Jenseits der Grenzen des Sagbaren: Das Verhungern der Kinder in Gaza

Jenseits der Grenzen des Sagbaren: Das Verhungern der Kinder in Gaza

Jenseits der Grenzen des Sagbaren: Das Verhungern der Kinder in Gaza

Ein Artikel von Detlef Koch

Wenn staatlich organisierte Strukturen das physische und seelische Überleben einer Zivilgesellschaft zerstören, ist die Frage nicht mehr, ob es sich um einen Krieg handelt – sondern ob die Weltgemeinschaft bereit ist, ihren moralischen Grundkonsens zu verteidigen. Von Detlef Koch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Im Gazastreifen herrscht Hunger. Doch nicht in dem Sinne, wie man es aus Dürregebieten oder aus Armutsregionen kennt. Der Hunger, den Kinder in Gaza erleben, ist nicht meteorologisch bedingt. Er ist organisiert, verwaltet, vollstreckt – durch Blockaden, durch gezielte Angriffe auf Infrastruktur, durch die systematische Verhinderung humanitärer Hilfe.

Mehr als 18.000 Kinder sollen laut UN-Daten seit Oktober 2023 durch Kampfhandlungen ums Leben gekommen sein. Doch jene, die langsam und schmerzhaft sterben – in improvisierten Zelten, ohne Milchpulver, ohne Antibiotika, ohne Anästhetika, ohne Rettung – sind weithin sichtbar. Ihr Tod ist in Gaza allgegenwärtig und er ist beabsichtigt.

Der Hunger als Teil einer Strategie

Internationale Organisationen wie OCHA und die WHO warnen seit Monaten vor einem „künstlich erzeugten humanitären Kollaps“. Die systematische Blockade der Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Nahrungsmitteln, insbesondere im Norden Gazas, widerspricht nicht nur dem humanitären Völkerrecht. Sie unterläuft auch die moralische Prämisse, die westliche Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg in die Präambeln ihrer Verfassungen schrieben: die unantastbare Würde des Menschen.

Die Vereinten Nationen stufen das absichtliche Aushungern von Zivilbevölkerungen – insbesondere von Kindern – explizit als Kriegsverbrechen ein. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat den Tatbestand in Artikel 8 des Römischen Statuts verankert. Auch der Internationale Gerichtshof prüft derzeit, ob Israels Vorgehen im Gazastreifen gegen das Besatzungsrecht und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstößt. Dass Palästina die Jurisdiktion des Gerichts anerkannt hat, ermöglicht zumindest ein rechtsförmliches Verfahren – wenn auch (noch) ohne praktische Folgen.

Die Sprache der Entlastung

In der westlichen Öffentlichkeit, insbesondere in Deutschland, dominiert eine Rhetorik der Verlegenheit. Die Rede ist von „Versorgungsengpässen“, von „Sicherheitsdilemmata“ oder gar von „Kollateralschäden“. Dabei ist die semantische Entlastung nur ein weiteres Element der strukturellen Verleugnung. Wer einem Volk die Lebensmittelzufuhr abschneidet, Bäckereien bombardiert und die medizinische Versorgung unterbindet, handelt nicht im Nebel des Krieges, sondern entlang klarer strategischer Linien. Es ist eine Politik, die das Töten von Kindern militärstrategisch einsetzt und damit ihr Sterben legitimiert[1].

Die psychische Architektur der Vernichtung

Parallel zum körperlichen Verfall der Kinder zerbricht auch die psychische Welt der Eltern. Zahlreiche Berichte dokumentieren, wie Mütter und Väter in Gaza ihre Kinder beim Verhungern beobachten müssen – ohne Zugang zu Nahrung, medizinischer Versorgung oder Schutz. Diese extreme Ohnmacht führt zu tiefgreifenden psychischen Belastungen.

Dr. Michael Ryan, Direktor des WHO-Notfallprogramms, warnte im Mai 2025:

„Wir brechen die Körper und den Geist der Kinder in Gaza[2].“

Die WHO berichtet, dass die Kombination aus Hunger und Krankheit die Sterblichkeitsrate bei Kindern und Müttern drastisch erhöht[3].

UNICEF meldet, dass über 9.000 Kinder in Gaza wegen akuter Mangelernährung behandelt wurden, mit einem Anstieg der Fälle um 80 Prozent allein im März 2025[4].

Diese Situation führt zu einem psychischen Zustand, den Experten als „moral injury“ bezeichnen – eine tiefe Verletzung des moralischen Empfindens durch das Erleben oder Beobachten von Handlungen, die gegen eigene ethische Überzeugungen verstoßen. Eltern, die ihre Kinder nicht schützen können, erleben einen Zerfall ihrer elterlichen Identität.

Was hier geschieht, ist mehr als humanitäres Versagen. Es ist eine Verletzung zivilisatorischer Grundverträge.

Die Frage nach dem Begriff

Ob das, was in Gaza geschieht, als „Genozid“ zu klassifizieren ist, wie es unter anderem der israelische Historiker Amos Goldberg nahelegt, ist nicht nur eine juristische Debatte. Es ist auch eine Frage der moralischen Wahrnehmungsschwelle. Wann beginnt die Auslöschung eines Volkes? Mit Massendeportationen? Mit Bombardierungen? Oder bereits dann, wenn ein System errichtet wird, in dem Babys sterben, weil keine Babynahrung durchgelassen wird?

Die Frage ist berechtigt – und gefährlich zugleich. Denn wer sie stellt, rührt am Selbstverständnis des ethischen Bewusstseins unserer Spezies.

Was auf dem Spiel steht

Es geht nicht nur um Gaza. Es geht um die universelle Geltung des Rechts auf Leben, um das Recht auf Nahrung, auf Wasser, auf medizinische Versorgung – unabhängig von Nationalität, Religion oder politischer Zugehörigkeit. Wenn diese Rechte selektiv ausgehebelt werden dürfen, ohne Konsequenz, ohne Sanktion, ohne Empörung, dann verlieren sie ihren normativen Charakter.

Schluss

Das Verhungern der Kinder in Gaza ist kein logistisches Versagen. Es ist eine politische Entscheidung. Und die Frage, wie die Welt darauf reagiert – oder eben nicht reagiert –, ist eine Messlatte für den moralischen Zustand unserer Zeit.

Die Kinder sterben. Die Welt sieht zu. Und die Würde des Menschen bleibt nur ein Konjunktiv für eine bessere Welt – eine Welt, die in Palästina gerade ausgelöscht wird.

Weitere Infos zu „Moral Injury“ finden sich unter diesem Link.

Titelbild: Anas-Mohammed / Shutterstock


[«1] In an interview, Halevi claimed, “In the Al-Shifa Hospital, they caught 150 terrorists and killed them. At the same time, 300 terrorists were born in the maternity ward,” implying that children born in Al-Shifa would inevitably become terrorists. In the same interview, he defended that “There is nothing called Palestinian people, never was, and will never be.” and that “From the river to the sea, the national rights are only for one people, the nation of Israel”.

[«2] reuters.com/world/middle-east/we-are-breaking-bodies-minds-children-gaza-says-who-executive-director-2025-05-01/

[«3] who.int/news/item/21-12-2023-lethal-combination-of-hunger-and-disease-to-lead-to-more-deaths-in-gaza

[«4] apnews.com/article/gaza-israel-palestinians-malnutrition-children-f94af55885aadaee7e95b2492fc432e9

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