„Wir können die unfassbar barbarischen Zustände nicht mehr hinnehmen.“

„Wir können die unfassbar barbarischen Zustände nicht mehr hinnehmen.“

„Wir können die unfassbar barbarischen Zustände nicht mehr hinnehmen.“

Maike Gosch
Ein Artikel von: Maike Gosch

Im Sommer 2025 übernahm Melanie Schweizer eine führende Rolle im Organisationskomitee der „Global Sumud Flotilla“ – einer zivilgesellschaftlichen internationalen Initiative, die mit Dutzenden von Booten die Blockade Gazas durchbrechen will. Im Interview spricht Schweizer über ihre Motivation, die Pläne der Initiative und die Rechtslage nach internationalem Recht in Bezug auf die Situation in Gaza. Lesen Sie heute den zweiten Teil des Interviews. Das Interview führte Maike Gosch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Den ersten Teil finden Sie hier auf den NachDenkSeiten.

Maike Gosch: Sie sind ja schon eine Weile in der pro-palästinensischen Bewegung aktiv. Was für Begegnungen, Unterhaltungen, Situationen, die Sie im Zusammenhang mit der Freedom Flotilla und dem Global March to Gaza erlebt haben, haben Sie besonders berührt oder auch Ihre Sichtweise verändert bzw. erweitert?

Melanie Schweizer: Besonders berührt haben mich der Moment an den Checkpoints in Ägypten, die Einzelgespräche mit den Teilnehmern und auch der weitere Verlauf unserer internationalen Koordination: der Mut der Menschen, so viel Risiko auf sich zu nehmen, um fremden Menschen zu helfen; die Verzweiflung darüber, dass wir diese beispiellose, live gestreamte Gewalt einfach hinnehmen sollen; das Entsetzen über die eigenen Regierungen, die diesen Wahnsinn rechtfertigen; aber vor allem die Stärke und Entschlossenheit, dies eben nicht tatenlos hinzunehmen, sondern das Unmögliche möglich machen zu wollen.

Das gibt Kraft in einer Gesellschaft, die durch Desinformationskampagnen der führenden Politikerinnen und Politiker gezeichnet ist, sich mehr und mehr durch politische Verfolgung und Gaslighting (Anm. d. Red.: Verdrehung von Realität, bei der selbst offensichtliche Tatsachen geleugnet oder umgedeutet werden, damit Kritiker an ihrem eigenen Wahrnehmungsvermögen zweifeln) hervorhebt und in dessen kapitalistischem System die Vereinzelung und Machtlosigkeit einem an jedem Tag suggeriert wird.

Es gab ja von einigen, auch Aktivisten, den Vorwurf, dass es sich sowohl bei den „Märschen“ als auch bei den Segelfahrten um reine „Öffentlichkeits-Stunts“ handele, da es ja überwiegend wahrscheinlich ist, dass die Schiffe wieder von Israel gestoppt und die Besatzungen festgenommen werden, wie es allen vorigen Schiffen, die diese Fahrt versucht haben, geschehen ist – und auch die Märsche bisher nicht durchgelassen wurden. Was ist Ihre Antwort darauf?

Selbst wenn der absurde Vorwurf des „Öffentlichkeits-Stunt“ zuträfe – dann wäre das immer noch zu begrüßen. Unsere Medien verschleiern und verschweigen das Leid und die Verbrechen, die den Palästinensern angetan werden. Durch Aktionen wie diese sind die voyeuristischen Medien gezwungen, über den Gazastreifen zu berichten. Und die Menschen können anfangen, ihre eigene Recherche zu betreiben. Bis zu Greta Thunbergs Teilnahme an der Freedom Flotilla wussten wenige in Deutschland, dass es diese Bewegung überhaupt gibt – geschweige denn, dass die Freedom Flotilla Coalition schon seit 2006 nahezu jedes Jahr Schiffe in den Gazastreifen geschickt hat, um die schon seitdem bestehende völkerrechtswidrige Blockade zu durchbrechen. Kaum jemand weiß, dass es zwei Schiffe im Jahr 2008 sogar geschafft haben, dort anzukommen, und wegen dieser „negativen Publicity“ aus Sicht der Israelis fortan nie wieder ein Schiff durchgelassen wurde. Wenige wissen, dass die israelische Besatzungsarmee ein Schiff im Jahr 2010 brutal angegriffen hat und dabei zehn Teilnehmer ermordete. Viele haben sich nach Gretas öffentlichkeitswirksamem Auftritt informiert.

Es geht also nicht lediglich um die Hilfe für die Bevölkerung, sondern auch um mediale Aufmerksamkeit und Erwachsenenbildung. Die Geschichte hat nicht am 7. Oktober angefangen.

In welcher Tradition steht dieser Einsatz von „Direct Action“, also dieser politische Protest, bei dem Aktivisten nicht nur demonstrieren, sondern mit direkten Aktionen, die oft den Charakter des zivilen Ungehorsams haben, unmittelbar in gesellschaftliche oder politische Abläufe eingreifen? Was sind die Vorbilder, an denen Sie und die anderen Organisatoren sich hierfür orientieren? Und warum ist es aus Ihrer Sicht jetzt an der Zeit für den Übergang von Demonstrationen und Protesten zu Handlung?

Die Global Sumud Flotilla ist inspiriert durch historische Massenbewegungen zum Widerstand gegen Unrechtssysteme, wie denen unter der Führung von Mahatma Gandhi in Indien gegen die Kolonialisierung, unter Nelson Mandela in Südafrika gegen das Apartheidregime und von Rosa Parks mit ihrem friedlichen Widerstand gegen das Segregations- und Apartheidsystem in den USA: Wir können die unfassbar barbarischen Zustände nicht mehr hinnehmen – schon lange nicht mehr. All unsere Demonstrationen, E-Mails und sonstigen Proteste in den Nationalstaaten scheinen auf taube Ohren und blinde Augen zu treffen. Stereotypisch also für einen Völkermord.

Wir möchten mit dieser Mission ein Zeichen setzen und die Welt sehen lassen, wie viele Tausende Menschen bereit dafür sind, jegliches in Kauf zu nehmen, um den unmenschlichen und barbarischen Wahnsinn, den wir seit 20 Monaten miterleben müssen und der uns als gerechtfertigt verkauft wird, zu beenden: Unterschiedslose und gezielte Bombardierung von Zivilisten, Aushungern von rund zwei Millionen Menschen, die komplette Zerstörung des Gazastreifens, gezielte Tötung und Verschleppung von medizinischem Personal und Journalisten, Tötung von Menschen, die bei der Essensverteilung verzweifelt versuchen, zu überleben, und solchen, die Essen liefern. Diesem surrealen, dystopischen Horror wollen wir ein Ende setzen.

Was für Aktionen passieren parallel zur Fahrt der Global Sumud Flotilla in Deutschland?

Es wird global Parallelaktionen in Form von Protesten in allen Mitgliedsländern geben, die an der Mission beteiligt sind, an denen jeder teilnehmen kann. Genaueres dazu wird noch zeitnah auf den sozialen Medien bekannt gegeben (für Deutschland bei Instagram: globalmovementtogaza.germany).

Gibt es Kontakt zur UN und zu Diplomaten und Experten für internationales Recht? Was passiert auf juristischer Ebene in dieser Hinsicht aktuell?

Ja, es gibt Kontakt. Wir planen zwei Panels mit Völkerrechtsexperten um die Daten des Launchs, 31. August herum. Auch hier wird Genaueres noch bekannt gegeben.

Die Global Sumud Flotilla beschreibt sich als eine friedliche und zivile Initiative, die ohne Waffen oder militärische Begleitung aufbricht. Gibt es auch oder wissen Sie von Bemühungen um ein militärisches Eingreifen auf der Basis von UN-Recht, aufgrund der „Responsibility-to-protect“-Doktrin oder zur Verhinderung eines Völkermords auf internationaler Ebene? Was passiert da gerade bzw. wird vorbereitet?

Genau, wir sind eine friedliche und zivile Initiative. Wir sind selbstverständlich unbewaffnet und bewegen uns innerhalb des uns zustehenden Rechts. Sollte Israel eines der Schiffe kapern, ist das ein Akt der Piraterie. Die nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ), Artikel 87, anerkannten Gewohnheitsnormen des Völkerrechts gewähren allen Schiffen das Recht auf freie Schifffahrt auf hoher See unter der Gerichtsbarkeit des Flaggenstaates, während die Artikel 88 und 301 die friedliche Nutzung der Meere vorschreiben. Gemäß Artikel 110 SRÜ ist eine Einmischung ausnahmsweise zulässig, wenn das Schiff Piraterie, Sklavenhandel oder unerlaubte Rundfunkübertragungen betreibt oder wenn es sich um ein staatenloses Schiff handelt. Unsere Mission fällt unter keine dieser Ausnahmen. Daher hat unsere Mission ein Recht auf freie Schifffahrt.

Die Global Sumud Flotilla ist außerdem berechtigt, während ihrer Reise das Recht auf friedliche Durchfahrt durch die Hoheitsgewässer von Drittstaaten (z.B. Ägypten) auszuüben, wie es durch das SRÜ geschützt ist. Dieses Recht gilt, da die Flotilla unbewaffnet ist, gegenüber dem Küstenstaat unpolitisch ist und sich ausschließlich für friedliche humanitäre Hilfe einsetzt.

Zusätzlich zu diesen Rechten schützt das humanitäre Völkerrecht den Transport von Hilfsgütern, humanitärem Personal und Schiffen, die mit der Lieferung lebenswichtiger Güter an bedürftige Zivilisten befasst sind. Artikel 70 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen verpflichtet Israel, den schnellen und ungehinderten Transport solcher Hilfsgüter zuzulassen und zu erleichtern. Gemäß den Artikeln 23 und 55 der Vierten Genfer Konvention muss Israel als Besatzungsmacht den freien Transport aller Lieferungen mit medizinischen Gütern, religiösen Gegenständen und Lebensmitteln zulassen und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und medizinischen Gütern sicherstellen. Das San Remo Handbuch legt in den Regeln 102 bis 104 fest, dass Blockaden, die dazu führen, dass Zivilisten hungern müssen oder ihnen der Zugang zu lebenswichtiger humanitärer Hilfe verwehrt wird, rechtswidrig sind. Da die Global Sumud Flotilla die Kriterien der Neutralität, Menschlichkeit und Unparteilichkeit erfüllt, würde eine Behinderung ihrer Durchfahrt einen Verstoß gegen diese rechtlichen Verpflichtungen darstellen und Israel könnte dafür nach internationalem Recht zur Verantwortung gezogen werden.

Zusammen bilden die Rechte auf freie Schifffahrt, friedliche Durchfahrt und humanitäre Durchfahrt einen starken rechtlichen Schutzschild für die Global Sumud Flotilla, von der Hohen See über die Hoheitsgewässer bis zu ihrem Zielort. Diese im Völkerrecht verankerten Schutzmaßnahmen gelten uneingeschränkt für die unbewaffnete, friedliche und rein humanitäre Mission der Flotilla. Jede Behinderung der Schiffe oder ihrer Teilnehmer, die als Zivilisten geschützt sind, würde gegen das Völkerrecht verstoßen und Israel könnte dafür nach internationalem Recht zur Verantwortung gezogen werden.

Die Teilnehmer der Flotilla sind durch Artikel 4 der Vierten Genfer Konvention geschützt. Als Zivilisten – nicht Kombattanten – sind die Teilnehmer „geschützte Personen”, wenn sie von israelischen Streitkräften abgefangen werden. Dieser Status garantiert eine humane Behandlung und verbietet jede Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

Es gibt ebenso schon seit einiger Zeit die Bestrebung um ein militärisches Eingreifen auf der Basis von UN-Recht aufgrund der Responsibility-to-protect-Doktrin oder zur Verhinderung eines Völkermords auf internationaler Ebene. Der international tätige Jurist Ousman Noor leitet hier die zivilgesellschaftliche Kampagne. Die palästinensische Autonomiebehörde hat sich mit einem Brief an den Sicherheitsrat gewandt und um Hilfe gebeten.

Wie sehen Sie die Entwicklungen der nächsten Monate? Was glauben Sie, wird auf politischer Ebene passieren – in Gaza/Israel, in der Region (Libanon, Ägypten, Syrien, Ägypten etc.), in Deutschland und international? Was für Szenarien sind da aus Ihrer Sicht wahrscheinlich? Und was hoffen Sie, kann Ihre Aktion verändern?

Israel wird den Völkermord fortsetzen und die Bestrebung, den Gazastreifen ethnisch zu säubern und zu annektieren. Deutschland wird dem höchstwahrscheinlich nichts entgegensetzen.

Wir hoffen natürlich, dass unsere Mission ihre oben genannten Ziele erreicht. Davon abgesehen werden wir weitermachen und uns neue, kreative Wege einfallen lassen, um diese anhaltenden und von der deutschen Bundesregierung unterstützten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und in erster Linie gegen die Palästinenser zu beenden. Kein Unrechtssystem wurde aufgrund eines plötzlichen Sinneswandels der herrschenden Unterdrückungsregime beendet, sondern ausschließlich aufgrund der (internationalen) zivilgesellschaftlichen Mobilisation und Solidaritätsbewegung.

Wenn wir das, was im Gazastreifen passiert und von unseren führenden Politikern und Medien als gerechtfertigt angesehen und normalisiert wird, ohne Widerstand akzeptieren und geschehen lassen, stehen uns allen sehr dunkle Zeiten bevor. Die wahllose Gewalt und die Unterdrückung werden nicht an den Landesgrenzen zu Palästina Halt machen. Wir erleben dies bereits selbst in Deutschland, wie seit knapp zwei Jahren (und bereits zuvor) Palästina-Solidarität verfassungswidrig kriminalisiert wird. Das ist ein Angriff auf unser aller Grund- und Freiheitsrechte und – einmal in Gang gebracht – nur sehr schwer wieder zu korrigieren.

Das ist ein Prozess, der sich üblicherweise fortsetzt und dann auch auf andere Themengebiete übergreift. Er hat auch nicht bei der Palästina-Solidarität angefangen, sondern war schon bei den G7- und den G20-Protesten, der Klima-Bewegung und auch im Umgang mit Corona im Ansatz vorhanden. Was wir allerdings jetzt erleben, ist in seiner Intensität beispiellos.

Kommen wir noch zu den Medien und der Resonanz: Wie ist bisher das Interesse der Medien in Deutschland und international an Ihrer Aktion? Gibt es Interesse auch von den etablierten Medien?

Nein, die deutschen Medien machen sich zum ganz großen Teil ebenso mitschuldig an diesem Völkermord. Sie lassen gezielt die Berichterstattung aus oder verdrehen die Inhalte. Sie sind keine vierte kontrollierende Gewalt, sondern das ungefilterte, unkritische und unreflektierte Sprachrohr der Unterdrückungssysteme. Auch das ist stereotypisch für die Möglichmachung von Völkermorden und daher leider nicht verwunderlich.

Wie beobachten Sie die Stimmung zum Thema Palästina/Israel aktuell in Deutschland? Sehen Sie eine Veränderung in den letzten Monaten und Wochen?

Ja, es gibt immer mehr Unverständnis, auch in der „uninformierten“ deutschen Bevölkerung. Allerdings ist die Empathielosigkeit nach wie vor stärker als die Empörung. Das merkt man daran, dass wenige Deutsche ohne Migrationshintergrund es für nötig halten, zu demonstrieren oder wenigstens öffentlich in sozialen Medien ihre Stimme zu erheben. Man sieht es auch am Wählerverhalten: Etwa 80 Prozent der Bevölkerung sind gegen Waffenlieferungen nach Israel, dennoch wählten rund 90 Prozent derjenigen, die gewählt haben, Parteien in den Bundestag 2025, die für weitere Waffenlieferungen nach Israel sind.

Die Gleichgültigkeit überwiegt also bei Weitem die Empörung. Auch das ist stereotypisch für Völkermorde und eine Folge der medialen Propaganda, mit der die Bevölkerung in Apathie versetzt wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

Titelbild: Global Sumud Flotilla & Melanie Schweizer

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