SPD-Parteitag verhöhnt Willy Brandt

SPD-Parteitag verhöhnt Willy Brandt

SPD-Parteitag verhöhnt Willy Brandt

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Mit einem opportunistischen Beschluss zur Russlandpolitik hat sich die SPD nun endgültig vom Werk Willy Brandts abgeschnitten. Diese „Erben“ Brandts verscherbeln die Errungenschaften des großen Sozialdemokraten für ein Schulterklopfen aus Washington. Die angebliche Verteidigung Brandts auf dem jüngsten SPD-Parteitag durch dessen Nachfolger geriet darum auch indirekt zu dessen Verhöhnung. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

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Ein Aspekt beim an fragwürdigen Positionen reichen SPD-Parteitag ist meiner Meinung nach besonders gravierend. Nämlich der Beschluss der Delegierten, die Russlandpolitik der SPD in der Vergangenheit als Fehler zu bezeichnen. Das wird besonders schwer erträglich, wenn ansonsten auf dem Parteitag die häufige Berufung auf „Krisen“ das eigene Handeln als alternativlos und darum nicht als kritikwürdig darstellen sollte. Dass diese Krisen selber hergestellt wurden, vor allem durch den wirkungslosen und zuerst US-Interessen dienenden Wirtschaftskrieg gegen Russland, diese Tatsache fiel beim SPD-Parteitag einmal mehr einer aufreizenden Unfähigkeit zur Selbstkritik zum Opfer. Diese Selbstkritik gab es dann, wie gesagt, nur an der völlig falschen Stelle.

So sei die Annahme, mit immer stärkeren Wirtschaftsbeziehungen könne zu einer Demokratisierung Russlands beigetragen werden, ein Fehler gewesen und habe in eine energiepolitische Abhängigkeit Deutschlands geführt, heißt es in einem Leitantrag zur Außenpolitik, der von den Delegierten angenommen wurde. SPD-Chef Lars Klingbeil sagte, es sei „ein Fehler gewesen, sich vom System Putin nicht früher zu distanzieren“. Fraktionschef Rolf Mützenich räumte ein, er habe das imperiale Denken von Kremlchef Wladimir Putin „komplett unterschätzt“. 

SPD kappt die eigenen Wurzeln

In solchen extrem verkürzten Darstellungen werden alle Vorteile der Beziehung zu Russland unterschlagen, die für die Bürger hierzulande entstanden sind: vor allem die Festigung von Frieden und Wohlstand – satirisch sind die NachDenkSeiten auf diese groteske Haltung im Artikel „Frieden und Wohlstand waren schreckliche Irrtümer“ eingegangen. Außerdem klingt in einigen Formulierungen die arrogante Haltung durch, Deutschland hätte die Aufgabe, andere Länder zu „demokratisieren“. Meiner Meinung nach gehen uns die innenpolitischen Details in Russland nichts an (bis zu einem gewissen Grad selbstverständlich). Und ein zentraler Punkt der Handelsbeziehungen mit Russland ist doch eben die Verhinderung von Spannungen, die zu Kriegen führen können. Der Wille zur außenpolitischen Entspannung bedeutet zudem selbstverständlich keine Akzeptanz aller innenpolitischen Defizite eines Landes.

Außerdem: Wie sollte denn ausgerechnet eine von feindlicher Rhetorik begleitete Sanktionspolitik gegen Russland die dortige „Demokratie stärken“? Es ist doch offensichtlich, dass die Konfrontation durch den Westen in Russland eher die autoritären Stimmen stark macht.

So schnell werden die eigenen Wurzeln gekappt: Im Wahlprogramm der SPD von 2021 stand noch: „Frieden in Europa kann es nicht gegen, sondern nur mit Russland geben.“ Nun wird dieser Satz in dem Parteitagsbeschluss ins Gegenteil gedreht – zusätzlich wird eine anmaßende außenpolitische Haltung zum Ausdruck gebracht, indem gesagt wird, dass sich „in Russland“ die politischen Dinge „fundamental ändern“ müssten, bevor die Konfrontation zurückgefahren wird:

Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.“

Die SPD hat ihr friedenspolitisches Profil inzwischen gegen null geschliffen

Aufreizend ist auch die Pose führender Sozialdemokraten auf dem Parteitag, sich als Verteidiger Willy Brandts aufzuspielen, während man gleichzeitig (in einem nicht mehr überraschenden, aber doch gravierenden Schritt) erklärt, ein weiteres Handeln im Sinne von Brandts großer Vorarbeit sei nun obsolet. So habe sich Mützenich beim Parteitag gegen Versuche gewandt, die traditionsreiche Entspannungspolitik der SPD an sich in Misskredit zu ziehen. Es sei eine Schande, sie in eine Linie mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine zu stellen, sagte er. Da hat er natürlich recht, aber den Worten folgten eben dann fragwürdige Taten.

Angesichts des SPD-Beschlusses zur Russlandpolitik und der damit vollzogenen Unterwerfung unter die grundfalsche offizielle Darstellung der Vorgeschichte des Ukrainekrieges und der indirekt stattfindenden Aufgabe der Vorarbeit Willy Brandts bezüglich der Entspannungspolitik mit der Sowjetunion klingen die folgenden Worte Mützenichs in meinen Ohren wie Hohn: Statt die eigene Russlandpolitik aufzuarbeiten, hätten Konservative in den vergangenen beiden Jahren versucht, „das Erbe von Willy Brandt mit Schmutz zu bewerfen“, sagte er. Er werde nicht zulassen, dass dieses Erbe beschädigt werde.

Der Beschluss ist nicht nur wegen des politisch unverantwortlichen Inhalts abzulehnen. Er ist auch ein wahltaktisches Desaster. Albrecht Müller merkt zu dem aktuellen Russland-Beschluss der SPD an:

Ich war 1972 zuständig für den Bundestagswahlkampf der SPD. Dabei ging es vor allem um die Bestätigung und Absicherung der Ostpolitik durch die Wählerinnen und Wähler. Das ist mit der Zustimmung von 45,8 % der Wählerinnen und Wähler erreicht worden – zusätzlich zu den mit der Ostpolitik und Entspannungspolitik verbundenen FDP mit 8,4 %. Dass die SPD inzwischen auf ein Drittel des damaligen Ergebnisses, auf circa 15 % bei den Umfragen geschrumpft ist, hat auch etwas damit zu tun, dass sie ihre damaligen ostpolitischen Erfolge inzwischen mit Füßen tritt und ihr friedenspolitisches Profil inzwischen gegen null geschliffen hat.“

SPD: Militär ist Mittel der Friedenspolitik

Zum Thema friedenspolitisches Profil: Der Beschluss geht auf prinzipieller Ebene noch weiter, denn in ihm sprechen sich die Delegierten des SPD-Parteitags zusätzlich für eine „Führungsrolle Deutschlands in der Welt“ aus, so Medien. Militär wird in dem Parteitagsbeschluss demnach ausdrücklich als Mittel der Friedenspolitik anerkannt. Der Beschluss verströmt auch etwas Fatalistisches – als gäbe es kein Morgen und als sei eine verantwortungsvolle Analyse der Folgen der eigenen Beschlüsse – etwa eines Beitritts der Ukraine zur EU – nur störendes Beiwerk innerhalb eines großartigen Prozesses: Mit Blick auf die Osteuropapolitik gelte es, „so schnell wie möglich die Voraussetzungen für die Aufnahme der Ukraine, Moldaus und Georgiens zu schaffen“. 

Und während in der aktuellen Haushaltsdebatte der Sozialstaat mit Kürzungen angegriffen wird, rief Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Parteitag dazu auf, die Ukraine wenn nötig auch noch jahrelang im Kampf gegen Russland zu unterstützen. Deutschland hat der Ukraine seit Februar 2022 bereits milliardenschwere Finanzhilfen und umfangreichen Waffenlieferungen zur Verfügung gestellt. Angesichts der „schwierigen Haushaltslage“ gebe es Befürchtungen, dass die Bundesregierung ihre Hilfe zurückfahren könnte, so Medien. Doch diese „Befürchtungen“, die eigentlich als Hoffnung auf Einkehr von Vernunft zu bezeichnen sind, würden ein von der SPD nicht mehr praktiziertes Verantwortungsgefühl für die eigenen Bürger voraussetzen: „Dieser Krieg ist wahrscheinlich so schnell nicht vorbei“, sagte Scholz. Daher sei wichtig, „dass wir lange in der Lage sind, die Ukraine weiter in ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen“. Dies gelte nicht nur für dieses, nächstes, sondern womöglich auch für übernächstes Jahr.

Verständigung ist keine Unterwerfung

Kürzlich habe ich geschrieben: Verhinderung von Krieg und die Ermöglichung von Handel zum beiderseitigen Nutzen bedeuten keine Unterwerfung, weder innen- noch außenpolitisch. Es geht beim Verhältnis zwischen Deutschland und Russland schließlich nicht um romantische Russenliebe, sondern um eine kühle Analyse der wirtschafts- und geopolitischen Situation. Zusätzlich sei an die gewaltige Verantwortung und die eindeutige Pflicht zur Verständigung mit Russland erinnert, die aus den Verbrechen Deutschlands gegen die Sowjetunion und gegen ihre Bürger im Zweiten Weltkrieg erwachsen. Dass mit dieser Haltung mögliche innenpolitische Defizite nicht gerechtfertigt werden, ist selbstverständlich.

Außerdem: Es stimmt nicht, dass Russland und „der Westen“ zwangsläufig auf einen Showdown oder auf eine waffenstarrende und dauerhaft getrennte Existenz zusteuern müssen. Und wenn Russland nach jahrelanger westlicher Sanktionspolitik und feindlicher Propaganda vonseiten der EU und den USA diese Gruppen künftig als Feinde sehen sollte, dann wäre das auch keine Bestätigung der „Warnungen“ vonseiten westlicher Kriegstreiber vor dem angeblichen russischen Expansionsdrang: Es wäre – im Gegenteil – die tragische Bestätigung der Warnungen von Kritikern des Regierungskurses, dass die (unnötige) Konfrontation mit Russland den Frieden in Europa in große Gefahr bringen kann. Dass Russland spätestens ab 2001 für lange Zeit die Hand ausgestreckt hatte und zu einer echten und friedlichen Partnerschaft mit Resteuropa bereit war, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Ein Gelingen dieser Entwicklung hätte aber wichtigen US-Interessen widersprochen. Spätestens mit dem Maidan-Umsturz wurde dann ein Weg eingeschlagen, der absolut voraussehbar zum Krieg in Europa geführt hat.

Und: Eine friedliche Koexistenz mit Russland bedeutet auch keineswegs, dass die wirtschaftlichen oder kulturellen Brücken zu den USA abgebrochen werden müssen. Das sollte auch nicht passieren! So sollte auch gegen die USA meiner Meinung nach kein Wirtschaftskrieg vom Zaun gebrochen werden. Deutschland könnte und müsste eine Brückenfunktion in einer möglicherweise entstehenden multipolaren Welt übernehmen.

Kindergrundsicherung oder Kriegstüchtigkeit

Das alles ficht die SPD-Führung, aber auch die Delegierten offensichtlich nicht an: Deutschland müsse sich dabei sogar darauf einstellen, noch mehr leisten zu müssen, „wenn andere schwächeln“, sagte der Kanzler offensichtlich in Anspielung auf die unklare politische Lage in den USA vor den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr. Daher müsse es auf deutscher Seite Entscheidungen geben, „dass wir dazu in der Lage sind“. Während also die benachteiligten Bürger hierzulande von mancher Seite massiv als Nutzer einer sozialen Hängematte diffamiert werden, um die Kürzung ihrer Sozialleistungen vorzubereiten, will die Bundesregierung mithilfe der SPD die bereits geplante milliardenschwere Ukrainehilfe nochmals verdoppeln.

Kindergrundsicherung oder Kriegstüchtigkeit: Die Prioritäten der SPD liegen (spätestens) jetzt ganz offen.

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Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock