„Schwerter aus Eisen“ – ein Völkermord in Gaza

Norman Paech
Ein Artikel von Norman Paech

Nur eines scheint in diesem furchtbaren Krieg in Gaza nicht bestreitbar, die Zahl der Opfer, ob Tote, Verletzte oder zerstörte Wohnungen, steigt unablässig und wird weiter steigen. Alles andere ist umstritten, wie viele Menschen dem Bombenterror bereits zum Opfer gefallen sind und das Ausmaß der Zerstörungen. Nur manchmal lassen die gelegentlich übermittelten Bilder von den Trümmern das unendliche Elend erahnen, welches die Raketen, Kampfflugzeuge, Drohnen und Panzer bei den Bewohnern in Gaza hinterlassen. Die Medien widmen sich vordringlich der Trauer der Hinterbliebenen des tödlichen Angriffs der Hamas und den Protesten der Verwandten der entführten Geiseln. Die Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag werden mit einem Papier „Schwerter aus Eisen“ von Israels Botschafter Ron Prosor gefüttert und die Chefs der EU-Staaten quälen sich zu einem Beschluss, der zeitweise Korridore fordert, um die zwei Millionen eingepferchten Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen – damit die nächste Welle der Gewalt und Zerstörung zumindest das Etikett einer „humanen Kriegsführung nach den Normen des humanitären Völkerrechts“ sich anheften kann. Von Norman Paech.

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Bundeskanzler Olaf Scholz hält an der Fiktion fest, dass Israel „ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien“ sei und die israelische Armee sich an die Regeln des Völkerrechts halten werde. Da ist es nur folgerichtig, einen Waffenstillstand abzulehnen, um das ohnehin nach Aussage der UNO schon seit 2020 unbewohnbare Gaza endgültig in Schutt und Asche zu legen. In der UNO-Generalversammlung, die mit 120 Stimmen einen Waffenstillstand fordert, enthält sich die deutsche Regierung, bekräftigt aber vor den Türen ihre Ablehnung und besteht auf dem Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta.

Was geht da vor? Welche Perversion hat diese Politik ergriffen? Ist dieser Krieg, der ununterbrochene Bombenhagel, dieses ungehinderte tägliche und nächtliche Massaker überhaupt noch mit den allgemeinen Kategorien der Genfer Konventionen und ihrer beiden Zusatzprotokolle erfassbar? Schutz der Zivilisten, gleichgültig ob sie der Aufforderung zur Evakuierung gefolgt sind oder nicht, Schutz der Krankenhäuser und des medizinischen Personals – 4 Krankenhäuser und 38 medizinische Stationen sind zerstört -, Verbot unterschiedsloser Angriffe und der Aushungerung als Mittel der Kriegsführung, Verbot, die Versorgung mit den notwendigsten Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten zu behindern. Appelle, diese Regeln zu beachten, sind seit dem 7. Oktober vollkommen hilflos, ja lächerlich. Dieser Krieg ist schon lange nicht mehr ein Verteidigungskrieg gegen die Hamas. Er ist ein Krieg gegen das Volk in Gaza, welches nach jüngsten Plänen der Regierung vollständig in die Sinai-Wüste nach Ägypten vertrieben werden soll. Das alte Siedlungskonzept „Land ohne Volk“ lebt wieder auf. Dieser Krieg hat alle Regeln hinweggefegt, mit ihnen ist er nicht mehr zu regulieren bzw. zu „humanisieren“.

Wir müssen uns eingestehen, das ist Völkermord! Ein hässliches Wort, dem man seine Hässlichkeit auch nicht mit dem Begriff Genozid nehmen kann. Gerade in der deutschen Geschichte erinnert es an die äußersten Verbrechen, die nie mehr geschehen dürfen. Und ich zögere, es zu gebrauchen. Das Wort hat dennoch in letzter Zeit politische Konjunktur. Völkermord an den Armeniern, an den Tibetern, den Uiguren und den Ukrainern. Nur gegenüber dem eigenen Völkermord an den Herrero und Nama mag der Bundestag das Wort nicht in eine Resolution kleiden. Und jetzt der Vorwurf des Völkermords an Israel? Er wird gegen die Hamas für ihren Überfall am 7. Oktober, in der Tat ein brutales Kriegsverbrechen, erhoben. Aber gegenüber dem jüdischen Staat – das sei purer Antisemitismus.

Das Internationale Recht ist nüchtern und emotionslos. Es hat seine Kriterien für den Völkermord in Art. II der Völkermord-Konvention von 1948, Art. 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes von 1998 und § 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches von 2002 formuliert. Übereinstimmend heißt es da, dass „Völkermord eine der folgenden Handlungen (sei), die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Zu diesen Handlungen gehören die „Tötung von Mitgliedern dieser Gruppe“, wobei die Anzahl nicht von Bedeutung ist. Sodann heißt es, die „Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe“ sowie „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“.

Wer die Bilder von den Trümmern Gazas sieht und die Berichte ihrer Menschen hört, erkennt, dass die stereotypen Meldungen in den Medien von israelischen Angriffen gegen Stellungen der Hamas nur der untaugliche Versuch sind, den unterschiedslosen Krieg gegen die gesamte Bevölkerung im Gazastreifen als gezielte Verteidigung zu rechtfertigen. Dieser „Vernichtungskrieg gegen die Hamas“ zeigt, dass Hamas eben keine kleine Sekte, kein Kartell ist, sondern offensichtlich eine weit in die Gesellschaft verzweigte Organisation, zu deren Vernichtung die Vertreibung und wahllose Vernichtung auch unbeteiligter Menschen notwendig ist. Nur Zyniker können dies als Kollateralschäden im Verteidigungskrieg rechtfertigen.

Doch entscheidend für den Vorwurf des Völkermordes ist nicht der objektive Tatbestand der Tötung oder die „Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden“, sondern der subjektive Tatbestand, „die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Dass es daran leider keine Zweifel geben kann, dafür gibt es zu viele eindeutige und radikale Bekenntnisse aus Politik, Armee und Presse. Ob Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober auf einer Pressekonferenz: „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist. Diese Rhetorik über Zivilisten, die angeblich nicht involviert wären, ist absolut unwahr […] und wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen“, oder Premierminister Netanjahu am 8. Oktober: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen“, oder der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, am 10. Oktober in Haaretz: „Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“ und Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober im Fernsehen: „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen Tiermenschen und handeln entsprechend.“ Oder der Generalmajor der israelischen Armee, Ghassan Allan, bei einer Ansprache am 9. Oktober: „Tiermenschen werden entsprechend behandelt, ihr wolltet die Hölle und ihr kriegt die Hölle“ und ein Veteran der israelischen Armee, Ezra Yachin, am 13. Oktober bei einer Ansprache an Reservisten: „Löscht ihre Familien aus, ihre Mütter und Kinder. Diese Tiere dürfen nicht länger leben“, schließlich die Abgeordnete der Regierungspartei Tally Gotliv am 9. Oktober in der Knesseth: „Jericho-Rakete! Weltuntergangswaffe. Das ist meine Meinung. Mächtige Raketen sollen ohne Grenzen abgefeuert, Gaza zerschlagen und dem Erdboden gleichgemacht werden. Ohne Gnade.“ Diese Sammlung derber Äußerungen ließe sich ergänzen. Wer könnte da noch an dem subjektiven Tatbestand, „die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“, zweifeln – fast schon geflügelte Worte des Völkermords. Nur unsere Medien wollen von all dem nichts wissen, völlig der Staatsräson erlegen.

Raz Segal, israelischer Holocaust- und Genocidforscher an der Stockton University in New Jersey, USA, nennt diesen Krieg „einen Lehrbuch-Fall des Völkermords“, und 800 Rechtswissenschaftler in der USA schätzen in einer gemeinsamen Erklärung schon die totale Abriegelung des Gazastreifens als „möglicherweise genocidal“ ein. Sie beziehen sich auf Segals Satz: „In der Tat ist Israels genocidaler Angriff auf Gaza ausdrücklich, offen und schamlos […] Israels Ziel ist es, die Palästinenser in Gaza zu zerstören. Und jene von uns, die in der Welt herumschauen, haben unsere Verantwortung aufgegeben […] dies Verbrechen des Völkermords zu verhindern.“ Diese Verantwortung kann nicht mehr mit Aufrufen zur Beachtung der Regeln des humanitären Völkerrechts oder zur zeitweisen Öffnung humanitärer Korridore und Appellen, die gefangengenommenen Geiseln herauszugeben, wahrgenommen werden. Wer hier für die Fortführung des Krieges plädiert und gegen einen Waffenstillstand votiert oder sich der Stimme enthält, macht sich zum Komplizen dieses Völkermords. Völkermord ist ein Verbrechen, strafbar nach § 6 Völkerstrafgesetzbuch und Art. 6 Römisches Statut. Und wer, wie die Bundesregierung, diesen Krieg unterstützt, macht sich mitschuldig. Dies sollte die Bundesregierung genau bedenken.

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