Der britisch-palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta darf nicht nach Frankreich einreisen

Der britisch-palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta darf nicht nach Frankreich einreisen

Der britisch-palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta darf nicht nach Frankreich einreisen

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Nach Deutschland haben auch die französischen Grenzbehörden dem Chirurgen die Einreise verweigert. Abu Sitta war auf Einladung des französischen Senats am frühen Samstagmorgen (4. Mai 2024) auf dem Flughafen Charles De Gaulles (CDG) in Paris gelandet, um vor dem Gremium über seine Erfahrungen als Arzt im jüngsten Gaza-Krieg zu berichten. Von Karin Leukefeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der erfahrene Arzt hatte im Oktober/November 2023 43 Tage lang in Gaza gearbeitet und war von Abgeordneten der französischen Grünen eingeladen worden, unter dem Thema „Das Völkerrecht und der Krieg in Gaza“ Zeugnis abzulegen. Eingeladen waren Mediziner, Journalisten und Völkerrechtler mit Arbeitserfahrungen in Gaza.

Über X (vormals Twitter) teilte Abu Sitta vom Flughafen CDG mit, er dürfe nicht einreisen, weil die deutsche Regierung ihm für ein Jahr ein Einreiseverbot nach Europa in den Schengen-Raum erteilt habe. Er werde in einem Wartebereich festgehalten und solle deportiert werden. Die Grünen-Senatorin Raymonde Poncet Monge, die den Arzt eingeladen hatte, bezeichnete den Vorgang als „Schande“.

Vergeblich protestierten die grünen Senatoren bei Außen- und Innenministerium in Paris, niemand reagierte. Eingeschaltete Anwälte konnten den Grünen schließlich einen Link übermitteln, mit dem Dr. Ghassan per Video zu dem Symposium zugeschaltet werden konnte.

Die Nachrichtenagentur AP erfuhr von einem namentlich nicht genannten „französischen Beamten“, das Einreiseverbot gehe auf eine Anordnung Deutschlands zurück. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sagte der „Beamte“, Berlin habe beantragt, dass Abu Sitta für mindestens ein Jahr in kein Land des Schengen-Bereichs einreisen dürfe.

„Wie kann Deutschland im gesamten Schengen-Raum Einreiseverbote verhängen?“, reagierte Raymonde Poncet Monge gegenüber Le Monde auf die Anordnung. Mathilde Panot, Abgeordnete der Französischen Nationalversammlung, schrieb auf X (vormals Twitter):

„Macrons Frankreich ist eine Schande für uns. Ghassan Abu Sitta MUSS nach Frankreich kommen und Zeugnis von den Gräueln ablegen können, die er in Gaza gesehen und erlebt hat“.

Die französische Tageszeitung Liberation ging dem Einreiseverbot ausführlich nach und berichtete noch am gleichen Tag, dass die Mitgliedsstaaten der Schengen-Vereinbarung Personen, die aus einem dritten Staat kommen, die Einreise in den Schengen-Raum verweigern könnten.

Möglich sei das laut Schengener Einreisekodex, wenn sie eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines der Mitgliedstaaten“ darstellen. Zudem müsse eine „Ausschreibung zur Einreiseverweigerung“ in den nationalen Datenbanken der Mitgliedsstaaten vorliegen.

Der „ausschreibende Mitgliedsstaat“ – in diesem Fall Deutschland – müsse Informationen wie Identität, Fingerabdrücke, besondere körperliche Merkmale und die Gründe für die Ausschreibung in der Datenbank mitteilen. „Gemäß der EU-Verordnung über dieses Informationssystem wird die Entscheidung über die Ausschreibung „von den zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichten […] auf der Grundlage einer individuellen Bewertung getroffen“, so Liberation.

Aus französischen Regierungskreisen sei der Zeitung mitgeteilt worden, man habe aufgrund des deutschen Einreiseverbots in das europäische Hoheitsgebiet „keinen Handlungsspielraum gehabt“. Die Grenzbehörden hätten lediglich „das europäische Recht und den Schengen-Grenzkodex angewendet“.

Nach „eigenen Informationen“ habe Liberation zudem erfahren, dass Ghassan Abu Sitta von Deutschland „wegen Verherrlichung des Terrorismus, Radikalisierung und Antisemitismus zur Einreise in den Schengen-Raum für ein Jahr ausgeschrieben“ worden sei. Man habe beim deutschen Außen- und Innenministerium in Berlin nachgefragt und sei „an die deutsche Polizei weitergeleitet“ worden. Eine Antwort läge zu dem Zeitpunkt nicht vor.

Die Berliner Tageszeitung taz schrieb unter Verweis auf namentlich nicht genannte „Kritiker“, der Arzt stehe der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) nahe, die in der EU seit 2023 als „Terrororganisation“ gelistet sei. Er habe auf der Beerdigung eines verstorbenen PFLP-Gründers gesprochen.

Am 12. April 2024 war Ghassan Abu Sitta am Berliner Flughafen die Einreise verweigert worden, als er an der später verbotenen und aufgelösten Palästina-Konferenz teilnehmen wollte.

Die Diffamierung

Die Gründe des Einreiseverbots waren damals von deutschen Behörden laut AFP unter Berufung auf „deutsche Sicherheitsbehörden“ ausgesprochen worden, „um antisemitische und antiisraelische Propaganda auf der Veranstaltung zu verhindern“. Ghassan Abu Sitta allerdings war bei stundenlangen Verhören mitgeteilt worden, er dürfe aus Gründen der „Sicherheit der Konferenzteilnehmer und der öffentlichen Ordnung“ nicht einreisen. Auch eine Videoschaltung zu dem Berliner Kongress – selbst aus dem Ausland – sei ihm bei Androhung von Strafe untersagt worden. Auch dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis (DIEM25), der ebenfalls auf der Palästina-Konferenz sprechen sollte, war die Einreise verweigert worden. Sowohl Varoufakis als auch Abu Sitta wehren sich rechtlich gegen die Einreiseverbote.

Hintergrund der Einreiseverbote gegen Ghassan Abu Sitta dürften die engen deutsch-israelischen Beziehungen sein, die nicht nur in der „deutschen Staatsräson“ und in Form von Waffenlieferungen, sondern auch in zahlreichen Initiativen und Organisationen deutlich werden. Wenige Tage vor dem Palästina-Kongress in Berlin (12. April 2024) hatte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, im Berliner Sender Antenne Brandenburg RBB (ARD) ein Einreiseverbot für Salman Abu Sitta gefordert, einen international bekannten Ingenieur, Autor, Historiker und Anwalt für die Sache der Palästinenser. Salman Abu Sitta ist ein Onkel von Ghassan Abu Sitta und wurde 1948 aus seiner palästinensischen Heimat im Zuge der Nakba (Katastrophe) vertrieben.

Felix Klein begründete sein Ansinnen mit einer angeblichen Aussage des 86-Jährigen, wonach er „an dem Überfall der Hamas teilgenommen hätte, wenn er jünger gewesen wäre“. Tatsächlich hatte Abu Sitta auf seinem Blog geschrieben: „Ja, ich hätte einer derjenigen sein können, die durch den Zaun brachen, wenn ich noch jünger wäre und immer noch im Konzentrationslager Gazastreifen leben müsste”, wie Helga Baumgarten in ihrer Würdigung Salman Abu Sittas auf den NachDenkSeiten klarstellt. Und zur Verwendung des Begriffs „Konzentrationslager“ erklärte er, die Palästinenser seien nicht nur 1948 vertrieben und zu Flüchtlingen gemacht worden: „Sie wurden immer wieder in ihren Lagern im Exil angegriffen: 1953, 1956, 1967, 1971 und 1987, seit 2006 schließlich und bis heute mit grausamer Regelmäßigkeit.“

Klein forderte in dem RBB-Gespräch auch, die Gemeinnützigkeit des in Berlin ansässigen Vereins „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost” zu überprüfen, der den Palästina-Kongress mit vorbereitet hatte. In vorauseilendem Gehorsam hatte die Berliner Sparkasse dem Verein bereits am 25. März 2024 das Konto gesperrt, wie Michaela Reisin, Mitbegründerin der „Jüdischen Stimme“, auf dem Berliner Ostermarsch am 1. April mitteilte.

Der Antisemitismusbeauftragte hatte in dem RBB-Gespräch erklärt, die „Jüdische Stimme“ verbreite „antisemitische und israelfeindliche Narrative“ und gehöre zu einem „israelfeindlichen Boykottspektrum“. Gemeint ist die internationale Kampagne zum Boykott Israels, die „inspiriert vom Kampf der SüdafrikanerInnen gegen die Apartheid“ im Juli 2005 gestartet wurde. Die von 170 palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen getragene Kampagne ruft zu „Boykott, Desinvestition und Sanktion gegen Israel auf, bis das Land internationalem Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte nachkommt“. Der Aufruf sei eine „Antwort auf das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, die den Völker- und Menschenrechtsverletzungen durch Israel tatenlos zusieht, so dass sie weiterhin straflos bleiben“.

Anhaltende Straffreiheit

„Die Festung Europa bringt Zeugen zum Schweigen, während Israel sein Vorgehen straffrei fortsetzen kann“, kommentierte Ghassan Abu Sitta das von Deutschland initiierte Einreiseverbot, als er auf dem Flughafen CDG in Paris gestoppt wurde. Der Arzt verfügt über drei Jahrzehnte Erfahrungen und ist seit Anfang des Jahres Rektor der Universität von Glasgow, wo er selbst auch studiert hat. Er arbeitete in freiwilligen Einsätzen in zwölf Krisen- und Konfliktgebieten im Mittleren Osten, wo er örtliche Kliniken und Ärzte unterstützte.

Nach seiner Rückkehr aus dem Gaza-Krieg Ende 2023 legte er bei der britischen Polizei Zeugnis über das von ihm Erlebte in den Krankenhäusern Al Shifa und Al Ahli ab. Er beschrieb die Todesursachen, die Art der Waffen, die eingesetzt wurden, und legte auch beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag Zeugnis ab. Dort läuft aktuell ein Verfahren von Südafrika gegen Israel wegen des Verdachts auf einen Völkermord an den Palästinensern und Kriegsverbrechen. Das Gericht wird auch die Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen möglicher Unterstützung Israels in dem Krieg durch Waffenlieferungen behandeln. Eine Eilentscheidung in der Sache hatte das Gericht allerdings abgelehnt.

Die Zahl der durch den Krieg seit dem 7. Oktober 2023 getöteten Palästinenser wird von den palästinensischen Behörden im Gazastreifen mit 34.654 angegeben, 77.908 Personen wurden verletzt. Diese Zahlen steigen täglich. Mehr als 7.000 Menschen werden unter den Trümmern vermisst. Zwei Drittel der Toten sind Kinder und Frauen. Im Norden des Gazastreifens herrscht nach Angaben des Welternährungsprogramms eine Hungersnot. (Quellen: npr.org, reuters.com)

Der Krieg geht weiter

Am vergangenen Wochenende (4. Mai 2024) wurden die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas in Kairo abgebrochen. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte erklärt, Israel werde mit und ohne Verhandlungsergebnis die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens angreifen. Die Armeeführung hat den Plan genehmigt.

Am Sonntag (5. Mai 2024) wurde der Nachrichtensender Al Jazeera in Israel und den von Israel kontrollierten besetzten palästinensischen Gebieten abgeschaltet.

Bei einem Angriff aus dem südlichen Gazastreifen (Sonntag, 5. Mai 2024) auf einen Stützpunkt der israelischen Armee unweit des Grenzübergangs Kerem Shalom hat Israel die Abfertigung von Hilfstransporten über den Grenzübergang gestoppt und den Durchgang geschlossen.

Am Montagmorgen (6. Mai 2024) warf die israelische Armee (IDF) Flugblätter über Rafah ab und forderte die Bevölkerung auf, den Osten der Stadt zu verlassen, da ein IDF-Angriff bevorstehe. Die Menschen sollten sich in eine Zeltstadt an der Küste begeben, wo sie mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgt würden.

Titelbild: Screenshot CNN