„Die Militarisierung nutzt in erster Linie der westlichen Waffenindustrie, dem deutschen Militarismus und den strategischen Interessen der USA“

„Die Militarisierung nutzt in erster Linie der westlichen Waffenindustrie, dem deutschen Militarismus und den strategischen Interessen der USA“

„Die Militarisierung nutzt in erster Linie der westlichen Waffenindustrie, dem deutschen Militarismus und den strategischen Interessen der USA“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Der Journalismusforscher Florian Zollmann beleuchtet im Interview mit den NachDenkSeiten die Berichterstattung der Medien zum Ukraine-Krieg und verweist auf die Schieflagen: „Statt über die Lieferung von Marschflugkörpern an die Ukraine zu diskutieren, müsste vielmehr in den Medien gefragt werden, wie dieser Krieg schnellstmöglich beendet werden kann.“ Zollmann, der an der Universität von Newcastle unterrichtet, geht im Interview auch näher auf den Fall Assange sowie auf die Auseinandersetzung zwischen Israel und Palästina ein. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Florian Zollmann ist Senior Lecturer in Journalism at Newcastle University, UK. Kürzlich erschien von ihm die öffentlich zugängliche Studie zur deutschen, britischen und US-amerikanischen Medienberichterstattung des Ukraine-Krieges: A war foretold: How Western mainstream news media omitted NATO eastward expansion as a contributing factor to Russia’s 2022 invasion of the Ukraine.

Herr Zollmann, gerade wird über ein geleaktes Gespräch diskutiert. Es geht um Offiziere der Bundeswehr, die über die Lieferungen von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine sprechen. Es geht auch um einen möglichen Angriff auf die Krimbrücke. Berichten deutsche Medien angemessen?

Beim Ukraine-Krieg geht es insbesondere um das Weglassen oder Aufbauschen von Fakten, was Teil von Propaganda-Techniken ist. Was die Taurus-Marschflugkörper angeht, berichten die Medien eher über taktische Aspekte und gehen der Frage nach, wie es passieren konnte, dass solche sensiblen Gespräche geleakt werden konnten. Mir fehlt da eine substanziell kritischere Einordnung. Es erscheint mir als äußerst gefährlich, dass Deutschland durch eine mögliche Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine weiter in diesen Krieg hineingezogen werden könnte. Dieses Gefahrenpotential sollte auf der Medienagenda ganz oben diskutiert werden. Stattdessen wird die Gefahr eher heruntergespielt, es heißt mitunter in der Medienberichterstattung zu den Taurus-Marschflugkörpern, durch Waffenlieferungen werde Deutschland nicht zu einer Kriegspartei. Das mag völkerrechtlich stimmen, aber eine Taurus-Lieferung an die Ukraine könnte von russischer Seite durchaus als eine Eskalation verstanden werden. Statt über die Lieferung von Marschflugkörpern an die Ukraine zu diskutieren, müsste vielmehr in den Medien gefragt werden, wie dieser Krieg schnellstmöglich beendet werden kann.

Würden Sie für uns kurz die derzeitige Situation in Bezug auf den Krieg in der Ukraine skizzieren? Was passiert gerade in Deutschland? Was passiert in den NATO-Staaten? Stichwort: Militarisierung.

Bei dieser Militarisierung geht es darum, die nationalen Ausgaben für Waffensysteme sowie die Bereitschaft für den Einsatz von Waffen in der Bevölkerung zu erhöhen. Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine geht es auch darum, immer mehr Waffen und Militärhilfe der Ukraine zukommen zu lassen. Nach den USA ist Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Passend dazu ist: Immer wieder hören wir in den Medien von vermeintlich hohen Opferzahlen auf russischer Militärseite. Ganz nach dem Motto: Unsere militärische Unterstützung hat Erfolg.

Wo ist das Problem?

Wir erfahren wenig über die tatsächliche Kriegslage und die Opferzahlen des ukrainischen Militärs, die nach manchen Schätzungen wesentlich höher ausfallen könnten als die Opferzahlen unter Russlands Soldaten. Der Krieg in der Ukraine ist ein Abnutzungskrieg, bei dem die Verwendung von Artillerie eine wichtige Rolle spielt. Der Westen ist wegen Kapazitätsproblemen in nächster Zeit nicht in der Lage, genug Artilleriemunition an die Ukraine zu liefern. Westliche Schätzungen gehen davon aus, dass Russland etwa zehnmal mehr Artilleriemunition verwendet als die Ukraine. Könnten sich die militärischen Opferzahlen in einem ähnlichen Verhältnis ausdrücken (darauf verweist die auf Militärangelegenheiten spezialisierte Webseite Moon of Alabama)? Dieser Frage wird in den Medien kaum nachgegangen. Je länger der Krieg dauert, desto schlimmer wird die Situation für die Ukraine werden, der die Soldaten ausgehen und die auch demographisch einen erheblichen Nachteil gegenüber Russland hat. Aus Politik und Medien hören wir bisweilen ein irreführendes Narrativ, die Ukraine könne den Krieg mit westlicher Unterstützung noch gewinnen.

Russland als Feindbild – darauf baut die Militarisierung auf. Stimmen Sie dem zu? Wenn ja: Wie vollzieht sich dieser Feindbildaufbau? Wer „baut da auf“? Und warum überhaupt?

Absolut. Wie eine von mir kürzlich veröffentlichte Studie zeigt, wurde Russland im politischen und medialen Framing als durch Putin personifizierter Feind aufgebaut, dem es lediglich um eine imperiale Machterweiterung gehe. In diesem Licht erscheinen andere als militärische Lösungsstrategien unplausibel. Natürlich hat Putin einen illegalen Angriffskrieg gestartet, der ein Verbrechen und einen Bruch des Völkerrechts darstellt. Und: Putin ist ein repressiver Machthaber.

Das ist die eine Seite. Also die Seite, die von westlichen Medien hervorgehoben wird. Es gibt aber noch eine andere Seite.

Russland hat auch nationale Sicherheitsinteressen, die sein Handeln beeinflussen. Zahlreiche ehemalige US-Diplomaten, Historiker und Politikwissenschaftler warnten über mehrere Jahrzehnte, dass die NATO-Osterweiterung die Sicherheitslage in Europa destabilisieren werde. Und: Es gibt Hinweise, dass Putin möglicherweise zu Verhandlungen über den Krieg in der Ukraine bereit gewesen sein könnte. Das hat er an drei verschiedenen Zeitpunkten über Vermittler signalisiert (im März-April 2022, Herbst 2022 und September 2023), was auch zum Teil von der ukrainischen Seite bestätigt wurde. Natürlich kann es sein, dass es sich hierbei nur um Charaden handelte.

Andererseits gibt es immer mehr Hinweise, die darauf hindeuten, dass die Ukraine und Russland kurz davor waren, ein Friedensabkommen zu schließen. Und dieser Vorgang wurde möglicherweise von den USA und Großbritannien blockiert mit dem Ziel, Russland durch eine Verlängerung des Krieges zu schwächen. Es ist daher problematisch, dass mögliche diplomatische Optionen in den Medien zugunsten eines Narrativs der Aufrüstung der Ukraine eher vernachlässigt werden, was zum Beispiel die Studie von Precht und Welzer nahelegt. Denn die Militarisierung nutzt in erster Linie der westlichen Waffenindustrie, dem wiedererstarkten deutschen Militarismus und den strategischen Interessen der USA. Gleichzeitig wird der Krieg in der Ukraine dazu verwendet, die letzten Überbleibsel der im Nachkriegsdeutschland etablierten militärischen Zurückhaltung über Bord zu werfen.

Unser Reporter Florian Warweg musste sich von Habeck auf der Bundespressekonferenz als „Russlands Berichterstatter“ bezeichnen lassen. Wie wirkt das Verhalten Habecks auf Sie?

Wirtschaftsminister Habeck verwendet einen argumentativen Trugschluss. Habeck assoziiert Warweg mit dem negativ konnotierten Russland. Das hat zum Ziel, Warweg und seine Frage zu delegitimieren.

Der Sender Phoenix hat über seinen Kanal auf der Plattform „X“ folgenden Tweet abgeschickt: #Habeck vs #RussiaToday: “Hier ist eine Grenze erreicht, die schwer zu ertragen ist”, meint Bundeswirtschaftsminister Habeck @BMWK auf die Frage des ehemaligen Leiters der Onlineredaktion von Russia Today Deutschland @FWarweg Focus Online bezeichnet in einer Überschrift Warweg als „pro-russischen Journalisten“. Auch hier die Bitte um Einordnung. Was gilt es dazu aus der Sicht des Medienanalysten zu sagen?

Im Prinzip wiederholen solche Medien den von Habeck verwendeten Trugschluss. Dabei wäre es doch eher von öffentlichem Interesse gewesen, die Art und Weise zu thematisieren, wie laut der von Warweg erwähnten Handelsblatt-Geschichte im Wirtschaftsministerium abweichende Meinungen behandelt wurden. Auf der Bundespressekonferenz verwies Habeck ja auch auf die liberale Demokratie. Er und die oben genannten Medienorganisationen haben wohl vergessen: journalistische Kritik und Kontrolle der Politik gehören genauso wie Dissens zu den Eckpfeilern der liberalen Demokratie.

Ist es zu weit zugespitzt, wenn man sagt: Medien sind mittlerweile Kriegspartei?

Auf einer allgemeinen Ebene geht das zu weit. Medien sind in liberalen Demokratien formal unabhängige Institutionen und es gibt einen gewissen Grad an Freiheit für Medienschaffende. Die Medien sind aber auch ein wichtiger Faktor in den Überlegungen der Staats- und Militärplaner. Diese haben zahlreiche Strategien entwickelt, die Medien zu steuern. Im Krieg ist die Verwendung von Informationen zur Beeinflussung von Wahrnehmungen und Verhalten des Zielpublikums genauso bedeutend wie die Verwendung von Waffen. Im heutigen System haben die Medien eine Nähe zu den Machtzentren, sie sind teilweise institutionell in diese eingebettet. Wenn Medien dann in bestimmten Fällen lediglich militärische Vorgehensweisen als Lösung von Konflikten anpreisen, ohne auf andere Optionen aufmerksam zu machen, dann besteht die Gefahr, dass sie zur Kriegspartei werden.

Es gibt von Julian Assange ein bemerkenswertes Zitat: „Einige der wenigen Dinge, die mir Hoffnung machen, ist, dass ich herausfand, dass jeder Krieg der letzten 50 Jahre ein direktes Resultat von Medienlügen war. Die Medien hätten jeden dieser Kriege verhindern können, wenn sie nur tief genug recherchiert hätten. Und sie hätten jeden dieser Kriege stoppen können, wenn sie sich nicht nur darauf beschränkt hätten, offizielle Regierungspropaganda zu verbreiten.“ Was ist an den Aussagen dran?

Sicherlich bestätigt insbesondere die anglo-amerikanische Forschung der letzten 100 Jahre, dass die Medien in Kriegszeiten ihre „eigene Seite“ unterstützen. Das führte dazu, dass zahlreiche Medien die Propaganda-Narrative ihrer eigenen Regierung hervorhoben und somit den Machthabern die Kriegseintritte erleichterten und manchmal auch erst ermöglichten, mit schwerwiegenden Folgen.

Wie wird der Konflikt zwischen Russland und der NATO weitergehen? Halten Sie die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung für real?

Ich verweise auf das 1945 von Wissenschaftlern wie Albert Einstein und J. Robert Oppenheimer gegründete Bulletin of the Atomic Scientists, dass seine Doomsday Clock in den Jahren 2023 und 2024 auf 90 Sekunden vor Mitternacht (Weltuntergang) gestellt hat. Der Krieg in der Ukraine und die wachsende Abhängigkeit von Atomwaffen erhöhten das Risiko einer nuklearen Eskalation, warnt das Bulletin. Demnach befindet sich die Welt derzeit so nah an einer atomaren Katastrophe wie noch nie zuvor.

Herr Zollmann, lassen Sie uns auf den Fall Assange eingehen. Was sind Ihre aktuellen Gedanken zu dem Fall?

In den erneuten Anhörungen vor dem britischen High Court im Februar 2024 ging es darum, ob Assange das Recht auf eine weitere Berufung gegen seine Auslieferung an die USA hat (die Auslieferung wurde im Dezember 2021 vom britischen High Court genehmigt). Mit einer Entscheidung wird im März 2024 gerechnet. Sollte das britische Gericht dieses Berufungsgesuch verweigern, dann wird das schwerwiegende Folgen haben.

Nämlich?

Dem gesundheitlich angeschlagenen Assange drohen in den USA möglicherweise bis zu 175 Jahren Haft unter elenden Bedingungen. Die Auslieferung und eine mögliche Verurteilung unter dem Espionage Act in den USA würden außerdem gefährliche Präzedenzfälle für die weltweite Presse- und Meinungsfreiheit schaffen.

Was würde passieren?

Erstens: Wie der britische Journalist Matt Kennard am 21. Februar 2024 gegenüber Democracy Now! sagte, verübte Assange die ihm von der US-Justiz angelasteten Taten nicht innerhalb des Territoriums der USA. Sollte er also an die USA ausgeliefert werden, könnten die USA diesen Vorgang in Zukunft als Freifahrtschein ansehen, auch andere Journalisten überall auf der Welt einzusacken, wenn ihnen ihre Veröffentlichungen nicht passen. Und repressive Regierungen könnten dann mit Hinweis auf die USA folgen und ebenfalls Journalisten in willkürlicher Manier einbuchten.

Zweitens: Die Organisation Reporters Without Border (RSF) argumentiert, dass Assange bei einer Auslieferung an die USA als der erste Verleger anzusehen sei, der nach dem Espionage Act angeklagt werde. Der Espionage Act erlaube es nicht, publizistische Tätigkeiten mit Verweis auf das öffentliche Interesse zu rechtfertigen. Das bedeute für die Zukunft, dass sich jeder Publizist, der auf diese Weise angeklagt werde, nicht ausreichend verteidigen könne. Des Weiteren würde Assanges Verurteilung laut RSF ähnliche Strafverfolgungen gegen solche Medienunternehmen ermöglichen, die Reportagen veröffentlichten, welche auf geleakten Informationen basierten. Man kann sich RSF nur anschließen, wenn sie davor warnen, dass eine Anklage gegen Assange in den USA als ein beispielloser Schlag gegen die Pressefreiheit anzusehen ist.

Wie sehen Sie die Berichterstattung zum Fall Assange in Deutschland?

Sicherlich gab es in den vergangenen Jahren auch Artikel in den deutschen Mainstream-Medien, die vor Assanges Auslieferung warnten. Es fällt aber auf, dass Assange seit den WikiLeaks-Veröffentlichungen der „Afghan War Diary“ und „Iraq War Logs“ im Jahr 2010 in den Medien eher als ein zwielichtiger Exzentriker und Hacker dargestellt wurde. Die von US-Geheimdiensten und anderen hochrangigen politischen Akteuren in den USA orchestrierte Kampagne gegen Assange wurde in den Medien nicht ausreichend für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Assange wurde in der öffentlichen Arena teilweise vorverurteilt und daher kann man heute kaum von einem fairen Verfahren sprechen.

„Julian Assange – Dieser Mann ist ein Gefährder“. So lautet die Überschrift eines Beitrags von Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung. Haben Sie eine Erklärung für einen derartigen Artikel?

Ich denke, es geht um die Frage, ob die von Assange veröffentlichten Datenleaks andere Menschen gefährdet haben könnten. Dazu schreibt Kornelius in dem von Ihnen genannten Beitrag (JULIAN ASSANGE; Ein Gefährder, Süddeutsche Zeitung, 22. Februar 2024, S. 4):

Die Publikation von einer Viertelmillion Datensätzen hält keinen Vergleich stand, in ihrer Maßlosigkeit und Radikalität widerspricht sie allen journalistischen Grundsätzen. Die damals involvierten Medienhäuser, allen voran die New York Times, prüften das Datenpaket radikal. Sie konfrontierten die betroffenen Behörden und gaben ihnen sogar die Gelegenheit zur Einordnung.

Julian Assange tat das nicht. Er veröffentlichte alle Daten auf seiner Plattform Wikileaks, ungeachtet ihres Gefährdungspotenzials. Und gefährlich waren diese Papiere: gefährlich für Dissidenten und Informanten in autoritären Regimen, gefährlich für Schutzsuchende, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt waren, gefährlich für eine große Personengruppe, die in der diplomatischen Maschine an Rädchen dreht und die Welt nicht nur zum Schlechteren wenden wollte.

Hat Kornelius mit dieser Einschätzung recht?

Daniel Ellsberg, der kürzlich verstorbene ehemalige Militäranalyst und Whistleblower, der 1971 die Pentagon Papers enthüllte, sagte in der BBC-Sendung „World Today“, dass US-Offizielle jedes Mal dasselbe Argument vorbrächten, wenn es zu einem für die USA möglicherweise unangenehmen Datenleck käme (siehe „Has release of Wikileaks documents cost lives?“ BBC News, 1. Dezember 2010). Die gleichen Vorwürfe seien gegen die Pentagon-Papiere erhoben worden und hätten sich als ziemlich falsch erwiesen. Ellsberg:

Die beste Rechtfertigung, die sie für die Geheimhaltung finden können, ist, dass Leben auf dem Spiel stehen. Tatsächlich stehen Leben aufgrund des Schweigens und der Lügen auf dem Spiel, die viele dieser Leaks ans Licht bringen.

Reporters Without Border schreiben, es sei ein Irrtum anzunehmen, dass Assange wissentlich Menschen gefährdet habe. Bisher habe die US-Regierung keine Beweise dafür vorgelegt, dass durch die Veröffentlichung tatsächlich einer Person ein Schaden entstanden sei.

Immer wieder wird auch in Abrede gestellt, dass Assange Journalist ist. Was ist Ihre Sicht?

Assange führte journalistische Handlungen durch, das ist entscheidend. Er veröffentlichte von der US-Regierung als geheim eingestufte Dokumente, die ihm von einer Quelle zugespielt wurden. Das sind journalistische Standardpraktiken. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International sowie zahlreiche professionelle journalistische Verbände fordern, dass alle strafrechtlichen Anklagepunkte, die gegen Assange wegen seiner Publikationsaktivitäten ausgesprochen wurden, fallengelassen werden.

Wie präsent ist Manipulation und Propaganda im Fall Assange?

Folgendes sollten wir nicht vergessen: Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, hatte 2019 festgestellt:

Seit Wikileaks im Jahr 2010 begann, Beweise für von US-Streitkräften begangene Kriegsverbrechen und Folter zu veröffentlichen, beobachten wir anhaltende und abgestimmte Bemühungen mehrerer Staaten, die Auslieferung von Herrn Assange an die Vereinigten Staaten zur Strafverfolgung zu erreichen, was Anlass zu ernsthafter Besorgnis über die Kriminalisierung von Investigativ-Journalismus gibt und sowohl gegen die US-Verfassung als auch gegen internationale Menschenrechtsnormen verstößt.“

Diese Bemühungen waren so koordiniert, dass man von einer Desinformationskampagne sprechen kann. Es ging darum, Assange und WikiLeaks zu diskreditieren, weil sie durch die Veröffentlichung von als geheim klassifizierten Dokumenten das wahre Gesicht des US-Imperiums offengelegt hatten.

Vieles dreht sich derzeit um Kriege. Es gibt noch einen Krieg: Israel und Palästina. Lassen Sie uns noch kurz darauf eingehen. Wie ist hier der Stand der Dinge? Was gibt es aus medienanalytischer Sicht zu sagen?

Am 7. Oktober 2023 verübte die palästinensische Militärorganisation Hamas einen großangelegten Terroranschlag in Israel. Indem sie wahllos israelische und ausländische Zivilisten töteten, verübten die Terroristen der Hamas schreckliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ungefähr 1.200 Menschen wurden bei dem Terroranschlag der Hamas getötet, darunter 846 Zivilisten und 36 Kinder. 239 Menschen wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israel begann daraufhin mit der Bombardierung des Gazastreifens sowie mit dem Einmarsch von Bodentruppen mit dem offiziellen Ziel, die Hamas zu zerschlagen. Dieser Angriff auf den Gazastreifen dauert nun schon über 100 Tage an. Laut eines Berichtes des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) vom 26. Februar 2024 seien seit dem 7. Oktober mindestens 29.514 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden, bei 70 Prozent der Toten handele es sich um Frauen und Kinder. Wegen dieser Faktenlage würde ich nicht von einem Krieg im eigentlichen Sinne sprechen.

Was heißt all das?

Ein Panel von unabhängigen UN-Experten, angeführt von Francesca Albanese, der UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, warnte am 16. November 2023, schwere Verstöße Israels gegen Palästinenser nach dem 7. Oktober im Gazastreifen deuteten auf einen sich in der Entstehung befindenden Völkermord hin.

Völkermord?

Es heißt, es gebe Belege für die zunehmende Aufstachelung zum Völkermord und die offensichtliche Absicht, „das palästinensische Volk unter der Besatzung zu zerstören“. „Wir sind zutiefst beunruhigt darüber, dass es den Regierungen nicht gelungen ist, unserem Aufruf Folge zu leisten und einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen“, schreiben die Experten. Auch seien sie „zutiefst besorgt über die Unterstützung bestimmter Regierungen für Israels Strategie der Kriegsführung gegen die belagerte Bevölkerung von Gaza und über das Versagen des internationalen Systems, sich zu mobilisieren, um einen Völkermord zu verhindern“.

Was sagt die UN sonst noch?

UN-Zählungen zeigen laut einem Artikel von Lauren Leatherby in der New York Times vom 25. November 2023, dass seit Beginn des israelischen Angriffs im Gazastreifen mehr Kinder getötet worden sind als in den größten Konfliktgebieten der Welt, die insgesamt zwei Dutzend Länder inklusive der Ukraine beinhalteten, im gesamten Jahr 2022 zusammengenommen.

Am 11. Januar 2024 trug Südafrika beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag seine Argumente vor, dass Israel in Gaza gegen die Palästinenser einen Völkermord verübe. Südafrika beantragte beim obersten UN-Gericht einstweilige Maßnahmen, um Israels Militärkampagne zu stoppen. Am 26. Januar 2024 verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag, dass er es für plausibel halte, dass die Aktionen Israels im Gazastreifen einem Völkermord gleichkommen könnten. Dennoch geht Israels Militärkampagne unvermindert weiter.

Das Thema Israel und Palästina ist voller Konflikte. Man kann es kaum diskutieren, ohne irgendeine Seite in Aufregung zu versetzen. Wie sieht die vorherrschende Politik, wie sieht die vorherrschende Berichterstattung aus?

Ich sehe die westliche Politik in der Verantwortung, was in den Medien wiederum nicht genug zur Geltung kommt: Die USA und Deutschland sind die größten Waffenexporteure an Israel und haben ihre Lieferungen seit dem 7. Oktober 2023 erhöht. Die USA und die EU könnten heute mit diplomatischen Mitteln Israel dazu bewegen, seine Angriffe zu stoppen. Denn Israels Kriegsführung ist auf die US-amerikanischen und deutschen Waffenlieferungen angewiesen. Aber Deutschland und die USA haben im Dezember 2023 noch nicht einmal für einen von der Mehrzahl der Welt geforderten Waffenstillstand in der UN-Generalsversammlung gestimmt.

Die Medien berichten intensiv über die Geschehnisse in Israel und im Gazastreifen, wobei laut einer Studie der Nachrichtenplattform The Intercept israelische Narrative hervorgehoben werden. Auch schenkten die Medien laut der Studie den beispiellosen Auswirkungen der israelischen Belagerung und Bombenangriffe auf Kinder und Journalisten im Gazastreifen kaum Beachtung. So werde über israelische getötete Zivilisten mit deutlich höherer Intensität und Emotionalität berichtet als über die getöteten Palästinenser.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), António Guterres, stellte die Geschehnisse in einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat bereits am 24. Oktober 2023 in einen historischen Kontext. Es sei wichtig, so Guterres, zu erkennen, dass die Terrorangriffe der Hamas nicht in einem Vakuum stattfanden. Was meint er damit? Das palästinensische Volk sei 56 Jahre lang einer erstickenden Besatzung ausgesetzt gewesen, sagt Guterres. Die Palästinenser hätten miterlebt, wie ihr Land ständig durch Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht worden sei. Ihre Wirtschaft sei zum Stillstand gekommen, ihre Landsleute seien vertrieben und ihre Häuser zerstört worden, so Guterres weiter. Im medialen Framing wird dieser Kontext größtenteils ausgeblendet.

Titelbild: Kastoluza / Shutterstock