„Ihr seid es ja, die ihr im Krieg sterben werdet, ihr seid die Opfer. Verhindert das!“

„Ihr seid es ja, die ihr im Krieg sterben werdet, ihr seid die Opfer. Verhindert das!“

„Ihr seid es ja, die ihr im Krieg sterben werdet, ihr seid die Opfer. Verhindert das!“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Frieden in Europa ist nur mit dem größten Land der Erde möglich. Eine europäische Friedenspolitik ohne Russland ist undenkbar.“ Das sagt Reiner Braun im Interview mit den NachDenkSeiten. Die Politik der Ampel stehe aber dieser Erkenntnis entgegen, so Braun, der sich seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung engagiert. Anlass des Interviews ist eine aktuelle Friedensinitiative zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung. Die Initiative fordert: „Schluss mit der Dämonisierung Russlands – Diplomatie statt Waffenlieferungen – Rückkehr zu einer Politik der Entspannung und gleichen Sicherheit“. Ein Interview von Marcus Klöckner über den Umgang mit Russland und die Abgründe der aktuellen Politik der Aufrüstung. „Friedenspolitik von oben ist einer bedingungslosen Kriegspolitik gewichen“, sagt Braun.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Gerade hat ein FAZ-Redakteur einen Beitrag unter der Überschrift „Moskau muss geschlagen werden“ veröffentlicht. Der Tagesspiegel wollte seinen Lesern klarmachen, dass Olaf Scholz‘ „Zögern“ im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine „zum direkten Krieg mit Russland zu führen“ drohe. Ist dieser Ton der Grund für Ihre Friedensinitiative?

Reiner Braun: Die Gefahr eines großen Krieges gegen Russland, der Europa in Schutt und Asche legt, ist sicher ein Motiv. Unsere Beweggründe sind aber tiefer: Wir schämen uns, wie in diesem Land mit Russland oder besser mit den Völkern der Sowjetunion 79 Jahre nach Ende des vom Faschismus initiierten Zweiten Weltkrieges umgegangen wird. Es waren die Menschen aus den unterschiedlichen Republiken der Sowjetunion – heute eigenständige Länder –, die Deutschland unter unsäglichen Opfern von der grausamsten Diktatur befreit haben. 27 Millionen Tote Bürgerinnen und Bürger, jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Der europäische Teil der Sowjetunion war vollständig verwüstet – „verbrannte Erde“. Drei Millionen der Gefangenen verhungerten in den deutschen Konzentrationslagern. Die Liste der Grausamkeiten ließe sich fortsetzen. Muss aber wirklich noch mehr gesagt werden, um die Erinnerung an die deutsche Geschichte und ihre dauerhafte Verantwortung einzufordern, die von der Regierung verweigert wird?

Wir wollen mit der Initiative sagen: Wir haben es nicht vergessen, und wir sagen auch heute erneut und wieder: „Unser tiefster Dank gilt der Befreiung vom Faschismus, die das deutsche Volk aus eigener Kraft nicht erreicht hat.“

Worum genau geht es bei dieser Friedensinitiative?

Neben dem historischen Aspekt, an den wir gerade angesichts der zunehmenden Anti-Russland-Hetze und Verteufelungspropaganda erinnern wollen, hat unsere Initiative auch eine ganz aktuelle Aussage: Frieden in Europa ist nur mit dem größten Land der Erde möglich. Eine europäische Friedenspolitik ohne Russland ist undenkbar. Dies steht im Widerspruch zu der Politik der Ampel, ist aber von Bismarck über Rapallo bis zu den Röhrengeschäften und der Entspannungspolitik der 60er- bis 80er-Jahre die historische Wahrheit. Die Wiedervereinigung wäre ohne die friedliche Mitwirkung der Sowjetunion nicht möglich gewesen. Frieden heute, zur globalen Rettung des Planeten, geht nur mit Russland. Das schließt Differenzen und Kontroversen ein, verlangt aber ein Herangehen auf der Basis der Politik der gemeinsamen Sicherheit an die „andere Seite“. Und, so Olof Palme, die Sicherheitsinteressen des anderen sind genauso zu berücksichtigen wie die eigenen.

Mit Stolz wird dieses Jahr auf den großen Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant verwiesen – aber welche Lehre wird aus dem „Kategorischen Imperativ“ gezogen, der genau diese Sicht einfordert? In meinen Augen wurde die große Chance, eine solche Politik des gemeinsamen Hauses von Wladiwostok bis Lissabon zu realisieren, wie sie in der Charta von Paris von November 1990 angelegt war, durch die NATO-Politik insbesondere der USA zur NATO-Osterweiterung bewusst und konfrontativ zerstört.

In Ihrem Aufruf zitieren Sie Richard von Weizäcker mit einer Rede aus dem Jahr 1985. Er sagte damals am 8. Mai: „Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander“. Bei diesem Satz dürften Russlandkritiker sagen: Schön und gut, aber Russland hat doch die Ukraine überfallen! Was entgegnen Sie dem?

Seit wann ist ein Fehlverhalten der Grund, nicht mehr miteinander zu reden und zu leben? Dann hätte ja der Westen und ganz besonders die USA schon lange von dem Planeten verbannt werden müssen – oder sind über 230 Interventionskriege der USA seit 1945 demnach nicht verbannungswürdig?

Was hat Willy Brandt 1968 gesagt und getan, ausgerechnet, nachdem die Sowjetunion in der ČSSR einmarschiert ist? Gerade jetzt muss man verhandeln und gemeinsame Friedenslösungen finden. Dies war der Einsicht geschuldet, dass die Politik des Kalten Krieges keine positiven Ergebnisse gebracht hatte. Die Entspannungsverträge konnten danach vereinbart werden, besonders der mit der Sowjetunion. Es gibt also Alternativen zum Reagieren, als nur auf Waffen, Sanktionen und Konfrontation zu setzen. Das macht den Angriff Russlands nicht weniger völkerrechtswidrig, betont aber, dass es auch eine Vorgeschichte gibt, und die heißt brutale NATO-Osterweiterung gegen die Sicherheitsinteressen Russlands.

Das penetrante Negativ-Framing dieser dokumentierten Vorgeschichte als „Russlandverstehertum“ durch Politik und Medien wird von einem wachsenden Teil der Bevölkerung als Denkverbot wahrgenommen. Etwas provokativ gesagt: Ohne die NATO-Osterweiterung gegen Buchstaben und Geist des Zwei-plus-Vier-Vertrages, der Charta von Paris sowie vieler internationaler Diskussionen hätte es keinen Ukrainekrieg gegeben! Manche sprechen vom „vermeidbarsten Krieg“. Deswegen trifft den Westen eine Mitschuld an diesem Krieg. Gleichberechtigte Partnerschaft, wie sie Russland immer wieder angemahnt hat – u.a. in der Rede von Präsident Putin im Bundestag 2001, und eigentlich 20 Jahre lang vergeblich –, ist geradezu das Gegenteil. Das historische Ende von 500 Jahren Kolonialismus, wie vom Globalen Süden eingeleitet, verursacht offenbar den Wunsch, Brutalität und Ungleichheit durch NATO-Kriege fortzusetzen, hat aber keinerlei Zukunft, außer Zerstörung und Untergang, auch und ganz besonders Europas.

Von Weizäckers Aussagen war Willy Brandts Politik vorangegangen. Es gab den Kniefall von Brandt in Warschau. Und in der Regierungserklärung von 1969 hieß es: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Inneren und nach außen.“ Wo ist die Friedenspolitik heute?

Unsere Initiative ist Friedenspolitik heute, nachdem die Regierenden unter der Fahne der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft und unter der Fahne der Menschenrechte in die Kriege gezogen sind – zuerst in Jugoslawien und dann in den vielfältigen Interventionskriegen. Friedenspolitik ist einer geradezu wahnwitzigen Aufrüstungsspirale gewichen. Entspannungspolitik wurde zu NATO-Aufrüstungs- und NATO-Erweiterungspolitik. Wir fordern eine neue Friedenspolitik auf der Basis einer Politik der gemeinsamen Sicherheit. Eine Friedensarchitektur für Europa muss neu entwickelt und gestaltet werden. Angesichts der fast schon fanatischen Kriegswut der Regierenden kann dies nur eine breite Mobilisierung schaffen: von unten, von den Menschen, durch Volksdiplomatie.

Zusammenarbeit und Partnerschaften von unten müssen ein gesellschaftliches Klima der Kooperation schaffen, an dem die sogenannte große Politik nicht vorbeikann. Der entscheidende neue „Player“ für Friedenspolitik ist der „Globale Süden“. Zentral für mich ist: Ohne den „Globalen Süden“ wird es keine Wiederbelebung der Entspannungspolitik geben – wahrscheinlich nicht einmal in Europa. Friedenspolitik von oben ist einer bedingungslosen Kriegspolitik gewichen. Die Friedensbewegung muss sie erneut erstreiten – zuallererst auf der Straße, dann auch im Parlament und vor allem international vernetzt.

Kann es sein, dass zu viele Politiker und Journalisten nicht begreifen, was ein Weltkrieg bedeutet?

Meine Großeltern haben mir über die Bombennächte erzählt, und immer wieder fiel der Satz „nie wieder“. Meine Mutter verlor als Kind ihren geliebten Bruder im Krieg – ein ewiger Verlust. Die Erzählungen prägten auch mich. Ich habe heute das Gefühl, dass bei vielen diese Empathie nicht vorhanden ist und Krieg eher als Computerspiel gesehen wird. Die zerfetzten Leiber, der Wahnsinn des Schützengrabens, der hungernden Bevölkerung und der Bombe sind nicht sinnbildlich, sie sind real. Vielleicht verursacht der wahrzunehmende Verlust an Realitätssinn in Politik und Presse auch deswegen das eklatante Fehlen des Ringens um Frieden. Es bleibt richtig und sollte jedem Politiker und jedem Journalisten als „Berufseinstieg“ mitgegeben werden, was Helmut Schmidt einmal sagte: „Lieber 100 Stunden verhandeln als eine Stunde schießen!“ Wann ist diese Aussage aktueller als am 8. Mai 2024!

Am Montag hat Russland die Anordnung einer Atomübung bekannt gegeben – an der Grenze zur Ukraine. Die EU reagiert darauf mit folgenden Worten: „Das ist eine Fortsetzung des unverantwortlichen Verhaltens Russlands und ein weiterer Beweis dafür, dass der Kreml nur an einer weiteren Eskalation der Situation interessiert ist“, so ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Wie ordnen Sie diese Reaktion ein?

Alle Manöver sind unverantwortlich und tragen immer die Gefahr der Eskalation in sich, das gilt für „Steadfast Defender“ und „Quadriga“ wie für die russischen Manöver. Die Anschuldigungen gegen Russland sind hier aber eher einer durchsichtigen Kriegsrhetorik zuzuordnen. Es sind nur Krokodilstränen, wenn die NATO selbst zwei Atomwaffenmanöver durchführt und Atomeinsätze testet, neue Atomwaffen in Europa stationiert und die USA sogar wieder welche nach Großbritannien zurückbringen. Abgeschafft gehören die Atomwaffen und Manöver als ultimative Menschheitsbedrohung, und nicht zu vergessen auch aus ökologischen Gesichtspunkten.

Zum Abschluss noch zum 8. Mai. Wie beschreiben Sie diesen Tag einem jungen Bürger, der mit dem Datum vielleicht nichts anfangen kann?

Wer heute ernsthaft gegen Rechtsradikalismus demonstriert und nie wieder Faschismus will, muss sich erinnern, dass die Befreiung Deutschlands ungeheure Opfer der Alliierten und ganz besonders der Sowjetunion gefordert hat. Führt es euch vor Augen, und ihr versteht, dass dieses niemals wieder geschehen darf. Frieden ist die Ultima Ratio, und ohne Frieden ist alles nichts. Meine persönliche Bemerkung an sie ist auch: Ihr seid es ja, die ihr im Krieg sterben werdet, ihr seid die Opfer. Verhindert das! Gestaltet stattdessen die Zukunft sozial und ökologisch. Das geht aber nur ohne Militarismus und mit den Billionen, die für Rüstung verplempert werden. Eindeutig geht dies aber nur mit einer deutlich stärkeren Friedensbewegung. Beteiligt euch! Es ist vor allem eure Zukunft.

Hinweis: Die Initiative „Aufruf zum 8. Mai: Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“ findet sich unter diesem Link.

Titelbild: Von Ferran Cornellà – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0 commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=141438379