„Gedanken zum Ukrainekrieg“

„Gedanken zum Ukrainekrieg“

„Gedanken zum Ukrainekrieg“

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Russland ist in einen seit acht Jahren wütenden Krieg eingetreten. Völkerrechtlich ist der brutale Schritt trotzdem verboten. Die Schrecken des Krieges, die durch Russlands Angriff nun auch Zivilisten in der westlichen Ukraine treffen, sind nicht zu leugnen. Die Lebensgefahr der Bewohner des Donbass und die drohenden NATO-Aggressionen an der russischen Grenze – beides jahrelang ignoriert – aber ebensowenig. Die nun explodierenden Militärausgaben in Deutschland kann man nicht Russland anlasten, deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine sind strikt abzulehnen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Hinweis: Der Krieg in der Ukraine polarisiert nicht nur unsere Leser. Auch die Redaktion der NachDenkSeiten kommt zu unterschiedlichen Positionen. Dieser Beitrag ist darum nicht Konsens unter den Kollegen.

Der Krieg in der Ukraine, in den Russland nun eingreift, läuft seit acht Jahren. Er wurde 2014 von Kiew gegen die abtrünnigen Gebiete begonnen. Dieser Krieg läuft sehr einseitig: Kiew greift an, die sogenannten Volksrepubliken verteidigen sich mit russischer Hilfe. Laut OSZE stammt der ganz überwiegende Teil der zivilen Opfer aus den sogenannten Volksrepubliken. Wenn in diesem Text von „der Ukraine“ gesprochen wird, dann meint das die Regierung in Kiew, nicht die Bevölkerung.

Die von westlicher Seite nie angemessen infrage gestellte „Legitimation“ für die militärischen Angriffe auf die „Volksrepubliken“ ist ihre Weigerung, die Ergebnisse des Maidan-Umsturzes und die daraus erwachsenen dubiosen bis rechtsradikalen Machtstrukturen in der Westukraine zu akzeptieren. Dieser Schritt erfolgte auch deshalb, weil diese Strukturen sofort große Feindseligkeiten gegenüber den östlichen (und stark mit Russland verwobenen) Landesteilen offenbarten (Hintergründe hier oder hier). Diese militärischen Angriffe haben also keine Legitimation.

Russland in höchster Alarmbereitschaft

Die aus russischer (und humanitärer) Sicht inakzeptablen Zustände im Donbass sind aber nur ein Teil der Erklärung für die jetzigen Vorgänge. Weitere Gründe finden sich in der NATO-Osterweiterung, den westlichen Wortbrüchen, den Angriffskriegen und den ignorierten Roten Linien. Es gab vor dem Einmarsch aus russischer Sicht allen Grund zu höchster Alarmbereitschaft bezüglich geopolitischer Angriffe. Meiner Ansicht nach müsste man dieser Sicht als objektiver Beobachter zustimmen.

Angesichts dieser Tatsachen kann man den russischen Kriegseinsatz teilweise als Notwehr einordnen: Früher oder später wäre die Ukraine NATO-Mitglied und (dann auch offiziell) Aufmarschgebiet für schwere Waffen für dieses sehr feindselige Angriffsbündnis geworden. Ein von Russland mit Recht geforderter prinzipieller Verzicht auf solche Pläne wurde vom Westen brüsk zurückgewiesen. Wichtig ist, dass die Feindseligkeiten der NATO gegenüber Russland (bis vor einigen Tagen) absolut einseitig waren.

„Notwehr-Exzess“?

Notwehr ist in bestimmten Situationen legal, aber auch aus Notwehr begangene Taten können schrecklich sein. Zudem gibt es auch den Tatbestand des „Notwehrexzess“, den man Russland anlasten könnte, je nach weiterer Entwicklung. Die Tat selber (der gewaltsame Einmarsch) kann natürlich nicht schöngeredet werden, warum sollte man das auch tun? Hier geht es darum, mit kühler Distanz die Gründe zu skizzieren, die zur Situation geführt haben. Und den Befund, dass Russland meiner Meinung nach nicht viele andere Optionen hatte.

Ob Krieg ein Mittel der Politik ist – zu dieser Entscheidung tragen mehrere Seiten bei. Der russische Einmarsch und seine Begründung können als die ultimative politische Anmaßung bezeichnet werden – und doch stehen hinter dieser Anmaßung begründete Ängste. Die Gegner des Einmarsches nehmen indirekt den Status Quo in Kauf: eine Situation mit jahrelangem Kriegszustand und Todesopfern im Donbass, mit extremer Feindseligkeit und perspektivisch mit schweren Waffen. Und einen permanenten US-Stachel in Europa. Auch die Gefahr eines „großen Krieges“ würde sich schlagartig erhöhen, würde der Ukraine die schwere Bewaffnung gegen Russland oder ein NATO-Beitritt gestattet – und das wäre bei einer Untätigkeit Russlands höchstwahrscheinlich gewesen. Die moralische Betrachtung hängt auch davon ab, für wie real man die Gefahren für russisches Territorium und Bevölkerung einschätzt. Die Forderung, Russland solle an den Verhandlungstisch zurückkehren, ist gut – aber dann hätten nicht alle relevanten Sicherheitsgarantien vorher ausgeschlossen werden dürfen.

Die Ukraine ist ein Vasallenstaat der USA

Das Verhalten der Ukraine gegenüber der EU ist inakzeptabel, bereits seit Jahren. Die offene Ablehnung des europäischen Friedensplans und die Rolle als militaristischer Provokateur der USA sind brandgefährliche Handlungen. Die Duldung des ukrainischen Boykotts von Minsk-II hat zur heutigen Lage geführt. Das auftrumpfende Handeln der Regierungen in Kiew ist nur möglich durch die Rückendeckung der USA: Die Ukraine ist ein Vasallenstaat (Hintergründe hier oder hier) mit starken demokratischen Defiziten (hier oder hier).

All das sind für sich keine Kriegsgründe, aber zusammengenommen ergibt sich doch ein ganz anderes Bild, als momentan in vielen Medien verbreitet wird: Das Bild eines friedlich vor sich hin lebenden Staates, der nun aus dem Nichts hinterrücks überfallen wird, hält nicht stand.

Meine große (vielleicht naive) Hoffnung ist, dass der russische Einsatz kein Krieg gegen „die Ukraine“ wird, sondern sich ausschließlich gegen einen US-dominierten „tiefen Staat“ innerhalb des Landes richtet, der sich im Zuge des Maidan etabliert hat. Und gegen die Nazi-Batallione. Der Krieg wird trotzdem jetzt auch Zivilisten in der Westukraine in furchtbarer Weise treffen. Die nur vorläufige und sehr eingeschränkte „Legitimation“ hängt stark von der Art, der Dauer, den Opferzahlen, dem Termin eines kompletten Wiederabzugs und der Form der Nachkriegsordnung ab. Darum kann man Russland auch nicht heute vorauseilend ein moralisches Attest für die weiteren Ereignisse ausstellen: Möglicherweise muss die jetzige Einschätzung revidiert werden. Jetzt aber Waffen in das Gebiet zu schicken, wirkt ausschließlich kriegsverlängernd und ist ein Vergehen.

Ukraine gleich Irak?

Die westlichen Angriffskriege der letzten Jahre werden nicht gerechtfertigt, indem man nun die Gründe für den russischen Krieg zu verstehen sucht: Dass in der Ukraine westliche Massenvernichtungswaffen stationiert werden sollten, ist hier als ein wichtiger Grund zu sehen, neben einer Offensive gegen den Donbass. Meiner Meinung nach kann man der russischen Seite unterstellen, dass sie durch diese drohende Stationierung Gefahr im Verzug gesehen hat und sich zum sofortigen Handeln gezwungen sah, um weit gravierendere zukünftige Konflikte zu verhindern. Darüber, wie akut diese Gefahr tatsächlich war, herrscht ein Meinungskampf. Die zu stationierenden Raketen wären aber real, sie liegen bereits in westlichen Arsenalen – im Gegensatz etwa zu den Massenvernichtungswaffen Iraks, die gar nicht existiert haben.

Andererseits dürften die USA meiner Meinung nach sehr wohl der Stationierung russischer Raketen vor der Haustür (etwa in Mexiko) entgegentreten. Das (eine tatsächliche Bedrohung!) wäre doch der entscheidende Unterschied etwa zum Irak-Krieg. Ein solches Entgegentreten wäre zwar dennoch imperialistisches Gehabe, in dem Fall würde es aber eher der Entspannung dienen: Solange militärische Blöcke noch nicht überwunden sind, sollten sie sich nicht schwer bewaffnet direkt gegenüberstehen. Darum dürften auch keine russischen Raketen auf Kuba angestrebt werden, während man ihrer Stationierung (im Sinne des Weltfriedens) sehr wohl entgegentreten dürfte – die Kubakrise kann hier indirekt einige Parallelen liefern.

Dass die Handlungen von Ukraine/USA der letzten acht Jahre an der russischen Grenze eine Bedrohung für Russlands Sicherheit darstellen, kann man nicht leugnen. Ebensowenig, dass weder Irak noch Afghanistan oder Libyen jemals die Sicherheit der USA bedroht hätten. Gleichmacherei ist hier unseriös.

Russland hat sich abgewendet

Auch ich bin geschockt von dem massiven Einmarsch, dem Leid und den Toten. Zusätzlich hätte ich nicht gedacht, dass Russland einen solchen Freibrief für Gegenreaktionen ausstellen würde. Aber man kann Russland nun nicht die Schuld dafür geben, dass der Schritt hierzulande für Aufrüstung ausgeschlachtet wird. Irrational erscheint das russische Handeln vor allem dann, wenn man meint, dass Russland noch auf das Wohlwollen Deutschlands oder „des Westens“ warten würde. Die russische Rücksichtslosigkeit gegenüber Reaktionen aber zeigt: Russland ist nun offenbar völlig desillusioniert, es hat sich abgewendet. Das ist ein dramatischer und gefährlicher Moment, vor dem die NachDenkSeiten immer wieder gewarnt haben.

Man hätte diesen Moment verhindern müssen und können, durch große und reale Schritte von westlicher Seite, für die es jetzt zu spät ist – die Garantie einer de-militarisierten und blockfreien Ukraine hätte meiner Meinung nach den jetzigen Angriff sogar noch in letzter Minute verhindern können. Langfristig hätte man bereits in den vergangenen Jahren die immer wieder ausgestreckten Hände der Russen ergreifen müssen: Nicht nur aus Respekt vor einem europäischen Nachbarn und vor der deutsch-russischen Geschichte, sondern auch aus Selbstschutz: Die Konfrontation mit Russland schadet massiv den Interessen der deutschen Bevölkerung.

Titelbild: Shutterstock / Zbitnev

Aktualisierung 22.11.2023: Die Überschrift wurde geändert.

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