„Der Westen bekämpft Russland, als ob es keine Atomwaffen hätte“ – Interview mit Dmitri Trenin

„Der Westen bekämpft Russland, als ob es keine Atomwaffen hätte“ – Interview mit Dmitri Trenin

„Der Westen bekämpft Russland, als ob es keine Atomwaffen hätte“ – Interview mit Dmitri Trenin

Ein Artikel von Éva Péli

Vor Kurzem hat der renommierte russische Politikwissenschaftler Dmitri Trenin in einem Artikel geschrieben, dass das erste Mal seit 1945 der Westen aufgehört habe, sich vor Russland zu fürchten. Ein Angstdefizit kann laut dem ehemaligen Leiter des Carnegie-Instituts Moscow tödlich sein und muss daher überwunden werden, bevor es zu spät ist. Nach der Auflösung des Instituts 2022 ist Trenin im Gegensatz zu mehreren Kollegen in Russland geblieben. Seine im Artikel geäußerten Ansichten, die in mehreren Punkten Gemeinsamkeiten mit seinem Kollegen Sergej Karaganow zeigen, werfen für Europäer schmerzhafte und quälende Fragen auf: Wie sieht ein russischer Experte die Kriegstreiberei des Westens gegen Russland? Wie sind wir so weit gekommen? Was bedeutet diese Konfrontation für Russland? Wie schätzt er die Position Ungarns in diesem Konflikt ein? Und warum sollte man dem Westen das Fürchten beibringen? Das Interview mit Dmitri Trenin hat Éva Péli geführt und aus dem Russischen übersetzt.

Éva Péli: Sie schreiben in einem aktuellen Beitrag, dass sich in der EU eine „mächtige Kampagne zur Vorbereitung auf einen Krieg mit Russland“ entfaltet hat. Warum ist dies geschehen, und was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Dmitri Trenin: Die Kampagne zur Vorbereitung auf einen Krieg mit Russland hat viele Gründe. Zunächst einmal ist es die Enttäuschung über das Scheitern der ukrainischen Offensive 2023, die zu einer Niederlage Russlands führen sollte. Stattdessen ist es zu einer Wende im Krieg gekommen. Die Initiative hat sich auf die russische Armee verlagert. Die Aussicht auf einen russischen militärischen Sieg – und gleichzeitig eine geopolitische Niederlage für den Westen – wurde real. Währenddessen bekamen die Europäer Angst vor Donald Trumps möglichem Einzug ins Weiße Haus. Darüber hinaus hat die Position der Republikanischen Partei in den USA bereits dazu geführt, dass Washington seine Unterstützung für Kiew einschränkt.

Vor dem Hintergrund der russischen Erfolge auf dem Schlachtfeld und der allmählichen Verlagerung der Aufmerksamkeit der USA auf Asien/China hat Europa also begonnen, sich mehr Gedanken über die Nachhaltigkeit der wichtigsten atlantischen Institutionen – NATO und EU – zu machen. Da sind auch noch die europäischen Waffenhersteller. Natürlich wollen sie in Vorbereitung auf einen großen Krieg Geld verdienen.

Zudem möchte Frankreich die Situation ausnutzen und die Position des „Kommandeurs von Europa“ einnehmen, um die von den USA geschaffene Lücke zu schließen. Deutschland seinerseits hat den Weg der Aufrüstung eingeschlagen, auch um seine Position in Europa zu stärken. Die EU-Führung schürt eine Kriegshysterie, um sich auf antirussischer Basis zu behaupten. „Global Britain“ hat das ewige „Great Game“ gegen Russland wieder in Gang gesetzt. (Anm. Red.: Als „The Great Game“ oder „Das Große Spiel“ wird der historische Konflikt zwischen dem Vereinigten Königreich und Russland um die Vorherrschaft in Zentralasien bezeichnet. Er dauerte von den Napoleonischen Kriegen bis zum Vertrag von Sankt Petersburg im Jahr 1907.)

Schließlich versuchen eine Reihe von Ländern an der Ostflanke der NATO beziehungsweise der EU, so die baltischen Staaten, Polen, die Tschechische Republik, Rumänien, Finnland, Schweden und andere, ihre Bedeutung im Rahmen der westlichen Bündnisse und Allianzen zu erhöhen, um zusätzliche Hilfe und Unterstützung zu erhalten.

Ist dies eine Rückkehr zur Konfrontation wie im Kalten Krieg vor 1989? Wenn es Unterschiede gibt: Was ist daran neu?

Anders als in der Zeit des Kalten Krieges ist die Angst des Westens vor den Folgen seines Handelns heute deutlich geringer geworden. Ein Beispiel dafür ist Emmanuel Macrons Äußerung über die mögliche Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine. Die Ideologie des liberalen Globalismus hat Pragmatismus und Realismus besiegt. Das ist gefährlich für die Welt. Hinzu kommt, dass der Liberalismus in vielen Fällen totalitäre Züge annimmt.

Die Qualität der europäischen Eliten im Allgemeinen und der Staatsoberhäupter im Besonderen (siehe Großbritannien, Frankreich, Deutschland) ist viel geringer als während des Kalten Krieges. Die (falsche und gefährliche) Vorstellung, Russland könne in einem konventionellen Krieg besiegt werden, hat sich unter den westlichen Eliten verbreitet.

Sie schreiben über die „eigenen Gründe“ der Europäer für die Konfrontation mit Russland. Welche sind das?

Es gibt viele solcher Gründe. Hier sind einige von ihnen:

  1. Die Enttäuschung darüber, dass es nicht gelungen ist, das postsowjetische Russland zu einem gehorsamen Objekt der europäischen Politik zu machen.
  2. Die tief verwurzelte Haltung der europäischen Eliten gegenüber Russland als einem barbarischen Land, einem Emporkömmling und etwas „anderem“, was „Europa“ feindlich gegenübersteht.
  3. Alte Ängste vor einem riesigen konservativen Imperium, das sich „über Europa erhebt“, später vor einem radikalen kommunistischen Riesen. Die erste Angst ist charakteristisch für die europäische Linke, die zweite für die europäische Rechte. In beiden Fällen spielt die Größe („die Größe Russlands“) eine Rolle. Früher sagte man „Barbaren vor dem Tor“, heute spricht man von „Dschungeln, die den Garten bedrohen“. Die Bedeutung ist jedoch dieselbe.
  4. „The Great Game“ der Briten gegen Russland, das sie im 20. Jahrhundert verloren haben, wird in Form einer Neuauflage entlang der gesamten russischen Grenzen – unter anderem Ukraine, Kaukasus, Baltikum, Zentralasien – wieder aufgenommen.
  5. Die französische kulturelle und Werte-Arroganz. Frankreichs Anspruch auf die Rolle der „europäischen USA“.
  6. Die traditionelle deutsche Verachtung für Slawen und insbesondere Russen. Dazu kommt ein unterschwelliger – wenn auch nie anerkannter – Wunsch nach „moralischer Rache“ für den Zweiten Weltkrieg.
  7. Historische Missstände bei den Polen – wegen der Teilung Polens – und auch bei den Tschechen wegen 1968, bei den Finnen aufgrund der 40 Jahre andauernden „Finnlandisierung“ während des Kalten Krieges. Die Balten haben ihre Identität ganz auf der Idee aufgebaut, dass sie Opfer des „bösen Russlands“ sind.

Sie sind der Meinung, dass die NATO auf einen langwierigen Krieg setzt, der Russland entscheidend schwächen könnte. Die Sowjetunion hat in Afghanistan ein ähnliches Schicksal erlitten. Wie sehen Sie diese Parallelen?

Ein langwieriger Krieg ist nicht in Russlands Interesse. Die gemeinsamen Ressourcen des Westens sind größer als die von Russland. Daher könnte Russland in eine Lage geraten, in der es entweder gemäß seiner Militärdoktrin Atomwaffen einsetzen oder mit schlimmen Folgen für das Land kapitulieren muss. Putin hat einmal gesagt: „Wozu brauchen wir Frieden, wenn es Russland nicht mehr geben wird?“ Ich persönlich nehme das ernst. Russland muss also den Krieg gewinnen, der für das Land buchstäblich existenziell ist. Aber ein russischer Sieg in der Ukraine wird kein Anfang für einen weiteren Vorstoß nach Westen sein. Diejenigen, die das behaupten, haben keine Beweise und machen den Menschen nur Angst. Afghanistan war für die UdSSR ein Krieg an der Peripherie. Die Ukraine ist jedoch nicht nur ein strategisch zentraler Krieg für Russland, sondern auch ein Bürgerkrieg, der sich innerhalb derselben Gesellschaft abspielt.

Sie warnen, dass Russland eine Niederlage droht, wenn es seine Ziele in der Ukraine nicht erreicht. Welche sind das?

Wenn Russland seine erklärten Ziele in der Ukraine nicht erreicht, wird das für viele in Russland mehr als eine Enttäuschung sein. Es werden sich viele Fragen nach den Gründen für das Scheitern stellen und danach, wer für die sinnlosen Opfer zur Rechenschaft gezogen wird. Es wird ein schwerer Schlag für das Ansehen der Führung des Landes sein. Die wachsende Unzufriedenheit von unten könnte von einem Taumeln der Spitze begleitet sein. Externe Kräfte werden die Situation weiter beeinflussen und versuchen, Chaos in der Russischen Föderation und einen sogenannten Regimewechsel im Land herbeizuführen. Eine solche Aussicht ist ein starker Anreiz für Russland, einen überzeugenden Sieg in der Ukraine anzustreben und zu erreichen.

Sie schreiben auch, dass die Staats- und Regierungschefs (West-)Europas zum ersten Mal seit 1945 die russischen Atomwaffen nicht mehr fürchten. Lange Zeit sagten Beobachter wie der ehemalige DDR-Geheimdienstchef Werner Großmann: „Wenn Russland keine Atomwaffen hätte, gäbe es wieder Krieg.“ Warum ist das nicht mehr der Fall?

Im Westen, erstaunlicherweise einschließlich Europa, ist die Angst vor Atomwaffen in den letzten Jahrzehnten fast völlig verschwunden. Es wird angenommen, dass es keine Ziele und keine Opfer gibt, die den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen würden – und daher können konventionelle Waffen ohne Einschränkung eingesetzt werden. Die USA sind zu dem Schluss gekommen, dass Russland eher kapitulieren würde als einen Atomschlag zu führen. Dadurch werden die NATO-Länder entfesselt und alle „roten Linien“ weggewischt. Der Westen bekämpft Russland, als ob es keine Atomwaffen hätte. Die USA werden offenbar keinen Atomschlag gegen Russland führen, eine massive Invasion starten und russisches Gebiet besetzen. Aber ihre Strategie zielt darauf ab, Russland in der Ukraine eine strategische Niederlage beizubringen, nach der in Russland selbst Chaos ausbrechen könnte.

All diese Berechnungen sind äußerst gefährlich. Russland wird auf keinen Fall verlieren, geschweige denn kapitulieren. Es ist durchaus in der Lage zu gewinnen. Die ständige Eskalation des Krieges durch die NATO-Staaten erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass Moskau seine von Anfang an an den Tag gelegte Zurückhaltung aufgibt und zu Schlägen gegen Ziele in den Gebieten der am aktivsten am Krieg beteiligten NATO-Staaten übergeht.

Einige denken, der Westen sei im Niedergang begriffen und deshalb sehr wütend. Der französische Soziologe Emmanuel Todd meint, dass der Westen einen „bizarr aggressiven Weg“ eingeschlagen hat. Im Gegensatz dazu warnen Sie, dass das Potenzial des Westens, einschließlich Europas, immer noch sehr groß ist. Wie rechtfertigen Sie dies?

Ich sehe keinen Widerspruch zwischen den Krisenerscheinungen in den Ländern des Westens, dem Rückgang seines Einflusses in der Welt einerseits und der zunehmenden Aggressivität der westlichen Politik andererseits. Im Gegenteil, der Westen handelt in einer schwierigen Situation hart, aggressiv und zunehmend riskant. Was die Fähigkeiten der westlichen Länder angeht, so sind sie immer noch sehr bedeutend. Die weltweiten Finanzen und die Logistik, die Informationsressourcen und die militärische Macht werden weitgehend von den USA und ihren Verbündeten kontrolliert. Der Gegner sollte niemals unterschätzt werden.

Die Kombination aus großem Potenzial, einem ausgeprägten Bedrohungsgefühl und einer besonderen Aggressivität ist also ein gefährlicher Cocktail. Russland muss angesichts eines solchen Gegners Wege finden, seine eigenen Ressourcen möglichst effektiv zu mobilisieren und erfolgreich mit Partnerländern zusammenzuarbeiten.

Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass Europa und der Westen als Ganzes so geschlossen wie nie zuvor gegen Russland auftreten?

Die antirussische Einigkeit der westlichen Länder ist ein Erfolg der US-amerikanischen Strategie. Ab Mitte der 2000er-Jahre, unmittelbar nach der US-amerikanischen Aggression gegen den Irak, begann Washington, die europäischen Eliten von „Dissidenten“, die sich der US-Politik widersetzten, zu „säubern“. Infolgedessen wurden die Nachfolger von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Jaques Chirac sehr viel mehr zu proamerikanischen Politikern.

Später, als Folge der Sondereinsätze der USA und ihrer Verbündeten, wurden die Personen neutralisiert, die einen unabhängigen Kurs verfolgten: Dominique Strauss-Kahn in Frankreich, Vizekanzler Heinz-Christian Strache in Österreich und der stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini in Italien. Pro-US-amerikanische Medien in europäischen Ländern, vor allem in Großbritannien, Deutschland und Frankreich, schufen eine Situation, in der jeder Versuch einer objektiven Annäherung an Russland durch die sogenannten Russland- beziehungsweise Putin-Versteher als Abkehr von der liberalen Ideologie und de facto als Verrat an Idealen und Werten angesehen wurde. Ab etwa 2006 begann die regelrechte Dämonisierung Russlands und Putins persönlich. Diejenigen, die sich dieser Gehirnwäsche nicht unterwarfen, wurden aus der „anständigen Gesellschaft“ ausgeschlossen. 20 Jahre später haben die USA das Ergebnis erreicht, das sie anstrebten.

Budapest scheint sich wiederholt gegen den antirussischen Kurs der EU und der NATO zu stellen. Sie sehen die ungarische Politik als rein taktisch und auf die eigenen Interessen ausgerichtet. Wie begründen Sie das?

Ungarn ist Mitglied der NATO und der EU. Die Ungarn haben ihre eigenen Erinnerungen an die historischen Beziehungen zu Russland. Die Position Budapests in Bezug auf Russland ist keineswegs prorussisch. Die ungarische Führung mit Ministerpräsident Viktor Orbán an der Spitze handelt auf der Grundlage der ungarischen nationalen Interessen. Sie ist grundsätzlich gegen den Druck der liberalen Globalisten aus den USA und Europa. Eine solche Konfrontation erfordert eine Menge Mut. Gleichzeitig ist Orbán ein gewiefter Politiker und ein pragmatischer Staatsmann. Er versteht, bis zu welchen Grenzen der Widerstand eines kleinen Landes gegen mächtige externe Kräfte Früchte tragen kann und wo für Budapest unsichtbare „rote Linien“ gezogen werden. Auf dieser Grundlage gelingt es Ministerpräsident Orbán, das Maximum für sein Land aus der Situation „herauszuholen“.

Welche Chancen sehen Sie für Russland im Zusammenhang mit der antirussischen Haltung des Westens?

Die antirussische Haltung des kollektiven Westens schafft an sich keine Chancen für Russland. Sie schafft Probleme. Die Notwendigkeit, sich dem Westen zu widersetzen, mobilisiert gleichzeitig Russland von innen heraus. Das zwingt die Russen, sich auf ihren Verstand und ihre eigene Arbeitskraft zu verlassen und wegzukommen von der Einstellung, dass, wenn ein Land über Öl und Gas verfügt, alles andere im Ausland gekauft werden kann. Der Bruch mit dem Westen stellte Russland vor grundlegende Fragen in den Bereichen Wirtschaft, Politik, Ideologie und Werte. Die Antwort darauf war die These von einer eigenständigen russischen Zivilisation, die allmählich Gestalt annimmt. Dies ist ein Wandel von kolossalem Ausmaß. Nicht nur die Haltungen der letzten 35 Jahre, beginnend mit Michail Gorbatschows Perestroika, sondern auch die Haltungen der letzten 300 Jahre, beginnend mit Peter dem Großen, werden einer Revision unterzogen.

Wenn diese Bemühungen fruchtbar sind, wird sich Russland schließlich von einer peripheren Provinz im westlichen Weltsystem in eines der Zentren einer neuen Weltstruktur verwandeln, in der chinesische, indische, islamische, afrikanische und andere Zivilisationen, einschließlich der westlichen und der russischen, gleichberechtigt koexistieren und interagieren werden.

Trotz der wachsenden Konfrontation ist aus Ihrer Sicht Krieg zwischen dem Westen und Russland vermeidbar. Sie sehen aber gleichzeitig die Gefahr eines „katastrophalen Frontalzusammenstoßes“. Was meinen Sie damit?

Es gibt in der Geschichte nichts vollkommen Unvermeidliches, außer dass jeder Mensch sterblich ist (manchmal, wie Michail Bulgakow warnte, plötzlich). Die gegnerischen Kräfte haben die Möglichkeit anzuhalten, zu verhandeln. In einer bestimmten Situation zwischen Russland und dem Westen sollte man sich darüber im Klaren sein, was für jede Seite auf dem Spiel steht. Für die USA geht es um ihr Prestige, ihre globalen Ambitionen und die Beziehungen zu ihren Verbündeten. Für Russland geht es um die Existenz des Staates selbst. Ich erinnere nochmal an Putins Worte aus einem früheren Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehen: „Wozu brauchen wir Frieden, wenn es Russland nicht mehr geben wird?“ Ich persönlich nehme das ernst.

Sie fordern, die Eskalationsspirale des Westens zu durchbrechen, unter anderem, indem die propagierte Angst des Westens vor einem russischen Sieg in eine echte verwandelt wird, die andere Seite einzuschüchtern – durch die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen, durch die Wiederaufnahme der Kernwaffentests. Das klingt ähnlich wie der Vorschlag von Sergej Karaganow vom Juni 2023, mit präventiven Nuklearschlägen gegen westliche Ziele dem Westen die Grenzen aufzuzeigen. Haben Sie sich ihm angenähert oder gibt es da entscheidende Unterschiede?

Bereits im Frühherbst 2022 habe ich in der Fernsehsendung Internationale Rundschau (Международное обозрение) von Fjodor Lukjanow über den Faktor Angst als wichtigste Komponente der gegenseitigen Abschreckung im Atomzeitalter gesprochen. Seitdem habe ich meine Position nicht nur nicht geändert, sondern zunehmend davor gewarnt, dass das derzeitige Angstdefizit in den USA und insbesondere in Europa die Welt in eine Katastrophe führen könnte. Die Eskalationsschritte des Westens haben uns in den letzten zwei Jahren deutlich näher an den Abgrund gebracht. Die Situation ist sehr gefährlich. Sie können meine Veröffentlichungen der letzten anderthalb oder zwei Jahre mit den Artikeln meines Kollegen und Freundes Sergej Karaganow vergleichen und die entsprechenden Schlüsse daraus ziehen.

Warum gibt es Ihrer Meinung nach nur Frieden zwischen den Großmächten, wenn die Angst voreinander groß genug ist? Ist Angst eine gute Grundlage für Frieden?

Ich halte Angst nicht für eine „gute“ Grundlage für den Frieden. Die Geschichte der internationalen Beziehungen, insbesondere der letzten 80 Jahre, zeigt jedoch, dass die Großmächte, sofern sie nicht in einem stabilen Bündnis oder einer Partnerschaft miteinander stehen, gezwungen sind, ihre Sicherheit auf die Fähigkeit zu gründen, entweder einen potenziellen Gegner am Sieg zu hindern oder ihn zu vernichten, selbst um den Preis ihrer eigenen Zerstörung. Es gibt natürlich noch einen dritten Weg: Kapitulation mit anschließender Unterwerfung oder Selbstauflösung. Für Russland ist dieser Weg inakzeptabel. Angst ist also eine schlechte Grundlage, aber die Alternative zum Gleichgewicht durch Angst bedeutet entweder die allgemeine Vernichtung oder die Selbstliquidierung eines der Rivalen.

Noch eine Frage zu Russland: Präsident Wladimir Putin warnt den Westen klar vor den Folgen des Konfrontationskurses und sagt auch, Russland wolle die NATO nicht angreifen. Er lehnt auch Karaganows Vorschlag ab. Für viele im Westen steht Putin immer noch für die Vernunft auf der globalen Bühne. Was passiert, wenn er abtritt?

Präsident Putin wird nach seinem Wahlsieg 2024 noch mindestens sechs weitere Jahre an der Spitze Russlands stehen. Das Problem der Nachfolge an der Macht ist eines der schwierigsten und potenziell gefährlichsten im russischen politischen System. Weder Lenin, Stalin noch andere sowjetische Machthaber waren in der Lage, dieses Problem zu lösen. Die einzige Ausnahme ist Boris Jelzin, der die Geschicke des Landes an Putin übergeben hat.

Ich bin sicher, dass das Problem der Nachfolge Putin beschäftigt. Ich denke, er arbeitet daran, aber er wird dem Land und der Welt wohl kaum einen Nachfolger präsentieren, bevor er selbst bereit ist, ihm die Macht zu übergeben. Putin hat soeben ein noch größeres Problem aufgeworfen: die Bildung einer neuen Elite, einer Dienstleistungselite, die an die Stelle der Geldelite der postsowjetischen Ära treten soll, die auf ihre eigenen egoistischen Interessen ausgerichtet ist. Meiner Meinung nach tragen die Transformationsprozesse, die derzeit in Russland stattfinden, dazu bei, dass sich die Qualität der obersten Führungsschicht des Landes im Vergleich zu der vor 25 oder 35 Jahren verbessert.

Titelbild: Dmitri Trenin trägt sich in das Gästebuch des Obersten Alliierten Befehlshabers Europas, General John Craddock, im Rahmen eines Empfangs am Abend des 15. Juni 2009 in dessen Residenz Chateau Gendebien in der Nähe von Mons, Belgien, ein – Fotoquelle: Staff Sgt. James Hennessey, gemeinfrei.