Eskalieren, um zu de-eskalieren? – Wie in Russland über die Vermeidung eines 3. Weltkrieges diskutiert wird

Eskalieren, um zu de-eskalieren? – Wie in Russland über die Vermeidung eines 3. Weltkrieges diskutiert wird

Eskalieren, um zu de-eskalieren? – Wie in Russland über die Vermeidung eines 3. Weltkrieges diskutiert wird

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine läuft nun seit nahezu 20 Monaten. Die Weisheiten des preußischen Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz (1780 – 1831) dürften sich auch im unmittelbaren Krieg Russlands gegen die Ukraine bewahrheiten – konkret hier: „So stimmt sich im Kriege durch den Einfluß unzähliger kleiner Umstände, die auf dem Papier nie gehörig in Betracht kommen können, alles herab, und man bleibt weit hinter dem Ziel.“ Kurzum: Es kam anders als geplant. 20 Monate Krieg und ohne absehbares Ende war sicherlich nicht in der Planung des Kremls. Die Widerstandskraft in der Ukraine war größer als erwartet. Wie auch die US-Amerikaner im Irak 2003 und anderswo nirgends mit Blumensträußen empfangen wurden, so wurden auch die russischen Truppen nicht mit Derartigem empfangen. Des Weiteren wurde das massive westliche Engagement für die Ukraine von den Strategen im Kreml wohl falsch prognostiziert. Sie hätten es besser wissen müssen, zumal auch im Kreml die Perzeption vorherrschte, dass es sich um einen doppelten Krieg handeln würde: Einen unmittelbaren gegen die Ukraine als dessen westlicher Vorposten und einen mittelbaren gegen den Westen im Kampf um die neue Weltordnung. Von Alexander Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Fronten sind seit letztem Winter relativ festgefahren. Die großverkündete Frühjahrs-, dann zur Sommeroffensive umdeklarierte Offensive endete als Flop mit vielen 10.000 toten ukrainischen Soldaten. Die westlichen Wunderwaffen – als „Game-Changer“ gefeiert – haben ihre Wunderkraft bis dato nicht entfaltet. Der Westen liefert immer modernere Waffensysteme mit immer größerer Reichweite. Im Gespräch stehen derweil das deutsche Marschflugkörpersystem „Taurus“ und die US-amerikanische ballistische Kurzstreckenrakete „ATACMS“. Mit einer Reichweite, die das russische Staatsgebiet erreichen kann. Hinzukommen soll das Kampfflugzeug F-16, von dem die Russen behaupten, es könne auch als Träger taktischer Atomwaffen dienen, weswegen die Unruhe in Russlands Sicherheitskreisen wachse. Russische Sicherheitskreise fordern ein Vorgehen gegen die westlichen Unterstützer der Ukraine – also den Westen – sowie gegen die Ukraine selbst, der es immer wieder gelingt, der größten nuklearen Supermacht schmähliche Schläge zu versetzen. Auch in der russischen Öffentlichkeit macht sich der Unmut über die ausbleibenden Erfolge breit.

Putin unter Erfolgsdruck

Die russische Propaganda hat sich, wie es bei Kriegspropaganda auf allen Seiten typisch ist, mit ihren formulierten Kriegszielen in eine Sackgasse begeben. Die Gesellschaft ist auf Kurs und erwartet nun den Sieg. In der Ukraine und im Westen ist es geradezu spiegelbildlich. Diese Unzufriedenheit sowohl in der Gesellschaft als auch die Furcht vor einem 3. Weltkrieg hat nun Sergej Karaganov, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Auswärtige und Verteidigungspolitik, jüngst in einem Beitrag mit dem Titel: „How to prevent a Third World War“ („Wie ein dritter Weltkrieg zu vermeiden ist“) thematisiert.

Karaganov nimmt beide Ebenen ins Visier – den Krieg gegen die Ukraine als auch den übergeordneten Krieg um die Neuvermessung der Welt, mithin die neue multipolare Weltordnung. In dieser spiele Russland im Nicht-Westen („Global Majority“) eine zentrale Rolle. Denn der Krieg um die Ukraine sei auch der Krieg um die neue Weltordnung. Im Kampf um die Ukraine sowie um den russischen Gestaltungsanspruch bei der Formierung der neuen multipolaren Weltordnung bestünde die Gefahr des Abgleitens in den 3. Weltkrieg. Der Westen habe seit über 500 Jahren seine Interessen der Welt aufgedrückt und die Welt beherrscht. Nun jedoch müsse der Westen gezwungen werden, die neue multipolare Realität anzuerkennen. Aber genau hier liege das Problem: Der Druck auf den Westen berge die immense Gefahr, in den 3. Weltkrieg zu führen, wenn dieser nicht nachgebe.

„escalate to de-escalate“

Um diese Katastrophe abzuwenden, greift Karaganov zur desaströsen Strategie der „Eskalation zur De-Eskalation“ („escalate to de-escalate“). Diese Strategie besagt vereinfacht, dass in diesem Falle Russland mit dem Nuklearwaffeneinsatz offensiv drohen müsse. Wenn dies nicht zum gewünschten Erfolg führe, müsse ein umfassender, aber auf Europa begrenzter Nuklearschlag erfolgen, um dem Westen klar zu machen, dass Russland es sehr ernst meine und bereit sei, weiterzugehen. („Therefor, if nuclear weapons will have to be used (God forbid), the strike should be of a sufficiently large proportion. […] Fear would be restored if it were to be used in Europe, still it plays the key role in the global media agenda.“)

Die dahinterstehende Prognose: Der Westen werde dann zur Einsicht gebracht und ziehe sich zurück bzw. würde russische Interessen respektieren. Die bisherigen, formulierten Roten Linien Moskaus seien durch den Westen angesichts russischem Nichthandelns stets überschritten worden. Der Westen habe die Eskalationsdominanz an sich gerissen, weil Russland es zugelassen habe. Damit habe Russland sich selbst als Atommacht entwertet. Mit der Anwendung der desaströsen „escalate to de-escalate“-Strategie soll die Eskalationsdominanz wieder an Russland fallen.

Das Problem dieser Strategie angewandt auf Europa ist jedoch zweierlei: Erstens, was ist, wenn die russische Drohung nicht fruchtet? Dann müsste der Logik dieser Strategie folgend ein umfassender Nuklearschlag gegen Europa folgen. Und damit ergibt sich die zweite Problematik: Der eigentliche politische Adressat, die westliche Führungsnation USA, bliebe außen vor. Europa würde nuklear zerstört – die USA hingegen nicht. Denn sie liegen weit hinter dem großen Teich. Und ob die USA trotz Artikel 5 des NATO-Vertrages tatsächlich bereit wären, nach einem solchen russischen Nuklearschlag auch ihren Kontinent für das dann bereits zerstörte Europa zu opfern oder eher dem Vietnam- und Afghanistan-Paradigma folgen würden, d.h., die Europäer sich selbst überließen, darüber spekulieren europäische Sicherheitsexperten seit den 1960er Jahren.

Kritische Stimmen und Falken in Deutschland

Das Abrutschen in einen unmittelbaren militärischen Schlagabtausch zwischen dem Westen und Russland sehen nicht nur russische, sondern auch hiesige Experten wie der ehemalige Generalinspekteur a.D. H. Kujat, der damalige Sicherheitsberater Helmut Kohls, Horst Teltschik, und der Sohn des ehemaligen Vaters der Ostpolitik, Peter Brandt, die dies kürzlich in einem Appell in dem Schweizer Medium Zeitgeschehen im Fokus mit dem Titel „Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden“ ausführten. Auch andere, wie der emeritierte Politikwissenschaftler August Pradetto von der Bundeswehr-Universität Hamburg und der Politikwissenschaftler Johannes Varwick, warnen vor der Entgrenzung des Krieges angesichts immer weiterer Waffenlieferungen mit immer besseren Leistungsmerkmalen wie Reichweite und Zerstörungskraft. Die Kritiker dieses fatalen Eskalationskurses werden medial ausgegrenzt und bisweilen diffamiert. Ein Harald Kujat muss seit geraumer Zeit über das EMMA-Magazin und das Schweizer Medium Zeitgeschehen im Fokus seine Kritik äußern, da ihm der mainstreammediale Zugang versperrt wird.

Auf der anderen Seite stehen unsere Falken, die sich der mainstreammedialen Unterstützung sicher sein können, egal wie absurd ihre Aussagen sein mögen. Als besonders hofierte „Experten“ gelten Roderich Kiesewetter sowie wie die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann. So übt sich Strack-Zimmermann voller Selbstbewusstsein in Küchenpsychologie, Putin ist zu ängstlich für die Atombombe“, und unterstreicht damit nicht nur ihre Ahnungslosigkeit im Verstehen anderer kulturell geprägter Mentalitäten, sondern setzt unser Land massiven Gefahren aus. Denn auch solche Aussagen werden von Moskau durchaus wahrgenommen und bewertet. Ihre psychologischen „Kompetenzen“ unterstellen schlichtweg, egal was die Russen als Rote Linien ausgeben und der Westen diese in Form von Waffenlieferungen überschreitet, die Russen werden nicht entsprechend reagieren. Damit befinden sich unsere Hardliner in bester Gesellschaft. So publizierte die Washington Post Anfang Juni einen Beitrag unter dem Titel Biden shows growing appetite to cross Putins’s red lines“ mit Zitaten aus dem Umfeld der US-Regierung, die darauf verweisen, die US-Regierung teste die Roten Linien Russlands immer neu durch Übertreten derselben aus. Unter den zitierten Aussagen beispielsweise diese: „Russland hat seine Roten Linien so häufig selbst entwertet, indem es sagt, bestimmte Maßnahmen (des Westens, A. Neu) würden als inakzeptabel betrachtet, und handelt dann doch nicht, wenn sie geschehen.“

Roten Linien – nicht ganz so rot?

Und tatsächlich hat Russland seinen Drohungen hinsichtlich des Überschreitens Roter Linien bislang keine Taten folgen lassen. Ein besonderer Hardliner im folgenlosen Rausposaunen russischer Entschlossenheit ist Dmitri Medwedew, früherer russischer Präsident und jetziger stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates der Russischen Föderation sowie Putin-Vertrauter. Mehrfach hat er sich zum Einsatz nuklearer Waffensysteme gegen den Westen und die Ukraine geäußert. Doch seinen dezidierten Verlautbarungen sind bislang keine Taten gefolgt – zum Glück. Noch scheint der russische Präsident, der Letztentscheider, tatsächlich vor Vergeltungsschlägen gegen die westlichen Unterstützer der Ukraine zurückzuschrecken.

Die Gründe für das Zaudern können vielfältig sein: Angefangen von der Furcht, die Kontrolle über die mögliche Eigendynamik des Krieges zu verlieren bis hin zu einem ausgewachsenen Nuklearkrieg – auch unter Einsatz strategischer Nuklearwaffen, die die USA und umgekehrt der nukleare Zweitschlag der USA die Russische Föderation auslöschen würden. Aber wie lange kann Wladimir Putin dem Druck seines Sicherheitsapparates und auch Teilen der öffentlichen Meinung widerstehen, ohne sein Gesicht oder gar seinen Posten als Staatspräsident zu verlieren? Auch hier wieder wirkt die selbstgestellte Propagandafalle. Diese Frage ist nicht nur offen, sondern diese Problematik wird in der westlichen Debatte nicht einmal zur Diskussion gestellt. Man geht davon aus, dass die Russen nur bluffen. Kurzum: Keine Panik – der Westen hat alles unter Kontrolle und die Russen bluffen nur.

Wann ist die Rote Linie wirklich rot?

Die westlichen Waffenlieferungen gehen währenddessen unverdrossen weiter. Nun steht, wie bereits oben erwähnt, die Entsendung von F-16-Kampfflugzeugen an. Und Deutschland: Deutschlands zunehmendes Hineinschlittern in den Krieg begann mit der Lieferung von Schutzhelmen zu Anfang des Krieges über die Haubitze 2000, den Schützenpanzern Marder und den Kampfpanzern Leopard 1 und 2. Jetzt wird auf eine Entscheidung über die Lieferung des luftgestützten Marschflugkörpers „Taurus“ mit einer Reichweite von rund 500 Kilometern gedrängt. Hardliner wie Strack-Zimmermann und Kiesewetter vertrauen der Ukraine, dass diese mit deutschen Taurus-Marschflugkörpern keine militärischen Schläge gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet ausüben würde.

Tatsächlich ist es völkerrechtlich konform, wenn die Ukraine als angegriffenes Land entsprechend militärisch zurückschlüge und -schlägt. Auch mit Waffensystemen, die von Drittländern geliefert werden. Aber ob es sicherheitspolitisch klug ist, daran kann man mehr als zweifeln. Die Russische Föderation ist die größte Nuklearmacht der Welt. Die Gefahr, dass sie tatsächlich auf die nukleare Komponente gegen die Ukraine oder sogar gegen den Westen setzt, wächst mit jeder Lieferung. Die rechtliche Grauzone von einer reinen Unterstützung der Ukraine durch den Westen und auch durch Deutschland bis hin zur tatsächlichen Kriegsbeteiligung ist das, was sie ist: Grau! Und die Entscheidung, ab wann Russland den Westen oder einzelne westliche Staaten als Kriegspartei bewertet, liegt nicht bei Kiesewetter, Strack-Zimmermann und nicht einmal bei der Bundesregierung oder der US-Regierung – sie liegt in Moskau und nur dort.

Beim Pokern verzockt

Ein weiteres Verzocken wäre womöglich tödlich für Europa. Wer hat denn in der politischen Klasse des Westens und der Medien den jahrelangen Kritiken und Drohungen der russischen Seite, auch die Sicherheitsinteressen Russlands zu respektieren, ernst genommen? Auch die letzte Aufforderung Russlands – in einem Vertragsentwurf gegossen -, die NATO-Erweiterung zu stoppen und die räumliche Ausdehnung der militärischen Infrastruktur und der Truppen der NATO auf das Jahr 1997 zurückzufahren[*], wurde abgelehnt. Russland habe kein Vetorecht bei den Erweiterungsfragen der NATO, war stets der Tenor. Zuletzt eben in dem Antwortschreiben der NATO im Januar 2022 auf die Forderungen Russlands an die NATO und die USA.

Und dann kam, für viele überraschend, der 24. Februar 2022. Der Westen hat sich beim Pokern mit Russland um die Ukraine verzockt. Zugegeben, auch für mich war der Angriff überraschend – nicht so sehr, weil ich die dunklen Wolken am Himmel nicht sah, sondern weil ich es nicht wahrhaben wollte. Hier ein Auszug aus meinem Artikel in Russland kontrovers vom 22. Dezember 2021, also zwei Monate vor dem russischen Angriff:

„(…) Sollte (..) die westliche Außen- und Sicherheitspolitik nicht (…) zu seriösen Verhandlungen im Sinn und Geiste gemeinsamer und ungeteilter Sicherheit übergehen, gibt es hinreichend Gründe für eine sehr pessimistische Entwicklung. Europa träte sehr düsteren Zeiten entgegen – und das nicht erst in zehn Jahren.

Wenn selbst zutiefst überzeugte Transatlantiker mit hoher außen- und sicherheitspolitischer Expertise einen Aufruf „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ am 5. Dezember 2021 veröffentlichen, zeigt das, wie weit die Eskalation vorangeschritten und Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung real geworden ist.“

Woher nehmen also „unsere Hardliner“ den Optimismus, dass die russische Führung nicht zum äußersten Mittel greifen wird? Es ist reine Spekulation, die jedoch gefährlich für Europa werden kann. Ob und wie lange Putin blufft, weiß nur er.

Titelbild: Bordovski Yauheni/shutterstock.com


[«*] „Article 4 The Russian Federation and all the Parties that were member States of the North Atlantic Treaty Organization as of 27 May 1997, respectively, shall not deploy military forces and weaponry on the territory of any of the other States in Europe in addition to the forces stationed on that territory as of 27 May 1997. With the consent of all the Parties such deployments can take place in exceptional cases to eliminate a threat to security of one or more Parties.“
Quelle mid.ru