Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (V)

Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (V)

Das Wörterbuch der Kriegstüchtigkeit (V)

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Vokabelkritik ist zu Kriegszeiten das Gebot der Stunde. Ich veröffentliche ab jetzt in unregelmäßigen Abständen eine Sammlung lügenhafter Wörter oder Formulierungen, deren Sinn und Funktion es ist, unsere Gesellschaft möglichst geräuschlos in Richtung „Kriegstüchtigkeit“ umzukrempeln. – Die ersten vier Folgen erschienen am 29. Mai, am 2. Juni, am 22. Juni und am 2. Juli 2025. Von Leo Ensel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

SAFE
Hier waren wahre Wort-Profis am Werk. Denn SAFE – was ja SICHER heißt – ist eine Abkürzung für „Security Aktion for Europe“, eine neue kreative Möglichkeit der EU, sich via Anleihen Geld für die dringend erforderliche Aufrüstung zu beschaffen. „Die Europäische Kommission wird aufgefordert, bis zum Ende des Jahrzehnts Finanzmittel in Höhe von bis zu 150 Milliarden Euro bereitzustellen, um die EU-Mitgliedstaaten bei der Erhöhung ihrer Ausgaben für gemeinsame Verteidigungsgüter zu unterstützen. Die Kreditaufnahme der EU zur Finanzierung des neuen Programms wird es ermöglichen, den antragstellenden Mitgliedstaaten Darlehen zu wettbewerbsfähigen Preisen und mit attraktiver Struktur und langer Laufzeit zu gewähren. Die Konditionen dieser Darlehen profitieren von der hohen Kreditwürdigkeit der EU sowie von der hohen Marktnachfrage nach EU-Emissionen und deren Liquidität.“ So die Homepage der Europäischen Kommission. (vgl. „Readiness 2030“)

Selbstbehauptung Europas
Die wird mittlerweile allerseits in den EU-Ländern und von sämtlichen Parteien des Europa-Parlaments beschworen. Nur was damit gemeint sein soll, wird wohlweislich im Vagen gelassen. Wollen wir eine atomar bewaffnete EU, wie sie Ex-Außenminister Joschka Fischer seit Ende 2023 wiederholt fordert und damit, wie Günter Verheugen und Petra Erler herausarbeiten, „einen kolossalen Völkerrechtsbruch, den Bruch des Atomwaffensperrvertrags in Kauf nimmt“? Oder wollen wir eine „Friedensmacht Europa“ auf dem Prinzip der „Gemeinsamen Sicherheit“ aller europäischen Staaten, inclusive Russland und Belarus? Das ist hier die Frage.

Suwalki-Lücke
Auf Schiller-Deutsch: „Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Der Russe.“ Die ominöse Lücke wurde bereits Jahre vor dem „unprovozierten Überfall Russlands auf die Ukraine“ von gewieften Strategen als verwundbarste Stelle der NATO ausfindig gemacht. Entlang dieser rund hundert Kilometer langen Grenze zwischen Polen und Litauen könnten, so wird von interessierter Seite immer wieder insinuiert, demnächst von Belarus anrollende russische Panzerverbände auf den Kaliningrader Oblast vorrücken und damit NATO-Baltikum von NATO-Polen abschneiden. Dass man die Dinge aus russischer Perspektive auch anders sehen könnte, dass man dort möglicherweise denkt, das von hochgerüsteten NATO-Streitkräften umzingelte Kaliningrader Gebiet könne demnächst vielleicht vom Westen geschluckt werden, auf diese Idee kommt hier bezeichnenderweise keiner.

Täter-Opfer-Umkehr
Die wird immer dann als Replik bemüht, wenn jemand bestimmte Kriegshandlungen der Ukraine kritisiert. Projiziert auf die Akteure im Ukrainekrieg eine manichäische Gut-Böse-Polarität: Ukraine = gut, ergo unschuldiges Opfer; Russland = böse, weil unprovozierter Angreifer. Leider ist das Leben etwas komplizierter. So beschießt Kiew beispielsweise seit April 2014 den Donbass. Bis zum 24. Februar 2022 waren dort insgesamt um die 14.000 Menschen, darunter zahlreiche „unschuldige Zivilisten“, ums Leben gekommen. Was die mediale Berichterstattung hierzulande jedoch noch nicht mal ignorierte.

Transatlantisch? Traut euch!
Wohl nicht zufällig in derselben koketten Tonlage gehalten wie der neue Slogan der Bundeswehr „Du willst immer nur mehr“. – Was sich auf den ersten Blick liest wie die Werbung für einen Swinger-Club, ist in Wirklichkeit, wie der Untertitel „Für eine Neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika“ deutlich macht, ein voluminöses transatlantisch-GRÜNES Strategiepapier. Der anfangs noch irritierende aufdringlich-saloppe Ton, der vom Titel bis zur letzten Zeile das gesamte Dossier durchzieht, entpuppt sich bei genauerer Hinsicht als anbiedernde Ansprache für die künftigen Akteur-Doppelpunkt-innen der anvisierten „woken und wehrhaften“ Truppe: „In Deutschland und Europa sind solche Bewegungen – beispielsweise zur Bekämpfung des Klimawandels und der Überwindung von Rassismus und Sexismus – anschlussfähig. Die Annäherung an jüngere, diversere und weniger ‚klassische‘ Akteure wird die transatlantische Erzählung fortschreiben.“ (vgl. „lodernder Glutkern“)

unprovoziert
Dass der russische Überfall auf die Ukraine ein „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“ ist, stimmt auch dann, wenn unsere Leitmedien uns das tagtäglich im Staccato einhämmern. Ob er hingegen, wie ebenfalls gebetsmühlenartig wiederholt, „unprovoziert“ war, daran kann man getrost große Zweifel haben. Hier eine (unvollständige) Auflistung westlicher Provokationen: kontinuierliche Ausdehnung der NATO bis an Russlands Grenzen; Kündigung fast aller Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge; Installieren von Modulen des globalen AEGIS-Raketenabwehrsystems – mit Offensivoptionen – vor der russischen Haustür; westliche Unterstützung des Maidan-Putschs 2013/14 und postwendende Anerkennung der Putschregierung unter Jazenjuk; Boykott der Vereinbarungen von Minsk II; Verträge über „Militärische Zusammenarbeit“ und „Strategische Partnerschaft“ zwischen den USA und der Ukraine im August und November 2021; und schließlich vollkommene Ignoranz der diplomatischen Initiative vom 17. Dezember 2021, als Russland seine sicherheitspolitischen Interessen gegenüber der NATO und den USA klar und unmissverständlich artikulierte. (Trotz alledem: Man muss sich ja nicht provozieren lassen …)

unschuldige Zivilisten
Ist formal natürlich nicht falsch. Dient allerdings als Dauerformel einer fragwürdigen Emotionalisierung, zumal immer nur die zivilen Opfer der ‚richtigen Seite‘ gemeint sind. Oder hat man hierzulande etwas von toten ‚unschuldigen russischen Zivilisten‘ gehört, als die Ukraine im seit über elf Jahren belagerten Donezk Krankenhäuser beschoss und Kinder tötete oder neulich wiederholt „Putins Züge“ attackierte?

unsere Freiheit
Wird nach dem Hindukusch nun in der Ukraine verteidigt. Und zwar genauso erfolgreich.

unsere Lebensweise
Auf Deutsch: „Our way of living“. Dazu NATO-Generalsekretär Mark Rutte am 9. Juni 2025: „Wir haben das Vertrauen, die Entschlossenheit und den Mut, alles zu tun, was nötig ist, um unsere Lebensweise zu schützen.“ Unsere Lebensweise also, die gilt es zu schützen! (Was auch immer das sein mag.) Bezeichnenderweise ist hier noch nicht mal mehr von „Werten“ die Rede … (vgl. „Heimatfront und Frontlinie“)

Veteranenkultur
„Diese Feierstunde hier im Herzen der Hauptstadt ist ein Anfang. Aber auch das gehört zur Wahrheit dazu: Sie alleine schafft noch keine Veteranenkultur. Dazu braucht es mehr. Es braucht Sichtbarkeit, mehr Anerkennung und mehr konkrete Zeichen“, verlautbarte Kriegstüchtigkeitsminister Pistorius am ersten, mit bundesweit mehr als hundert Veranstaltungen gefeierten „Veteranentag“ des wiedervereinten Deutschlands. Und setzte gleich mal ein Zeichen, indem er ehemalige Soldatinnen und Soldaten mit dem 2013 von Thomas de Maizière ins Leben gerufenen Veteranenabzeichen auszeichnete. – Zu erwähnen vergessen hatte er, dass zu einer fürsorglichen Veteranenkultur nicht nur Abzeichen, sondern auch Prothesen aller Art, Langzeittherapien aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen und Rechtsbeihilfe für Entschädigungsklagen gegen den ehemaligen Arbeitgeber gehören.

Vorfall
„Bereits in der Nacht auf Sonntag gab es zwei Vorfälle in Russland. In den an die Ukraine grenzenden Gebieten Kursk und Brjansk entgleisten zwei Züge nach Brückeneinstürzen“, so das RedaktionsNetzwerk Deutschland am 1. Juni 2025. Als ob bei diesen „Vorfällen“ die russischen Brücken einfach aus Altersschwäche den Geist aufgegeben hätten … Erst später im Bericht erfahren wir die Ursache der „Brückeneinstürze“: „In Brjansk kamen laut Gouverneur Alexander Bogomas sieben Menschen ums Leben und etwa 70 wurden verletzt, darunter drei Kinder. Er bestätigte Berichte über eine Explosion der Brücke. Das russische Ermittlungskomitee stufte die Brückeneinstürze als Terrorakt ein.“ Indem man als Quelle für diese wichtigen Hintergrundinformationen lediglich den russischen Gouverneur zitiert, verleiht man dieser Meldung gleich subkutan den Geruch des Unseriösen. (Die Russen lügen ja sowieso nur!) Die Täter, obwohl ja auf der Hand liegt, wer diese „Vorfälle“ verursacht haben muss, werden in dieser Meldung nicht direkt benannt. Damit aber niemand auf dumme Gedanken kommt, zu bezweifeln, wer hier moralisch im Recht und wer im Unrecht ist, wird sofort noch folgende „Einordnung“ nachgeschoben: „Die Ukraine wehrt sich seit mehr als drei Jahren gegen einen russischen Angriffskrieg. Ukrainische Geheimdienste verüben regelmäßig Sabotageakte und Anschläge auf russischem Gebiet.“ – Preisfrage: Wie hätte die Meldung des RND wohl gelautet, hätte es diesen „Vorfall“ mit umgekehrten Vorzeichen auf ukrainischem Gebiet „gegeben“? (vgl. „Brückeneinstürze“)

Weltordnungskrieg
Diesen bemerkenswerten Neologismus verdanken wir der Leiterin des „Leibnitz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung“, Nicole Deitelhoff. In der Sendung „Studio Neun“ des Deutschlandfunk Kultur vom 2. Juni 2025 ließ sie en passant einfließen, die USA hätten in den 2000ern im Mittleren Osten (Afghanistan, Irak usw.) „Weltordnungskriege“ geführt. Ob dieses Wort affirmativ oder kritisch gemeint war, ließ sie offen. Von Angriffskriegen sprach sie jedenfalls nicht. (vgl. „Friedensforscher“, „Zivilisationskrieg“)

Woke und wehrhaft
„Wenn ich Streitkräfte habe, die in ihren Grundstrukturen die Diversität ihrer Gesellschaft widerspiegeln, sexuell, ethnisch, religiös, dann wissen die, was sie verteidigen.“ So sichtlich stolz der medienbegabte Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr, Carlo Masala, in einem Interview mit der Zeitschrift Internationale Politik im Juni 2023. Die deutschen Streitkräfte seien, so Star-Kriegsertüchtiger Masala griffig-alliterat, „woke und wehrhaft“. In der Tat eine erstaunliche Entwicklung einer scharfen Truppe, für die noch vor wenigen Jahrzehnten Homosexualität ein – je nach persönlicher Einstellung bzw. Orientierung – begrüßenswerter oder bedauerlicher Ausschlussgrund war! (Von weiblichen, gar trans- oder diversen Soldat-Sternchen-innen ganz zu schweigen.) Selbst dass „Deutsche mit Einwanderungsgeschichte“ ihr neues Vaterland mal mit der Waffe verteidigen dürfen (und würden), war lange Zeit kaum vorstellbar. – Jedenfalls die passend aufgestellte Truppe für den neuen, auch ideologischen, kalten und womöglich heißen Krieg. Hieß es damals im ersten Kalten Krieg „Freiheit versus Sozialismus!“, so lautet der heutige Schlachtruf: „Woker Westen contra reaktionäres Russland!“

Zivilcourage
Suggeriert subkutan, dass Menschen, die diese für sich in Anspruch nehmen, sich auch automatisch auf der moralisch richtigen Seite befänden. Weit gefehlt: Zivilcourage bedeutet lediglich den Mut, auch unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile gegen den Strom zu schwimmen. Über die inhaltliche Position selbst sagt dieser wohlklingende Begriff gar nichts aus. (vgl. „Gesicht zeigen“)

(wird fortgesetzt)

Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.

Titelbild: arvitalyaart/shutterstock.com