In diesem umfangreichen Essay entwirft Jeffrey Sachs die Grundzüge für eine neue, friedliche und nachhaltige Außenpolitik für die EU. In diesem ersten Teil analysiert und korrigiert er zunächst die irrigen Prämissen, die dem gegenwärtigen Kurs zugrunde liegen. Im zweiten Teil zeigt er die hohen Kosten dieser verfehlten Politik auf und entwickelt konkrete Vorschläge für eine umsetzbare Neuausrichtung. Von Jeffrey D. Sachs, aus dem Englischen übersetzt von Klaus-Dieter Kolenda.
Vorbemerkung
Jeffrey Sachs [1] ist ein herausragender Wirtschaftswissenschaftler der Columbia-Universität in New York und seit Jahrzehnten ein weltweit tätiger UN-Diplomat. Er kritisiert seit vielen Jahren grundsätzlich die US-amerikanische Außenpolitik und setzt sich in vielen Ländern für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung ein. Der vorliegende umfangreiche und aktuelle Essay von Sachs [2] beschäftigt sich vor allem mit der gescheiterten europäischen Außenpolitik in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Damit ist die Außenpolitik der EU gemeint. Diese zeichnet sich durch eine vasallenartige Unterwürfigkeit gegenüber den USA und eine unnötige, aber gefährliche Feindschaft gegenüber Russland aus. Stattdessen sollte sie die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen und die Möglichkeiten der Diplomatie nutzen, um Frieden und nationale Interessen der EU-Staaten zu fördern. Die Übertragung ins Deutsche erfolgte von Klaus-Dieter Kolenda mit freundlicher Genehmigung von Sonia Sachs. Dabei wurden vom Übersetzer einige Zwischenüberschriften ergänzt und einige Passagen durch Fettdruck hervorgehoben.
Teil 1: Die Europäische Union braucht eine neue Außenpolitik
Die Europäische Union (EU) braucht eine neue Außenpolitik, die sich an den wahren Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen Europas orientiert. Die EU befindet sich derzeit in einer selbst geschaffenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Falle, die durch eine gefährliche Feindschaft gegenüber Russland, Misstrauen gegenüber China und eine extreme Verwundbarkeit von Seiten der Vereinigten Staaten gekennzeichnet ist. Europas Außenpolitik ist fast ausschließlich von der Angst vor Russland und China getrieben – was zu einer sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten geführt hat.
Die Unterwürfigkeit Europas gegenüber den USA rührt vor allem von der vorherrschenden Angst vor Russland her, einer Angst, die durch die russophoben Staaten Osteuropas und ein falsches Narrativ über den Ukraine-Krieg noch verstärkt wird.
Basierend auf dem Glauben, dass Russland ihre größte Sicherheitsbedrohung ist, ordnet die EU alle ihre anderen außenpolitischen Themen – solche wirtschaftlicher Art und in den Bereichen Handel, Umwelt, Technologie und Diplomatie – den USA unter. Ironischerweise klammert sie sich eng an Washington an, obwohl die Vereinigten Staaten in ihrer eigenen Außenpolitik gegenüber der EU schwächer, instabiler, unberechenbarer, irrationaler und gefährlicher geworden sind, sogar bis zu dem Punkt, an dem sie die europäische Souveränität in Grönland offen bedrohen.
Um eine neue Außenpolitik zu entwerfen, muss Europa die falsche Prämisse seiner extremen Verwundbarkeit gegenüber Russland überwinden. Das Narrativ von Brüssel, der NATO und dem Vereinigten Königreich besagt, dass Russland von Natur aus expansionistisch ist und Europa überrennen wird, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Die sowjetische Besetzung Osteuropas von 1945 bis 1991 wird heute als ein Beweis für diese Bedrohung angesehen. Dieses falsche Narrativ beruht jedoch auf einem Missverständnis des russischen Verhaltens sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
Der erste Teil dieses Essays zielt darauf ab, die falsche Prämisse zu korrigieren, dass Russland eine schreckliche Bedrohung für Europa darstellt. Der zweite Teil befasst sich mit einer neuen europäischen Außenpolitik, sobald Europa seine irrationale Russophobie überwunden hat.
Falsche Prämisse eines russischen Imperialismus gegenüber dem Westen
Europas Außenpolitik geht von einer angeblichen Sicherheitsbedrohung Europas durch Russland aus. Doch diese Prämisse ist falsch.
Russland wurde in den letzten zwei Jahrhunderten wiederholt von den westlichen Großmächten (insbesondere Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten) überfallen und sucht seit Langem Sicherheit durch eine Pufferzone zwischen sich und den Westmächten.
Die stark umkämpfte Pufferzone umfasst das heutige Polen, die Ukraine, Finnland und die baltischen Staaten. Diese Region zwischen den Westmächten und Russland ist für die wichtigsten Sicherheitsdilemmata verantwortlich, mit denen Westeuropa und Russland konfrontiert sind.
Zu den großen westlichen Kriegen, die seit 1800 gegen Russland geführt wurden, gehören:
- die französische Invasion in Russland im Jahr 1812 (Napoleonische Kriege);
- die britische und französische Invasion Russlands 1853-1856 (Krimkrieg);
- die deutsche Kriegserklärung an Russland am 1. August 1914 (Erster Weltkrieg);
- die Intervention der Alliierten im Russischen Bürgerkrieg 1918-1922 (Russischer Bürgerkrieg) und
- der deutsche Überfall auf Russland 1941 (Zweiter Weltkrieg).
Jeder dieser Kriege stellte eine existenzielle Bedrohung für das Überleben Russlands dar.
Aus russischer Sicht waren das Scheitern der Entmilitarisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gründung der NATO, die Eingliederung Westdeutschlands in die NATO im Jahr 1955, die Osterweiterung der NATO nach 1991 und die anhaltende Expansion von US-Militärstützpunkten und Raketensystemen in Osteuropa in der Nähe der russischen Grenzen die größten Bedrohungen für die nationale Sicherheit Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg.
Auch Russland ist mehrfach in den Westen einmarschiert:
- Russlands Angriff auf Ostpreußen 1914;
- der Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939, nach dem Polen zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt und 1940 die baltischen Staaten annektiert wurden;
- der Überfall auf Finnland im November 1939 (der „Winterkrieg“);
- die sowjetische Besetzung Osteuropas von 1945 bis 1989 und
- die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022.
Diese russischen Aktionen werden von Europa als objektiver Beweis für Russlands Westexpansionismus angesehen, doch eine solche Sichtweise ist naiv, ahistorisch und propagandistisch.
In allen fünf Fällen handelte Russland, um seine nationale Sicherheit zu schützen – wie es sie sah –, und betrieb keinen Expansionismus nach Westen um seiner selbst willen. Diese grundlegende Wahrheit ist der Schlüssel zur Lösung des Konflikts zwischen Europa und Russland heute. Russland strebt keine Expansion nach Westen an.
Für Russland ist zentral das Streben nach nationaler Sicherheit. Doch der Westen hat es lange versäumt, Russlands zentrale nationale Sicherheitsinteressen anzuerkennen, geschweige denn zu respektieren.
Lasst uns deshalb diese fünf Fälle der angeblichen Westexpansion Russlands näher ansehen.
Russlands Angriff auf Ostpreußen 1914
Der erste Fall, der russische Angriff auf Ostpreußen 1914, kann schnell abgehakt werden. Denn: Am 1. August 1914 hatte das Deutsche Reich als erstes Russland den Krieg erklärt. Der russische Einmarsch in Ostpreußen war eine direkte Reaktion auf die deutsche Kriegserklärung.
Der Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939
Der zweite Fall, die Vereinbarung Sowjetrusslands mit Hitlers Drittem Reich zur Teilung Polens 1939 und die Annexion der baltischen Staaten 1940, wird im Westen als der klarste Beweis für die russische Niedertracht angesehen. Aber auch dies ist eine vereinfachende und falsche Lesart der Geschichte.
Wie Historiker wie E. H. Carr, Stephen Kotkin und Michael Jabara Carley [3] sorgfältig dokumentiert haben, wandte sich Stalin 1939 an Großbritannien und Frankreich, um ein Verteidigungsbündnis gegen Hitler zu bilden, der seine Absicht erklärt hatte, im Osten Krieg gegen Russland zu führen (für „Lebensraum“ im Osten, die Versklavung der slawischen Bevölkerung und die Zerstörung des Bolschewismus).
Stalins Versuch, ein Bündnis mit den Westmächten zu schmieden, wurde jedoch komplett zurückgewiesen. Polen weigerte sich sogar, zuzulassen, dass im Falle eines Krieges mit Deutschland sowjetische Truppen polnisches Territorium überqueren durften. Der Hass der westlichen Eliten auf den Sowjetkommunismus war mindestens so groß wie ihre Angst vor Hitler. In der Tat lautete damals ein gängiger Spruch [4] unter den britischen rechten Eliten in den späten 1930er-Jahren: „Besser Hitlerismus als Kommunismus“.
Da es nicht gelang, ein Verteidigungsbündnis mit den Westmächten abzuschließen, zielte Stalins Politik in der Folge darauf ab, eine Pufferzone gegen die bevorstehende deutsche Invasion Russlands zu schaffen.
Die Teilung Polens und die Annexion der baltischen Staaten waren taktische Ziele, um Zeit für die bevorstehende Schlacht von Armageddon mit Hitlers Armeen zu gewinnen, die am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Rahmen der „Operation Barbarossa“ begann. Die vorangegangene Teilung Polens und die Annexion der baltischen Staaten könnten die Invasion verzögert und die Sowjetunion vor einer schnellen Niederlage durch Hitler bewahrt haben.
Russlands Winterkrieg gegen Finnland 1939
Der dritte Fall, Russlands Winterkrieg mit Finnland, wird in Westeuropa (und insbesondere in Finnland) in ähnlicher Weise als Beweis für den expansionistischen Charakter Russlands angesehen.
Wieder einmal war die grundlegende Motivation Russlands defensiv und nicht offensiv. Russland befürchtete, dass die deutsche Invasion zum Teil über Finnland führen und dann Leningrad schnell von Hitler eingenommen werden würde. Die Sowjetunion schlug Finnland daher vor, Territorium mit der Sowjetunion zu tauschen (insbesondere den Karelischen Isthmus und einige Inseln im Finnischen Meerbusen im Gegenzug für die Abtretung russischer Gebiete), um Leningrad besser verteidigen zu können. Finnland lehnte diesen Vorschlag ab, und die Sowjetunion marschierte am 30. November 1939 in Finnland ein. In der Folge schloss sich Finnland Hitlers Armeen im Krieg gegen die Sowjetunion während des sogenannten „Fortsetzungskrieges“ zwischen 1941 und 1944 an.
Die sowjetische Besetzung Osteuropas von 1945 bis 1989
Der vierte Fall, die sowjetische Besetzung Osteuropas (und die fortgesetzte Annexion der baltischen Staaten) während des Kalten Krieges, wird in Europa als ein weiterer klarer Beweis für Russlands fundamentale Bedrohung der europäischen Sicherheit gewertet.
Die sowjetische Besatzung war in der Tat brutal, aber auch sie hatte eine defensive Motivation, die in der westeuropäischen und amerikanischen Erzählung völlig übersehen wird.
Die Sowjetunion trug die Hauptlast des Sieges über Hitler und verlor im Krieg die bestürzende Anzahl von 27 Millionen Bürgern. Russland hatte deshalb am Ende des Krieges eine vordringliche Forderung, dass seine Sicherheitsinteressen durch einen Vertrag garantiert würden, der es vor künftigen Bedrohungen aus Deutschland und dem Westen im Allgemeinen schützt.
Der Westen, nun angeführt von den Vereinigten Staaten, verweigerte sich dieser grundlegenden Sicherheitsforderung der Sowjetunion. Der Kalte Krieg ist das Ergebnis der Weigerung des Westens, die vitalen Sicherheitsbedenken Russlands zu respektieren. Natürlich sagt die Geschichte des Kalten Krieges entsprechend der westlichen Erzählung genau das Gegenteil, dass der Kalte Krieg einzig und allein aus Russlands kriegerischen Versuchen resultierte, die Welt zu erobern!
Hier ist die eigentliche Geschichte, die den Historikern gut bekannt, aber der Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten und Europa fast völlig unbekannt ist.
Am Ende des Krieges strebte die Sowjetunion einen Friedensvertrag an, der ein vereintes, neutrales und entmilitarisiertes Deutschland begründen sollte. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 [5], an der die Führer der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten teilnahmen, einigten sich die drei alliierten Mächte auf „die vollständige Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands und die Vernichtung oder Kontrolle der deutschen Industrie, die für die militärische Produktion verwendet werden könnte“. Deutschland sollte vereinigt, befriedet und entmilitarisiert werden. All dies sollte durch einen Vertrag zur Beendigung des Krieges abgesichert werden. Tatsächlich haben die USA und das Vereinigte Königreich jedoch eifrig daran gearbeitet, dieses Kernprinzip zu untergraben.
„Operation Unthinkable“
Bereits im Mai 1945 beauftragte Winston Churchill seinen militärischen Generalstabschef damit, einen Kriegsplan auszuarbeiten, um Mitte 1945 einen Überraschungsangriff gegen die Sowjetunion zu beginnen, der den Codenamen „Operation Unthinkable“ [6] trug.
Während ein solcher Krieg von den britischen Militärplanern als undurchführbar erachtet wurde, setzte sich schnell die Vorstellung durch, dass sich die Amerikaner und Briten auf einen zukünftigen Krieg mit der Sowjetunion vorbereiten sollten. Die Kriegsplaner gingen davon aus, dass der wahrscheinliche Zeitpunkt für einen solchen Krieg die frühen 1950er-Jahre sein sollte.
Churchills Ziel war es offenbar, zu verhindern, dass Polen und andere Länder Osteuropas in die sowjetische Einflusssphäre gerieten. Auch in den Vereinigten Staaten sahen führende Militärplaner die Sowjetunion innerhalb weniger Wochen nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 als Amerikas nächsten Feind an.
Die USA und Großbritannien rekrutierten schnell Nazi-Wissenschaftler und hochrangige Geheimdienstmitarbeiter (wie z.B. Reinhard Gehlen, einen Nazi-Führer, der von Washington beim Aufbau eines Auslandsgeheimdienstes im Nachkriegs-Westdeutschland unterstützt wurde), um bei der Planung des bevorstehenden Krieges mit der Sowjetunion mitzuwirken.
Remilitarisierung Deutschlands wahrer Grund für den „Kalten Krieg“
Der „Kalte Krieg“ brach vor allem deshalb aus, weil die Amerikaner und Briten die in Potsdam vereinbarte deutsche Wiedervereinigung und Entmilitarisierung ablehnten.
Stattdessen verhinderten die Westmächte die deutsche Wiedervereinigung, indem sie aus den drei Besatzungszonen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs die Bundesrepublik Deutschland (BRD) bildeten. Die BRD sollte unter amerikanischer Ägide reindustrialisiert und remilitarisiert werden. 1955 wurde die Bundesrepublik in die NATO aufgenommen.
Während Historiker leidenschaftlich darüber debattiert haben, wer sich an die Vereinbarungen von Potsdam gehalten hat und wer nicht (z.B. mit dem Hinweis des Westens auf die sowjetische Weigerung, in Polen eine wirklich repräsentative Regierung zuzulassen, wie es in Potsdam vereinbart worden war), besteht kein Zweifel daran, dass die Remilitarisierung der Bundesrepublik Deutschland durch den Westen die Hauptursache für den Kalten Krieg war.
1952 schlug Stalin eine Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage von Neutralität und Entmilitarisierung vor. Dieser Vorschlag wurde von den Vereinigten Staaten abgelehnt.
1955 einigten sich die Sowjetunion und Österreich darauf, dass die Sowjetunion ihre Besatzungstruppen aus Österreich abziehen würde, wenn Österreich im Gegenzug dazu eine dauerhafte Neutralität zusichern würde. Der österreichische Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 [7] von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten, Frankreich und dem Vereinigten Königreich gemeinsam mit Österreich unterzeichnet und führte damit zum Ende der Besatzung.
Ziel der Sowjetunion war es dabei nicht nur, die Spannungen um Österreich zu lösen, sondern den Vereinigten Staaten auch ein erfolgreiches Modell des sowjetischen Rückzugs aus Europa in Verbindung mit Neutralität zu zeigen. Wieder einmal lehnten die Vereinigten Staaten den sowjetischen Appell ab, den Kalten Krieg auf der Grundlage der deutschen Neutralität und Entmilitarisierung zu beenden.
Noch 1957 plädierte der amerikanische Altmeister für Angelegenheiten der Sowjetunion, George Kennan, in seiner dritten Reith-Vorlesung für die BBC [8] öffentlich und leidenschaftlich dafür, dass sich die Vereinigten Staaten mit der Sowjetunion auf einen gegenseitigen Truppenabzug aus Europa einigen sollten. Die Sowjetunion, so betonte Kennan, ziele nicht auf eine militärische Invasion Westeuropas ab oder sei daran interessiert. Die Kalten Krieger der USA, angeführt von John Foster Dulles, hatten jedoch nichts dafür übrig. Bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde kein Friedensvertrag mit Deutschland unterzeichnet, um den Zweiten Weltkrieg zu beenden.
Es ist erwähnenswert, dass die Sowjetunion nach 1955 die Neutralität Österreichs und auch der anderen neutralen Länder Europas (einschließlich Schweden, Finnland, der Schweiz, Irlands, Spaniens und Portugals) respektiert hat.
Der finnische Präsident Alexander Stubb hat kürzlich erklärt, dass die Ukraine die Neutralität aufgrund der negativen Erfahrungen Finnlands ablehnen sollte (wobei die finnische Neutralität im Jahr 2024 endete, als das Land der NATO beigetreten ist). Das ist jedoch ein bizarrer Gedanke. Finnland blieb während der Neutralität im Frieden, erreichte einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Wohlstand und stand an der Spitze der Weltliga, wenn es um das Glücksempfinden der Bevölkerung ging (laut World Happiness Report).
Kennedy wollte den Kalten Krieg beenden und wurde ermordet
Präsident John F. Kennedy zeigte den möglichen Weg zur Beendigung des Kalten Krieges auf, der auf der gegenseitigen Achtung der Sicherheitsinteressen aller Seiten beruhte. Kennedy blockierte den Versuch des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, sich Atomwaffen von Frankreich zu beschaffen, und zerstreute damit die sowjetischen Bedenken vor einer atomaren Bewaffnung Deutschlands.
Auf dieser Grundlage verhandelte JFK erfolgreich mit seinem sowjetischen Amtskollegen Nikita Chruschtschow den Vertrag über das teilweise Verbot von Nuklearversuchen. Kennedy wurde höchstwahrscheinlich einige Monate später von einer Gruppe von CIA-Agenten im Gefolge seiner Friedensinitiative ermordet. Dokumente, die im Jahr 2025 veröffentlicht wurden, bestätigen den seit Langem gehegten Verdacht, dass Lee Harvey Oswald direkt von James Angleton, einem hochrangigen CIA-Beamten, als Agent geführt wurde.
Die nächste Ouvertüre der USA zum Frieden mit der Sowjetunion begann unter Richard Nixon. Auch er wurde durch die Watergate-Affäre zu Fall gebracht, die ebenfalls Anzeichen für eine geheime CIA-Operation aufweist, die nie geklärt wurde.
Gorbatschow wurde versprochen, dass sich die NATO nicht ausdehnen würde
Michail Gorbatschow beendete schließlich den Kalten Krieg, indem er den Warschauer Pakt einseitig auflöste und die Demokratisierung Osteuropas aktiv vorantrieb.
Ich habe selbst an einigen Veranstaltungen in diesem Zusammenhang teilgenommen und war Zeuge von Gorbatschows Friedensstiftungen. So forderte Gorbatschow im Sommer 1989 die kommunistische Führung Polens auf, eine Koalitionsregierung mit den von der Solidarnosc-Bewegung angeführten Oppositionskräften zu bilden.
Das Ende des Warschauer Pakts und die Demokratisierung Osteuropas, alles unter der Leitung Gorbatschows, führten schnell zu den Aufrufen des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl zur Wiedervereinigung Deutschlands. Dies führte 1990 zu den Wiedervereinigungsverträgen zwischen der BRD und der DDR und zum sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier alliierten Mächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion.
Die Vereinigten Staaten und Deutschland haben Gorbatschow im Februar 1990 eindeutig versprochen, dass sich die NATO im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung „keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen“ [9] würde, eine Tatsache, die heute von den Westmächten weitgehend geleugnet wird, die aber leicht zu überprüfen ist. Dieses zentrale Versprechen, die NATO-Erweiterung nicht zu erweitern, wurde mehrfach gegeben, aber es wurde nicht in den Text des Zwei-plus-Vier-Vertrages aufgenommen, da es bei diesem Abkommen um die deutsche Wiedervereinigung und nicht um die NATO-Osterweiterung ging.
Die Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022
Der fünfte Fall, der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022, gilt im Westen erneut als Beleg für den unverbesserlichen russischen Westimperialismus. Das Lieblingswort westlicher Medien, Experten und Propagandisten ist, dass Russlands Invasion „unprovoziert“ [10] war und daher ein Beweis für Putins unerbittliches Bestreben ist, das Russische Reich nicht nur wiederherzustellen, sondern weiter nach Westen vorzudringen, was bedeutet, dass Europa sich auf einen Krieg mit Russland vorbereiten muss. Das ist jedoch eine absurde große Lüge, aber sie wird von den Mainstream-Medien so oft wiederholt, dass sie in Europa weithin geglaubt wird.
Fakt ist, dass die russische Invasion im Februar 2022 vom Westen so gründlich provoziert wurde, dass man vermuten kann, dass es sich tatsächlich um einen amerikanischen Plan handelte, um die Russen in den Krieg zu locken, um Russland zu besiegen oder zu schwächen. Das ist eine glaubwürdige Behauptung [11], wie eine lange Reihe von Äußerungen zahlreicher US-Beamter bestätigt [12]. Nach der Invasion erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin [13], Washingtons Ziel sei es, „Russland so zu schwächen, dass es nicht mehr in der Lage ist, die Art von Dingen zu tun, die es bei der Invasion in der Ukraine getan hat. Die Ukraine kann gewinnen, wenn sie die richtige Ausrüstung und die richtige Unterstützung hat.“
Die wichtigste amerikanische Provokation Russlands bestand darin, die NATO entgegen der Versprechen von 1990 nach Osten auszudehnen, mit einem wichtigen Ziel, Russland mit NATO-Staaten in der Schwarzmeerregion zu umzingeln, wodurch Russland nicht mehr in der Lage wäre, seine auf der Krim stationierte Seemacht in das östliche Mittelmeer und den Nahen Osten zu projizieren.
Im Wesentlichen war dieses Ziel der USA dasselbe wie das Ziel von Lord Palmerston und Napoleon III. im Krimkrieg: die russische Flotte aus dem Schwarzen Meer zu verbannen. Zu den NATO-Staaten würden die Ukraine, Rumänien, Bulgarien, die Türkei und Georgien gehören und damit eine Schlinge bilden, um Russlands Seemacht am Schwarzen Meer zu erdrosseln.
Brzezinski beschrieb diese Strategie 1997 in seinem Buch „Das große Schachbrett“, in dem er behauptete, dass Russland sich mit Sicherheit dem Willen des Westens beugen würde, da es keine andere Wahl hatte, als dies zu tun [14]. Brzezinski wies auch ausdrücklich die Idee zurück, dass Russland sich jemals mit China gegen Europa verbünden würde.
Die gesamte Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 ist geprägt von westlicher Hybris (wie der Historiker Jonathan Haslam seinen hervorragenden Bericht [15] betitelte), aufgrund dessen die Vereinigten Staaten und Europa glaubten, sie könnten die NATO und amerikanische Waffensysteme (wie z.B. Aegis-Raketen) ohne Rücksicht auf Russlands nationale Sicherheitsbedenken nach Osten verlagern. Die Liste der westlichen Provokationen ist zu lang, um sie hier im Detail aufzuführen, aber eine kurze Zusammenfassung enthält die folgenden Fakten.
NATO-Osterweiterung seit 1999 und 2004 und Krieg gegen Serbien 1999 mit Abspaltung des Kosovo
Erstens: Entgegen der Versprechungen von 1990 begannen die Vereinigten Staaten die NATO-Osterweiterung mit den Ankündigungen des damaligen Präsidenten Bill Clinton im Jahr 1994. Zu dieser Zeit erwog Clintons Verteidigungsminister William Perry seinen Rücktritt wegen dieses rücksichtslosen Vorgehens der USA, entgegen früherer Versprechen.
Die erste Welle der NATO-Erweiterung fand 1999 statt, an der Polen, Ungarn und die Tschechische Republik beteiligt waren. Im selben Jahr bombardierten NATO-Truppen Russlands Verbündeten Serbien 78 Tage lang, um Serbien auseinanderzubrechen, und die NATO errichtete schnell einen neuen großen Militärstützpunkt in der abtrünnigen Provinz Kosovo.
Im Jahr 2004 umfasste die zweite Welle der NATO-Osterweiterung sieben Länder, darunter Russlands direkte Nachbarn im Baltikum und zwei Länder am Schwarzen Meer – Bulgarien und Rumänien.
Im Jahr 2008 erkannte der größte Teil der EU den Kosovo als unabhängigen Staat an, im Gegensatz zu den europäischen Beteuerungen, dass die europäischen Grenzen unantastbar seien.
Kündigung des ABM-Vertrags 2001 und des INF-Vertrags 2019 und Stationierung neuer ballistischer Raketensysteme in Polen und Rumänien
Zweitens haben die Vereinigten Staaten den Rahmen für die nukleare Rüstungskontrolle zerstört, indem sie 2002 einseitig aus dem Vertrag über die Abwehr ballistischer Raketen ausgestiegen sind. Im Jahr 2019 kündigte Washington in ähnlicher Weise den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme. Trotz der heftigen Einwände Russlands begannen die USA, antiballistische Raketensysteme in Polen und Rumänien aufzustellen, und behielten sich im Januar 2022 das Recht vor, solche Systeme auch in der Ukraine zu stationieren.
Tiefgreifende Beeinflussung der ukrainischen Innenpolitik
Drittens haben die Vereinigten Staaten die ukrainische Innenpolitik tiefgehend infiltriert und Milliarden von Dollar ausgegeben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, Medienkanäle zu schaffen und die ukrainische Innenpolitik zu steuern.
Die Wahlen in der Ukraine 2004-2005 gelten weithin als eine US-amerikanische Farbrevolution, bei der die Vereinigten Staaten ihren verdeckten und offenen Einfluss und ihre Finanzierung nutzten, um die Wahl zugunsten der von den USA unterstützten Kandidaten zu beeinflussen.
In den Jahren 2013 und 2014 spielten die Vereinigten Staaten eine direkte Rolle bei der Finanzierung der Maidan-Proteste und bei der Unterstützung des gewaltsamen Putsches, der den neutral gesinnten Präsidenten Viktor Janukowitsch stürzte und damit den Weg für ein ukrainisches Regime ebnete, das die NATO-Mitgliedschaft unterstützte.
Übrigens: Ich wurde kurz nach dem gewaltsamen Putsch vom 22. Februar 2014, der Janukowitsch stürzte, zu einem Besuch auf dem Maidan eingeladen. Die Rolle der amerikanischen Finanzierung der Proteste wurde mir von einer US-amerikanischen NGO erklärt, die tief in die Maidan-Ereignisse verwickelt war.
Planung einer NATO-Erweiterung um die Ukraine und Georgien seit 2008
Viertens drängten die Vereinigten Staaten ab 2008 die NATO gegen die Einwände mehrerer europäischer Staats- und Regierungschefs dazu, sich zur Erweiterung um die Ukraine und Georgien zu verpflichten. Der damalige US-Botschafter in Moskau, William J. Burns, telegrafierte ein inzwischen berüchtigtes Memo mit dem Titel „Nyet Means Nyet: Russia’s NATO Enlargement Redlines“ [16] nach Washington, in dem er erklärte, dass die gesamte russische politische Klasse zutiefst gegen eine NATO-Erweiterung um die Ukraine sei und dass sie befürchte, dass ein solcher Versuch zu Bürgerkriegen in der Ukraine führen würde.
Abspaltung des Donbass und Minsker Verträge
Fünftens haben sich die ethnisch russischen Regionen der Ostukraine (Donbass) nach dem Putsch von der neuen westukrainischen Regierung abgespalten, die durch den Putsch eingesetzt worden war. Russland und Deutschland einigten sich schnell auf die Minsker Vereinbarungen, nach denen die beiden abtrünnigen Regionen (Donezk und Lugansk) Teil der Ukraine bleiben sollten, jedoch mit lokaler Autonomie, nach dem Vorbild der lokalen Autonomie der ethnisch-deutschen Region Südtirol in Italien. Minsk II, das vom UN-Sicherheitsrat unterstützt wurde, hätte den Konflikt beenden können, aber die Regierung in Kiew entschied sich mit Unterstützung Washingtons, die Autonomie nicht umzusetzen. Das Scheitern der Umsetzung von Minsk II hat die Diplomatie zwischen Russland und dem Westen vergiftet.
Militärische Aufrüstung der Ukraine durch die USA und Bürgerkrieg im Donbass
Sechstens haben die Vereinigten Staaten die ukrainische Armee (aktiv plus Reserve) bis 2020 stetig auf rund eine Million Soldaten aufgestockt. Die Ukraine und ihre rechten paramilitärischen Bataillone (wie das Asow-Bataillon und der Rechte Sektor) führten wiederholte Angriffe auf die beiden abtrünnigen Regionen durch, wobei Tausende von Zivilisten im Donbass durch den Beschuss der Ukraine getötet wurden.
Vorschlag Russlands für ein Sicherheitsabkommen mit den USA
Siebtens: Ende 2021 legte Russland einen Entwurf eines russisch-amerikanischen Sicherheitsabkommens [17] vor, das vor allem ein Ende der NATO-Erweiterung forderte. Die Vereinigten Staaten lehnten die Forderung Russlands ab, die NATO-Osterweiterung zu beenden, und bekräftigten die NATO-Politik der „offenen Tür“. Danach hätten Drittländer wie Russland bei der NATO-Erweiterung kein Mitspracherecht. Die USA und europäische Länder bekräftigten wiederholt die zukünftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO.
Berichten zufolge soll der US-Außenminister dem russischen Außenminister im Januar 2022 auch mitgeteilt haben, dass die Vereinigten Staaten sich trotz der Einwände Russlands das Recht vorbehalten, Mittelstreckenraketen in der Ukraine zu stationieren [18].
Istanbuler Friedensverhandlungen direkt nach der russischen Invasion
Achtens: Nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 stimmte die Ukraine schnell Friedensverhandlungen zu, die auf einer Rückkehr zur Neutralität basierten. Diese Verhandlungen fanden in Istanbul unter Vermittlung der Türkei statt.
Ende März 2022 hatten Russland und die Ukraine ein gemeinsames Memorandum veröffentlicht, in dem sie über die Fortschritte bei einem Friedensabkommen berichteten. Am 15. April wurde ein Abkommensentwurf [19] vorgelegt, der einer Gesamtlösung nahekam. Zu diesem Zeitpunkt intervenierten die Vereinigten Staaten jedoch und teilten den Ukrainern mit, dass sie das Friedensabkommen nicht unterstützen würden, sondern stattdessen die Ukraine bei der Fortsetzung des Krieges unterstützen würden.
Übersetzung: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit.
Titelbild: Alexandros Michailidis, Focus Pix / Shutterstock
[«2] Jeffrey D. Sachs: A new Foreign Policy for Europe. JDS Website, August 2025
cirsd.org/en/horizons/horizons-summer-2025–issue-no-31/a-new-foreign-policy-for-europe
[«3] counterpunch.org/2019/08/26/the-hitler-stalin-pact-of-august-23-1939-myth-and-reality/
[«4] bbc.co.uk/bitesize/guides/zvkn8xs/revision/9
[«5] mzv.gov.cz/file/198471/Potsdam1111.pdf
[«6] nationalarchives.gov.uk/education/resources/cold-war-on-file/operation-unthinkable/
[«7] cvce.eu/en/recherche/unit-content/-/unit/02bb76df-d066-4c08-a58a-d4686a3e68ff/19940f1c-07c9-41b6-a443-0f0b74c15042/Resources#c6db3995-9fb6-43c8-9d21-293dc0478853_en&overlay
[«8] bbc.co.uk/programmes/p00h9lk5
[«9] nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early
[«10] nytimes.com/2024/02/24/world/europe/ukraine-russia-invasion-anniversary.html
[«11] blogs.lse.ac.uk/europpblog/2022/03/30/why-the-us-and-nato-have-long-wanted-russia-to-attack-ukraine/
[«12] consortiumnews.com/2022/03/27/can-russia-escape-the-us-trap/
[«13] ua.usembassy.gov/secretary-antony-j-blinken-and-secretary-lloyd-austin-remarks-to-traveling-press/
[«14] johnmenadue.com/post/2024/05/world-war-three-and-the-grand-chessboard/
[«15] amazon.com/Hubris-American-Origins-Russias-against/dp/0674299078
[«16] wikileaks.org/plusd/cables/08MOSCOW265_a.html
[«17] washington.mid.ru/en/press-centre/news/draft_agreements_on_security_guarantees/
[«18] consortiumnews.com/2024/05/17/ray-mcgovern-russia-china-two-against-one/
[«19] static01.nyt.com/newsgraphics/documenttools/a456d6dd8e27e830/e279a252-full.pdf