Serie zu den Parteien im Wahlkampf: Die Grünen

Serie zu den Parteien im Wahlkampf: Die Grünen

Serie zu den Parteien im Wahlkampf: Die Grünen

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

In unserer Artikel-Reihe zu den zur Wahl stehenden Parteien zur Bundestagswahl geht es heute um die Grünen. Lagen die Grünen im Frühjahr in den Umfragen kurzzeitig an erster Stelle, ist dieser Höhenflug spätestens seit der Nominierung von Annalena Baerbock zusammengebrochen. Doch auch wenn es jetzt nur noch sehr unwahrscheinlich ist, dass die Grünen die nächste Kanzlerin stellen werden – als „kleiner“ Koalitionspartner haben sie die besten Chancen, in die künftige Bundesregierung einzuziehen. Grund genug, sich das Wahlprogramm der Grünen genauer anzuschauen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Was wollen die Grünen?

Im Unterschied zu den anderen im Bundestag vertretenen Parteien – vielleicht mit Ausnahme der AfD – wirken die Grünen in ihrer öffentlichen Fremd- und Selbstdarstellung heute am ehesten als das, was man „Programmpartei“ nennen könnte – also eine Partei, die sich vor allem auf ein Thema fokussiert, das dann bei Mitgliedern und Anhängern identitätsstiftend wirkt. Und dieses Thema ist bei den Grünen die Klimapolitik. Behandeln alle anderen Parteien dieses Thema mehr oder weniger ausführlich separat, ist die Klimapolitik bei den Grünen nicht nur der programmatische Schwerpunkt, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch wirklich alle anderen Themenfelder. Von der Sozial- bis zur Sicherheitspolitik – alles wird klimapolitisch bewertet. Die „Klimakrise ist die Existenzfrage unserer Zeit“, so der erste Satz im 272 Seiten starken – und dabei vergleichsweise klein gedruckten – Wahlprogramm. Als Antwort auf diese Existenzfrage umreißen die Grünen in ihrem Programm ein wenig großspurig eine „sozial-ökonomische Transformation“. Wie soll diese Transformation aussehen?

  • Umwelt, Klima und Mobilität

Erklärtes Ziel der Grünen ist es, „klimagerechten Wohlstand“ zu schaffen. Von „Postwachstum“ oder ähnlichem ist im Programm übrigens nicht die Rede. Die Grünen bekennen sich zu einem qualitativen Wachstum, das jedoch klimaneutral sein soll. Die Klimaneutralität ist dabei der eigentliche Kernpunkt. Die Grünen wollen „raus aus den fossilen Energien“. Das gilt nicht nur für die Stromerzeugung, sondern auch für den gesamten Mobilitätsbereich, die Wärmeerzeugung und den Industriebetrieb. Im Energiebereich sollen jährlich ab sofort mindestens fünf bis sechs (später sieben bis acht) Gigawatt Windenergie an Land und bis 2035 ganze 35 Gigawatt Windenergie auf See ans Netz gehen. Ergänzt werden soll dies mit 10 bis 12 (später 18 bis 20) Gigawatt Solarenergie. Das sind gewaltige Zahlen. Als Vergleich: Aktuell beträgt die Leistung aller deutschen Kohlekraftwerke 42,5 Gigawatt.

Während die Grünen die Kapazitäten sehr genau benennen, geizen sie jedoch mit konkreten Angaben, wenn es um die Finanzierung dieser „Energierevolution“ geht. Man will Investitionen über „grüne Anleihen“ finanzieren, wie genau diese Anleihen funktionieren sollen, wird im Programm jedoch nicht näher ausgeführt. Problematisch wirkt der Ansatz, die Energiewende durch deutlich stärkere Lenkung über den Energiepreis – z.B. durch eine hohe CO2-Abgabe – zu steuern. Dieser Ansatz ist ökonomisch zwar richtig, birgt jedoch auch eine massive Gefahr, verheerende sozioökonomische Verwerfungen auszulösen. Zwar wollen die Grünen sämtliche Einnahmen aus der Bepreisung von CO2-Emmissionen über ein Energiegeld pro Kopf gleichmäßig im Vorfeld an die Bürger ausschütten und dabei auch nicht, in welcher Form auch immer, auf Größen wie die Hartz-IV-Bezüge oder Renten anrechnen – gerecht ist dies jedoch nicht, da beispielsweise der Bewohner einer energiesanierten Wohnung in Berlin, der kein Auto besitzt, unter den höheren Energiekosten kaum leidet und über das Pro-Kopf-Energiegeld genauso viel Geld „zurückbekommt“ wie der Besitzer eines älteren Hauses auf dem Lande, der gezwungen ist, einen längeren Weg zum Arbeitsplatz mit dem Auto zurückzulegen.

Es ist aber nicht so, dass den Grünen dieses Problem nicht aufgefallen wäre. Man will den ÖPNV massiv stärken und bezahlbar machen und gerade Pendlern durch diverse Hilfen und Subventionen über einen „Klimabonus-Fonds“ unter die Arme greifen. Dies sind jedoch erst einmal Absichtsbekundungen, deren konkrete Umsetzung fraglich ist. Und das ist das wohl größte Problem der grünen Kernforderungen: Während man bei den Steuerungselementen über den Preis sehr konkrete Forderungen hat, die auch sofort umgesetzt werden können, sind die Forderungen für sozioökonomische Ausgleichsmaßnahmen vage und haben teils zudem einen unbestimmten Zeithorizont. Und solange Bus und Bahn nicht wirklich in einem sinnvollen Takt im Dorf des Pendlers verfügbar sind, trägt er die Lasten, ohne dass ihm eine Alternative geboten wird.

Diese offenkundigen Probleme sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Forderungen aus dem Themenbereich Umwelt, Klima und Mobilität äußerst progressiv sind und wie aus einem Guss wirken. So stellt beispielsweise der Forderungskatalog zum Schienenverkehr im Vergleich zu den anderen Parteien einen echten Lichtblick dar. Man will 100 Milliarden Euro in die Hand nehmen, den Takt verbessern, stillgelegte Bahnhöfe reaktivieren, den Zugverkehr stärker in die Fläche bringen, die bundeseigene Infrastruktur vom „Druck, Gewinne erzielen zu müssen“, befreien und die Preise deutlich senken, um „Bahnfahren für alle bezahlbar“ zu machen. Der ÖPNV soll vom Volumen her verdoppelt werden und über einen Mobilpass deutschlandweit zu einem bezahlbaren Preis nutzbar sein – sogar mit dem Fahrrad an Bord. Das klingt gut. Weniger gut klingt das grüne Konzept für den Individualverkehr. Hier setzt man voll auf Elektromobilität, obgleich die Klimabilanz für E-Autos im Vergleich zu modernen Verbrennerfahrzeugen je nach Anwendungsfall keinesfalls so eindeutig ist, wie es die Forderungen der Grünen suggerieren.

Bemerkenswert ist hier vor allem, dass gerade die Partei, die an anderen Stellen immer wieder zum Ressourcensparen und zum nachhaltigen Konsum aufruft, beim Thema Individualverkehr darauf setzt, dass die allermeisten Bürger sich ein – zudem sehr teures – neues Auto anschaffen sollen. Hier merkt man einmal mehr, welche soziale Schichten die Grünen vertreten. So mancher Niedrig- und leider auch Normalverdiener ist heilfroh, wenn er die Werkstattkosten zusammenbekommt, um seinen Diesel oder Benziner zwei Jahre länger fahren zu können. Ein fünfstelliges Investment in ein neues E-Auto spielt in der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen gar keine Rolle, da dies schlicht nicht finanzierbar wäre – auch nicht mit Hilfe von Subventionen. Und auch bei anderen Forderungen aus dem Themenfeld der Verkehrspolitik wirken die Grünen elitär. So will man – was ja richtig ist – den Güterverkehr weg von der Straße haben. Doch dies soll allen voran über eine „CO2-orientierte Maut“ erfolgen, so dass die „Kosten von den Verursacher*innen getragen werden“. Die Kosten werden jedoch letztlich immer von den Endkunden getragen. Und für viele Menschen, die nicht zum besserverdienenden Grünen-Klientel gehören, wären solche Mehrbelastungen ein herber Schlag für das Monatsbudget.

  • Rentenpolitik

Die Grünen wollen sowohl am Rentenniveau von 48 Prozent als auch am Renteneintrittsalter von 67 Jahren festhalten. Die Rentenversicherung soll dabei schrittweise zu einer „Bürger*innenversicherung“ erweitert werden, in die auch alle Selbstständigen (und Abgeordnete) obligatorisch einzahlen, die nicht bereits über berufsständige Versorgungswerke versichert sind. Das ist zwar besser als nichts, aber wirklich progressiv ist die Rentenpolitik der Grünen auch nicht. So vermisst man beispielsweise jeglichen Hinweis auf die Beitragsbemessungsgrenzen, die dafür sorgen, dass gerade Besserverdiener in Relation zu ihrem Einkommen deutlich weniger Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen als Normal- oder gar Geringverdiener.

Um Altersarmut zu verhindern, setzen die Grünen auf eine Grundrente, die zu einer „echten Garantierente“ weiterentwickelt werden soll. Wie hoch diese Garantierente sein soll, verraten die Grünen nicht. Staatlich geförderte private Modelle wie die Riester- und Rürup-Rente will man in einen „öffentlich verwalteten Bürger*innenfonds“ überführen, der ohne hohe Verwaltungskosten langfristig investiert. BlackRock und Co. können sich freuen, bieten sie doch genau die Produkte an, in die solche Fonds in anderen Ländern ihre Gelder anlegen.

  • Sozial- und Arbeitspolitik

Eine positive Überraschung stellen die sozial- und arbeitspolitischen Forderungen der Grünen dar. Man bekennt sich glasklar zur Sozialpartnerschaft und fordert, dass Tarifverträge und starke Mitbestimmung wieder für mehr Beschäftigte gelten sollen. Dafür will man Rahmenbedingungen setzen, die Arbeitgebern die Tarifflucht erschweren, und Unternehmen, die sich zurzeit aus der Tarifpartnerschaft herausgetrickst haben, wieder zurückholen. Für öffentliche Aufträge soll ein Bundestariftreuegesetz dafür sorgen, dass nur noch Unternehmen an Ausschreibungen teilnehmen dürfen, die tariflich gebunden sind oder mindestens Tariflöhne zahlen.

Der Mindestlohn soll sofort auf 12 Euro pro Stunde erhöht werden und auch für unter 18-Jährige und Langzeitarbeitslose gelten. Man fordert die Reformierung der Mindestlohnkommission und hat das Ziel ausgegeben, dass die Steigerungen des Mindestlohns künftig „mindestens der Entwicklung der Tariflöhne“ entsprechen sollen. Leiharbeit soll vom ersten Tag an mindestens so gut wie reguläre Arbeit entgolten werden, zusätzlich soll es eine Flexibilitätsprämie geben. Die Arbeitszeit soll flexibler gestaltet werden können – aber nur dann, wenn es zum Vorteil des Arbeitnehmers ist.

Hartz IV soll nach Willen der Grünen abgeschafft und durch eine Garantiesicherung ersetzt werden. Die Höhe dieser Sicherung soll neu berechnet werden, wobei man „die jetzigen Kürzungstricks beenden“ will. Im ersten Schritt soll der jetzige Satz „um mindestens 50 Euro“ angehoben werden. Die Sanktionen sollen ersatzlos gestrichen werden. Für Kinder soll es eine Kindergrundsicherung für alle geben, die sämtliche bisherigen Leistungen ersetzt und für einkommensschwache Familien durch einen – nicht auf andere Leistungen anzurechnenden – „GarantiePlus-Betrag“ ergänzt wird, der desto höher ausfällt, je niedriger das Familieneinkommen ist.

  • Steuern, Wirtschaft und Finanzen

Auch auf dem Feld der Steuer-, Wirtschafts- und Finanzpolitik ist das Wahlprogramm der Grünen progressiver, als man es bei der sozioökonomischen Zusammensetzung der Grünen-Wählerschaft erwarten könnte. Bei der Einkommensteuer wollen die Grünen den Grundfreibetrag erhöhen und im Gegenzug den Spitzensteuersatz „moderat anheben“. Ab 100.000 Euro (bei Paaren 200.000 Euro) soll er auf 45%, ab 250.000 Euro (bei Paaren 500.000 Euro) auf 48% steigen. Das führt laut einer Auswertung des ZEW dazu, dass nach dem Grünen-Modell vor allem Familien mit geringem Einkommen deutlich entlastet und Besserverdiener deutlich stärker belastet werden.

Quelle: RBB

Aber das ist noch nicht alles. Kapitaleinkünfte sollen künftig ebenfalls nach dem normalen, individuellen Steuersatz versteuert werden müssen und die Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne soll abschafft werden. Gerade sehr hohe Einkommen wird diese Regelung deutlich stärker an der Finanzierung der allgemeinen Kosten beteiligen. Für große Vermögen oberhalb von zwei Millionen Euro haben die Grünen die Einführung einer Vermögenssteuer i.H.v. 1% vorgesehen.

Löblich sind auch die Ansätze der Grünen auf dem Feld der Finanzpolitik. Man will die Schuldenbremse zwar nicht abschaffen, aber zumindest „zeitgemäß gestalten“ und dabei Investitionen von der Bemessung ausklammern. Die Begründung ist klar und logisch: Da Investitionen öffentliches Vermögen schaffen, erwirtschaften sie eine hohe Rendite, während der Bund für seine Kredite keine Zinsen bezahlt.

  • Sicherheits- und Außenpolitik

So progressiv die Grünen auf den Feldern der Sozial- und Steuerpolitik auftreten, so rückständig sind ihre Positionen auf dem Feld der Sicherheits- und Außenpolitik. Man will an der NATO festhalten und sie strategisch neu ausrichten und dafür eine „Debatte über eine faire Lastenverteilung“ führen. Was auch immer das heißen mag. Das Zwei-Prozent-Ziel lehnen die Grünen jedenfalls ab.

Die transatlantische Partnerschaft soll nach dem Willen der Grünen auch weiterhin ein „zentraler Stützpfeiler der deutschen Außenpolitik“ bleiben. Man will sich zusammen mit den USA „gemeinsam für den weltweiten Menschenrechtsschutz, die Weiterentwicklung internationaler Rechtsnormen, globale Rüstungskontrolle und Abrüstung, eine regelbasierte Weltordnung und die Stärkung einer verantwortungsbewussten Handelspolitik einsetzen“. Das entbehrt freilich nicht einer gewissen Tragikomik, da die USA für keinen einzigen dieser Punkte stehen. Ergänzen wollen die Grünen die transatlantische Partnerschaft durch eine „stärkere außen- und sicherheitspolitische Verantwortung“ der EU und ihrer Mitgliedsstaaten – „insbesondere für die Sicherheit der östlichen Nachbarländer der EU“. Damit können ja nur Weißrussland und die Ukraine gemeint sein. Die Grünen setzen also auf Konfrontation.

Von einer Entspannungspolitik insbesondere gegenüber Russland halten die Grünen ohnehin nichts. Hier hält man sich an die Sanktionen der EU und will diese bei Bedarf auch verschärfen. Nord Stream 2 muss nach Ansicht der Grünen gestoppt werden.

China wird als „Europas Wettbewerber, Partner und systemischer Rivale“ gesehen. Auf Konfrontation wollen die Grünen hier jedoch nicht gehen. Es ist zwar im Programm viel die Rede von Menschenrechten, aber anders als beispielsweise die FDP lassen die Grünen die Finger ganz ausdrücklich von der Taiwan-Frage und wollen sich an die „Ein-China-Politik“ der EU halten.

Klare Aussagen zu Militäreinsätzen bleiben die Grünen in ihrem Programm schuldig. Vergleichsweise progressiv sind indes die Positionen zum Welthandel. Da setzt man weniger auf Freihandel als mehr auf einen fairen bilateralen Handel. Summa summarum ist das, was die Grünen außen- und sicherheitspolitisch bieten, scharf zu kritisieren; es bleibt jedoch auch hinter den schrillen Aussagen einiger Grünen-Politiker wie Cem Özdemir zurück und ist auf allen Feldern deutlich zurückhaltender als die äußerst militanten und konfrontativen programmatischen Forderungen der FDP. Wer der Außen- und Sicherheitspolitik jedoch eine große Gewichtung zukommen lässt, für den sollten die Grünen nichtsdestotrotz unwählbar sein.

Genderquatsch … nicht so schlimm wie befürchtet

Als eine der wenigen Parteien haben die Grünen ihr gesamtes Wahlprogramm konsequent durchgegendert. Das macht die Lektüre der ohnehin oft sperrigen und mit Fachbegriffen gespickten 272 Seiten Text zur Qual. Offenbar legen die Grünen keinen gesteigerten Wert darauf, dass ihr Programm abseits der ideologisch überzeugten Kernwählerschicht wahrgenommen wird. Für den Rest bieten die Grünen aber immerhin ein Programm in leichter Sprache, das ohne Genderquatsch auskommt, und eine bebilderte Kurzversion an, bei der sich die Sprachverwirrung in Grenzen hält. Positiv fällt auf, dass die Grünen ihr Programm als einzige Partei auch sowohl in einer englischsprachigen Langversion als auch in einer – jedoch sehr kompakten – Kurzversion in sieben Sprachen anbieten, die von vielen Migranten gesprochen werden.

Und wo wir schon bei „Genderquatsch“ sind. Wer im Wahlprogramm nach überzogenen Forderungen in der Identitätspolitik sucht, sucht zum Glück vergebens. Die Forderungen zur Gleichstellung, Gleichberechtigung und zur Verbesserung der LGBTQ-Rechte sind allesamt maßvoll und keinesfalls die „Kampfansage“ an die „Mehrheitsgesellschaft“, als die sie vor allem von rechten Kräften in den sozialen Netzwerken gerne gebrandmarkt werden. Es wäre für alle Seiten schön, wenn man langsam mal die Luft aus dieser hochemotional geführten Scheindebatte lassen könnte.

Man will modern wirken und setzt auf die Spitzenkandidatin

Schaut man sich die Wahlplakate der Grünen an, so ergibt sich ein zwiespältiger Eindruck. Man will sich kompromisslos als moderne Partei darstellen, die nur so darauf brennt, die Verantwortung in die Hände zu nehmen. „Bereit, weil ihr es seid.“, so das zentrale Kampagnenmotto. Slogans ersetzen Konkretes. Man sehnt sich eine Aufbruchstimmung und einen Wunsch nach einem Wechsel herbei, der jedoch zumindest durch die aktuellen Umfragen nicht gedeckt ist.

Optisch sind die Plakate durchaus handwerklich gut gemacht. Das Parteilogo ist auf einen kleinen Schriftzug „gruene.de“ reduziert, der gelben Sonnenblume wird offenbar genügend Wiedererkennungswert beigemessen, dass die Betrachter überhaupt wissen, von welcher Partei die Plakate sind. Das ist keineswegs lapidar, da Slogan und Botschaft durchaus austauschbar sind und man ohne optische Informationen nicht immer genau wüsste, von welcher Partei die Themenplakate überhaupt sind. Auch hier scheinen die Grünen vor allem ihre Kernwählerschaft zu adressieren. Das wirkt nicht sonderlich schlau, wenn man doch angetreten ist, die stärkste Partei zu werden.

Anders als in der Vergangenheit setzen die Grünen in diesem Wahlkampf verstärkt auf Personen. Das sind in diesem Falle die Spitzenkandidatin Annalena Baerbock als auch ihr „Edelhelfer“ Robert Habeck. Und das ist dann wohl auch das größte Problem der Kampagne. Nachdem Baerbock sich durch dumme Fehler nicht eben mit Ruhm bekleckert hat und gerade abseits der Kernwählerschaft eben nicht als vertrauenswürdige und kompetente Person wahrgenommen wird, kann eine Kampagne, die darauf ausgerichtet ist, ausgerechnet diese Kandidatin als eine Art „Merkel 2.0“ zu positionieren, nur scheitern. Oder würden sie Annalena Baerbock zutrauen, die Zukunft einer derart komplexen Volkswirtschaft wie Deutschland zu gestalten?

So scheitert der gesamte Grünen-Wahlkampf inklusive Plakate und Wahlprogramm an dem Anspruch, eine Art Volkspartei zu werden, die als stärkste Partei des Landes „bereit ist“, die Zukunft zu gestalten. Stattdessen spricht man personell, optisch und sprachlich vor allem die Kernwählerschaft an, die aber ohnehin die Grünen wählt.

Gute Chancen auf eine Regierungsbeteiligung

Das führt zur nicht gerade unwichtigen Frage, mit welchem Koalitionspartner die Grünen ihre programmatischen Ideen eigentlich umsetzen wollen. Dass sie in der nächsten Legislaturperiode an der Regierung beteiligt sind, ist dabei wahrscheinlich. Zurzeit verfügt nur die „Deutschlandkoalition“ aus CDU/CSU, SPD und FDP über eine klare rechnerische Mehrheit. Diese Koalitionsmöglichkeit ist jedoch politisch eher unwahrscheinlich und ob die alte „große Koalition“ aus CDU/CSU und SPD überhaupt eine Mehrheit im Parlament bekommen wird, ist auch fraglich. Bei allen anderen denkbaren Koalitionsmodellen sind die Grünen an Bord.

Nimmt man das Programm der Grünen als Basis, so wäre wohl Rot-Rot-Grün die Koalition, in der man die geringsten programmatischen Konflikte hätte – wenn man mal die außen- und sicherheitspolitische Ausrichtung der Linken herauslässt. Ob die Linke überhaupt in den Bundestag kommt und es eine rot-rot-grüne Mehrheit gibt, ist jedoch genauso fraglich, wie die Frage, ob der vermeintliche Wahlsieger aus diesem Dreierbündnis, die SPD, sich überhaupt darauf einlässt.

Politisch wahrscheinlicher erscheint da die Jamaika-Koalition oder die Ampel. Jedoch treffen bei beiden Varianten die klima-, sozial- und steuer-/finanzpolitischen Positionen der Grünen auf die der FDP, die eigentlich völlig inkompatibel sind. Beide Parteien sind jedoch durchaus dafür bekannt, Abstriche zu machen. Und diese Abstriche könnten ein großes Problem für die Allgemeinheit sein. Für die Grünen ist die Klimapolitik das Kernthema, für die FDP ist es die Steuer- und Finanzpolitik, während progressive sozialpolitische Positionen für sie ein Tabu sind. Man könnte sich also treffen, wenn man den Grünen bei der Klima- und der FDP bei der Steuer-, Finanz- und Sozialpolitik Zugeständnisse macht. Sowohl CDU/CSU als auch SPD würden dies sicher machen. Am Ende hätten wir dann unter Jamaika oder der Ampel die Klimapolitik der Grünen ohne sozialen Ausgleich und die Steuer- und Finanzpolitik der FDP obendrauf. Außen- und sicherheitspolitisch wären diese Koalitionen ebenfalls eine Katastrophe. Im Ergebnis wäre nicht das Beste, sondern das Schlechteste aller Parteiprogramme vereint.