ohne Friedensvertrag für den gegenwärtigen Krieg auch zu ziehen sind, bemerkenswert ist, dass die Zeitschrift Foreign Affairs, die „Strategiezeitschrift der US-amerikanischen Außenpolitik“, den Gedenktag nutzt, den Waffenstillstand als politische Option in die aktuelle Ukraine-Debatte zu stellen, wo sie bisher an der angeblich kategorischen Weigerung Putins aufgehängt wird. Gallagher und MacLean, die davon überzeugt sind, dass „nur die Vereinigten Staaten die freie Welt mobilisieren (können), um einen Krieg zu verhindern – und wenn nötig, zu gewinnen“ –, schreiben: „Die Demonstration einer glaubwürdigen Bereitschaft zur Eskalation und zur Fähigkeit der Beherrschung, wenn eine solche Eskalation erforderlich ist, kann den Frieden fördern. Auf dieses Paradoxon hinzuweisen, bedeutet nicht, den Dritten Weltkrieg zu wünschen, sondern einen Weg zu seiner Verhinderung vorzuschreiben.“ Dieser Ratschlag zielt insbesondere in Richtung auf die für beide Autoren erwiesene Aggressivität Xi Jinpings und den zukünftigen Kampf um Taiwan.

Carter Malkasian hingegen setzt stärker auf den Weg der Verhandlungen, die jedoch eng mit dem Einsatz militärischer Gewalt verknüpft werden sollten: „Es geht darum, zu kämpfen und zu reden.“ „Die Vereinigten Staaten, die NATO und die Ukraine sollten die Aufnahme von Verhandlungen anbieten, aber den Druck auf dem Schlachtfeld und an anderen Fronten – beispielweise durch Sanktionen – aufrechterhalten. Sie sollten die Vereinten Nationen in die Verhandlungen mit einbeziehen und sich mit Zelensky eng abstimmen. Der Autor betrachtet seine Vorschläge selbst mit einer gewissen Skepsis. „Doch wenn die Fortsetzung der Verhandlungen ein Wagnis ist, dann eines mit geringen Risiken und hohen potentiellen Gewinnen. Ein Scheitern würde lediglich zu demselben Ergebnis führen wie ein Nichtstun.“ Und in einem letzten hoffnungsvollen Aufschwung preist er das Korea-Modell, welches auch schon bei Henry Kissinger angeklungen ist: „Die Art von stabilem, dauerhaftem Frieden, die der koreanische Waffenstillstand hervorgebracht hat, wäre nicht nur ein Sieg für die Ukraine und ihre Unterstützer, sondern auch für die ganze Welt.“

Darin hat der Autor zweifellos recht. Doch gibt es weder bei den USA noch bei der NATO hinreichende Anzeichen, dass sie von ihrem offiziellen, mit Zelensky abgestimmten Kriegsziel der Rückeroberung der Krim und der Donbas-Oblasten abrücken würden. Es gibt allerdings derzeit auch keine Anzeichen dafür, dass Russland auf der Basis des Status quo zu einem Waffenstillstand bereit wäre. Alles läuft auf die Verlängerung des Krieges mit dem Einsatz immer problematischerer Waffen von Streumunition bis zu weitreichenden Cruises Missiles, Raketen und Kampfjets getreu den Worten von US-Präsident Johnson auf der Höhe des Vietnam-Krieges: „Es muss alles noch viel schlimmer werden, ehe es besser wird.“

Da offensichtlich militärisch nichts dafür spricht, dass Zelenskiy und die NATO ihr Kriegsziel erreichen werden, wird sich ein Korea-Kompromiss letztlich am Minsk-II-Entwurf orientieren. Die Ukraine wird ihre territoriale Souveränität zwar bewahren können, nun aber unter Verlust der von Russland besetzten Gebiete, für die Minsk II noch Autonomie und Selbstverwaltung in den Grenzen der Ukraine vorgesehen hatte. Dafür wird sie wohl die ersehnte Mitgliedschaft in der NATO erhalten. Putin müsste auf die „Entmilitarisierung“, „Neutralisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine verzichten und sich mit den derzeit besetzten Ostgebieten der Ukraine als Puffer gegen den Westen und die NATO begnügen. Daneben gäbe es zahlreiche Fragen, die die Verhandlungen in die Länge ziehen können: Gefangenenaustausch, Rückführung Geflüchteter, Grenzziehung, Entschädigung etc. In Korea benötigte man dazu zwei Jahre.

Nichts spricht dafür, dass Russland den Gebietsgewinn der NATO – Finnland, Schweden, Rest-Ukraine – wird zurückdrehen können, aber auch nichts, dass die Ukraine ihre Ostgebiete zurückerobern kann: eine loss-loss-Situation, ganz abgesehen von den furchtbaren menschlichen Verlusten und Zerstörungen. Da wäre ein Korea-Kompromiss der einzige Weg für eine humanitäre Lösung des Konfliktes.


[«1] Vgl. Mike Gallagher, Aaron MacLean, Why America Forgets – and China Remembers the Korean War, Foreign Affairs, July 26 2023.

[«2] Vgl. Carter Malkasian, The Korea Model Why an Armistice Offers the Best Hope for Peace in Ukraine, Foreign Affairs, July/August 2023, June 20, 2023.

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